„Das Ziel ist, das System komplett zu zerstören“

Spencer Sunshine beobachtet seit zwei Jahrzehnten die extreme Rechte in den USA. Nun erschien sein Buch über das Erbe von James Masons „Siege“, einem Schlüsseltext der Neonazi-Szene. Ein Gespräch über Rechtsterrorismus und darüber, was ein Trump-Sieg bedeuten könnte

Charlottesville 2017: Ein Rechtsextremer rast in eine Menschenmenge Foto: Michael Nigro/imago

Interview Nicholas Potter

taz: Herr Sunshine, Sie haben ein Buch über den US-amerikanischen Neonazi James Mason geschrieben, der als „Godfather“ des Rechtsterrorismus gilt. Eine faire Beschreibung?

Spencer Sunshine:Diesen Titel hat sicherlich William Pierce verdient, der „The Turner Diaries“ geschrieben hat – einen furchtbaren Neonazi-Roman aus den 1970er ­Jahren, der sich um einen Rassenkrieg handelt und in dem New York und Tel Aviv mit Atombomben ­angegriffen werden. Pierce inspirierte zum Beispiel den Bombenanschlag in Oklahoma City 1995, bei dem 168 Menschen ums Leben kamen. Der Roman hat sich 500.000-fach verkauft und wurde in unzählige Sprachen übersetzt. Ein Exemplar wurde beim NSU gefunden. Mason hat ihn natürlich auch ­gelesen, Pierce war sein Mentor. Aber Masons „Siege“ ist noch extremer. „Siege“ ist die „Turner Diaries“ der Generation Z und der Millennials.

taz: Inwiefern?

Sunshine: „Siege“ wurde zwar in den 1980ern geschrieben – zunächst als Newsletter für den „National Socialist Liberation Front“. Aber seine Ideen waren damals sehr unpopulär. 1993 erschienen die Newsletter erstmals in Buchform: Die erste Auflage umfasst rund 450 Seiten, mit jeder weiteren wird es durch Einleitungen und Anhänge noch länger. Aber erst in den vergangenen Jahren hat Mason seine Anhänger auf Imageboards und in Telegramgruppen gefunden – und Neonazi-Netzwerke wie „Atomwaffen Division“ inspiriert.

taz: Woran liegt die neugefundene Popularität?

Sunshine: Um 2015 entdeckte eine kleine Gruppe Neonazis Masons Schriften, sie suchten ihn in seiner kleinen Wohnung in Denver auf und er wurde zu einer Art Vaterfigur. Aber der „Unite the Right“-Aufmarsch 2017 in Charlottesville war der Wendepunkt: Mason hat schon immer gesagt, dass es sinnlos sei, sich durch legale politische Arbeit zu engagieren. Charlottesville war eine Bestätigung seiner Thesen: Die rechtsextreme Kundgebung wurde kurz nach Beginn aufgelöst. Und dann fuhr ein Rechtsextremer sein Auto in eine Menschenmasse und ermordete die Antifaschistin Heather Heyer. Danach wollten plötzlich alle wissen, was „Siege“ ist.

taz: Wie würden Sie die Ideologie dahinter beschreiben?

Sunshine: Das Hauptziel ist, das System komplett zu zerstören – durch Massaker, Serienmorde und andere Gewalttaten. Erst danach würden Nationalsozialisten den Staat errichten können, den sie anstreben. Es gibt bislang keine Belege dafür, dass der Christchurch-Attentäter „Siege“ gelesen hatte, aber der Anschlag in Neuseeland ist genau die Art von „Mass Casualty Events“, die Masons Schriften befürworten. Auch der Halle-Attentäter war von dieser Ideologie, vor allem der „Atomwaffen Division“, inspiriert.

taz: Mason war mit Charles Manson eng befreundet. Welcher Einfluss hatte der Serienmörder auf ihn?

Sunshine: Mason wurde im Grunde Mitglied der Manson-Familie, er erklärte Manson sogar zum neuen Hitler. Er bewunderte das Aussteigerleben seiner Sekte. Als Mason an „Siege“ arbeitete, führte er einen regen Briefwechsel mit Manson. Aber gleichzeitig blieb Mason auch unabhängig von ihm, er fusionierte seine eigenen nationalsozialistischen Ideen mit den Lehren Mansons. Und das hat Manson nicht gefallen.

taz: James Mason propagiert einen „führerlosen Widerstand“ – mit dezentral und autonom agierenden Tätern. Was steckt dahinter?

Sunshine: Mason trat mit 14 der American Nazi Party bei, das war 1966. Aber bis Mitte der 1970er Jahre gab es rund zehn Splittergruppen, die mit dem hierarchischen Anführer der Partei nicht glücklich waren. Mason, der letztlich einen nationalsozialistischen Staat unter Führung einer hitlerähnlichen Figur anstrebt, hielt das aber im Moment nicht für eine nützliche Organisationsform. Er wollte diese Splittergruppen zu Gewalt animieren, aber der Plan ging nicht auf und er wurde immer desillusionierter. Auch angesichts staatlicher Repression gegen traditionell organisierte Strukturen.

taz: Sie haben schon Kontakt zu Mason gehabt. Wie würden Sie ihn als Person beschreiben?

Sunshine: Er ist sehr höflich. Ich habe ihm zwei Fragenkataloge mit jeweils 25 Fragen per Post geschickt und er hat alle beantwortet. Er hat sich bei mir für mein Buch bedankt und will mir auch sein neues Buch schicken. Aber ich denke auch, dass er den Kopf eines 14-Jährigen hat. Er wurde in der Vergangenheit mehrmals festgenommen, weil er Nacktfotos von 15- und 16-Jährigen machte. Seine nihilistische Strategie ist für Teenager sehr ansprechend: Es geht um Serienmorde und Bombenanschläge, nicht um politische Organisierung.

taz: „Siege“ findet online immer jüngere Fans. 2021 wurde in Großbritannien ein 13-Jähriger, der einen britischen Ableger der neonazistischen Gruppe „Feuerkrieg Division“ gründete, wegen Terrordelikten verurteilt.

Sunshine: Abgesehen von Islamisten sehen wir nun zum ersten Mal, dass Jugendliche als Terroristen rekrutiert werden. Social Media macht das möglich. Früher waren die Hürden viel höher: Man musste sich zunächst in einer radikalen politischen Bewegung engagieren und dann Kontakt zum militanten Flügel suchen, bevor man überhaupt rekrutiert werden konnte. Das war viel hierarchischer.

Foto: N. Potter

Spencer Sunshinewurde 1976 im US-Bundesstaat Georgia geboren. Er promovierte zu radikalen so­zia­len Bewegungen in den USA ab 1960 an der Cuny Graduate School in New York. Er re­cher­chiert und schreibt zum Thema Neonazis, White Supremacy und Antisemitismus u. a. für das Southern Poverty Law Center, Daily Beast, Jungle World und Antifa-Infoblatt. Er ist Autor des Buches „40 Dinge, Faschismus zu bekämpfen“. Im Mai erschien „Neo-Nazi Terrorism and Countercultural Fascism: The Origins and Afterlife of James Mason’s Siege“ im Routledge Verlag.

taz: Im November wird in den USA gewählt, Donald Trump könnte der nächste Präsident sein. Welche Bedrohung geht von der extremen Rechten aus?

Sunshine: Es gibt eine ernstzunehmende Bedrohung, dass Rechtsextreme, die „Siege“ gelesen haben oder davon inspiriert wurden, zur Tat schreiten. Sie warten nur auf den richtigen Moment. Wenn Donald Trump die Wahl verliert, dann wird der rechte Rand der US-amerikanischen Gesellschaft wohl noch weiter nach rechts rücken – und womöglich militantere Taktiken anwenden. Nach der Wahlschlappe 2020 haben viele gehofft, dass die Graswurzelbewegung um Trump auseinanderfallen würde. Aber das Gegenteil ist leider der Fall gewesen.

taz: Und wenn er wieder gewinnt?

Sunshine: Trump wird die Staatsgewalt missbrauchen, um etwa LGBTQ*-Menschen und Mi­gran­t*in­nen das Leben schwer zu machen. Und er wird seine Anhänger dazu aufstacheln, ihre Gewalt auf die Straße zu tragen. Auch Rechtsterroristen sind nach wie vor eine Gefahr, sie gehen nicht weg, sondern sind sehr resilient.