Gleichgestellt und doch nicht gleich

Vor 30 Jahren wurde der sogenannte Schwulenparagraf 175 abgeschafft. Klaus Schirdewahn war noch von ihm betroffen. Heute setzt er sich für ältere Schwule ein und blickt sorgenvoll auf die politische Entwicklung

Schwul, bunt und entkriminalisiert: die CSD-Parade 1994 in Westberlin Foto: Günter Peters/ullstein bild

Von Yossi Bartal

Die diesjährige CSD-Saison in Deutschland steht unter einem besonderen Zeichen. Seit 30 Jahren wird Homosexualität in Deutschland nicht mehr kriminalisiert. Am 11. Juni 1994 wurde unter der Führung der damaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) der Paragraf 175 endgültig abgeschafft. „Das ist heute ein historischer Tag“, erklärte die Ministerin, als das „Symbol der Unmenschlichkeit“ im Bundestag mit großer Mehrheit abgeschafft wurde. Eine 123-jährige Geschichte juristischer Verfolgung ging damit zu Ende.

Übernommen aus dem Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, trat 1871 unter der Nummer 175 der Paragraf in Kraft, der „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern kriminalisierte – und zwar im gesamten Kaiserreich. Versuche von linken Politikern oder Wissenschaftlern wie Magnus Hirschfeld, das Gesetz zu streichen, scheiterten mehrfach, auch in der Weimarer Republik. 1935 wurde das Gesetz von den Nazis verschärft – fast hunderttausend Männer wurden wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen verurteilt, viele wurden in Konzentra­tionslagern ermordet.

Anders als in der DDR galt in der Bundesrepublik der Paragraf in seiner verschärften Form auch nach dem Krieg weiter. Erst 1969 wurde Sex zwischen Männern über 21 Jahren und erst ab 1973 für Männer über 18 Jahren straffrei. Die „einfache Homo­sexualität“ wurde legalisiert, der Paragraf 175 blieb aber bestehen.

Demnach war Sex zwischen männlichen Erwachsenen und Jugendlichen von 14 bis 18 Jahren, anders als bei Heterosexuellen, weiterhin verboten. Nach der Wiedervereinigung kam es zusätzlich zu einer absurden Situation: Im Osten Berlins war eine Beziehung zwischen einem 17-Jährigen und einem 21-Jährigen legal, während diese einige Straßen entfernt im Westen verfolgt werden konnte. Selbst im Jahr 1994 wurden 44 Männer in Westdeutschland wegen des Paragrafen verurteilt.

Klaus Schirdewahn ist einer von mehr als 50.000 Männern, die in der Bundesrepu­blik noch mit der Naziversion des Gesetzes verurteilt wurden. 1964 kam der damals 17-jährige Lehrling mit einem 21-jährigen Mann auf einer öffentlichen Toilette in Ludwigshafen zusammen. Die Polizei, die schwule Treffpunkte systematisch überwachte, verhaftete die beiden. Der volljährige Sexpartner kam ein Jahr ins Gefängnis. Schirdewahn musste als Minderjähriger in eine ­sogenannte Konversionstherapie.

„Das habe ich dann zwei Jahre lang jede Woche mitgemacht“, erinnert sich der 77-Jährige heute. „Ich habe mir eingeredet, es wäre besser, wenn ich normal werde. Daran habe ich wirklich geglaubt.“ Mit den Sitzungen durfte er erst aufhören, als er sich mit einer Frau verlobte. Kurz nach der Heirat merkte er, dass das Gerede von Heilung „völliger Quatsch“ war. Er versuchte dennoch immer wieder, an seiner Ehe festzuhalten, bekam auch eine Tochter. Aber irgendwann wollte er dieses „erzwungene Doppelleben“ nicht mehr. „Das war auch für meine damalige Frau nicht einfach“, erzählt er rückblickend mit bewegter Stimme.

Seit mehr als 40 Jahren lebt der mittlerweile pensionierte technische Zeichner in Mannheim gemeinsam mit seinem Lebenspartner. Trotz der großen Liebe und der nach und nach steigenden gesellschaftlichen Akzeptanz zeigte er seine sexuelle Identität bis vor wenigen Jahren nicht in der Öffentlichkeit. Ähnlich wie viele schwule Altersgenossen: „Wir sind von der damaligen Zeit mit der staatlichen Repression noch sehr geprägt und neigen dazu, uns zu verstecken.“ An einem CSD teilzunehmen oder sogar in ein schwules Zentrum zu gehen sei für viele unvorstellbar.

Als 1994 der diskriminierende Paragraf endlich gestrichen wurde, war das für Schirdewahn nicht mehr als eine positive Randnotiz – sein diskret geführtes Leben ging unverändert weiter.

„Wir sind von der damaligen Zeit noch sehr geprägt und neigen dazu, uns zu verstecken“

Klaus Schirdewahn

Mit der damaligen Reform des Sexualstrafrechts kam zunächst auch keine Rehabilitierung und Entschädigung für die Betroffenen. Erst 2017, nach langjährigem Widerstand aus den Reihen der FDP und der CDU, wurde das entsprechende Gesetz verabschiedet. Die Zahl derjenigen, die nach 1945 verurteilt wurden und noch am Leben waren, wurde auf 5.000 geschätzt. Bis heute sind jedoch lediglich 357 Anträge eingegangen, 264 wurden positiv beschieden. Einer davon ist der Antrag von Klaus Schirdewahn.

Einfach war der Prozess nicht. Schwule Organisationen halfen ihm, aber die Staatsanwaltschaft habe wegen fehlender Dokumente Schwierigkeiten gemacht. Zwei Jahre nach dem Inkrafttreten des Gesetzes hat er 3.000 Euro bekommen. „Damit habe ich für mich und meinen Mann eine Woche Urlaub auf Sylt bezahlt, ein richtiges Lu­xus­erleb­nis!“. Weitere 1.000 Euro bekam er als Entschädigung für die Zwangstherapie.

Heute nimmt der Aktivismus einen wichtigen Platz in seinem Leben ein. Nach der Frühpen­sio­nierung begann er die Mannheimer Gruppe Gay & Grey zu leiten. Die schwulen Senioren reisen zusammen, treffen sich zum Kaffeeklatsch oder auch zu Gesprächsrunden, wo ernstere Themen wie Pflege oder Bestattung diskutiert werden. Dafür, dass das Personal in Altersheimen für queere Belange sensibilisiert wird, setzt er sich in einer städtischen Arbeitsgruppe ein. „Einige sagen, bei ihnen im Heim gebe es überhaupt keine Schwulen – als ob Leute aus der Generation das an die große Glocke hängen würden.“ Zudem geht er als Zeitzeuge in Schulen. Letztes Jahr sprach er sogar in der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag.

Klaus ­Schirdewahn 2023 im Bundestag Foto: Christian Ditsch/imago

Schirdewahn ist überzeugt, dass man weiterkämpfen muss. Die gesetzlichen Errungenschaften waren zwar wichtig, aber die Bildungsarbeit zur sexuellen Vielfalt bleibt für ihn zentrale Aufgabe. Leider wird sie immer wieder von bestimmten Parteien und religiösen Gruppen abgelehnt, denn Homophobie ist auch heute noch präsent.

Dabei sollte man aber auch mit den eigenen Vorurteilen kritisch umgehen. Als Beispiel erzählt er von einer Taxifahrt, die er kürzlich auf dem Weg zu einem Fernsehinterview in Berlin hatte. Als der Fahrer sich als Palästinenser herausstellte, habe er sich gedacht: „Oh Gott, da darf ich auf keinen Fall sagen, wozu ich zum Sprechen eingeladen bin.“ Aber als er die Angst überwunden gehabt habe, sei es zu einem wunderbaren Gespräch über Religion, Politik und Sexualität gekommen. „Danach war ich sehr platt, denn ich habe einen tollen Menschen kennengelernt. Man hat einfach diese Stereotype im Kopf, die gar nicht stimmen.“

Die Gefahr, dass rechte Kräfte die Gesellschaft spalten und die Gesetzeslage für queere Menschen sich wieder verschlechtert, unterschätzt er nicht. Deshalb sprach er vor zwei Wochen zum Mannheimer CSD auf der Bühne und erinnerte das Publikum an das 30-jährige Jubiläum der Abschaffung des Paragrafen 175. Zugleich warnte er vor Versuchen, die LGBT-Community auszugrenzen oder gar in Teilen zu verbieten. „Wir sehen das doch in den Ländern um uns herum.“ Feiern kann man trotzdem alles, was erreicht wurde. Für Schirdewahn mit der Geschichte seiner Emanzipation, die zwar spät, aber nicht zu spät kam, stimmt das jedenfalls.