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Wie sich die Ukraine verteidigtKein Durchbruch. Nirgends

Anastasia Magasowa
Kommentar von Anastasia Magasowa

Für viele westliche Meinungsmacher stand die Ukraine vor Kurzem mal wieder vor dem Kollaps. Dahinter stecken Ignoranz oder Wunschdenken.

Von den enormen russischen Verlusten steht auf diesen Propagandaplakaten in St.Petersburg nichts Foto: Dmitri Lovetsky/dpa

A ls der russische Machthaber Wladimir Putin vor zweieinhalb Jahren seine Groß­invasion in der Ukraine begann, war er wie weltweit die meisten Politiker und Experten davon überzeugt, dass die Ukraine innerhalb weniger Tage fallen würde. Der russische Staatschef stützte sich dabei vor allem auf den Mythos, dass die Ukraine ein gespaltener und schwacher Staat mit einer Armee sei, die sich nicht selbst verteidigen könne. Noch überzeugter war er von der Unfähigkeit des Westens, einig zu sein und zu bleiben und die Ukraine dauerhaft zu unterstützen.

Nach 28 Monaten Konfrontation mit einer der größten Armeen der Welt gibt es in Kyjiw aber immer noch eine ukrainische Regierung, und über dem Parlament, der Werchowna Rada, weht weiterhin die ukrainische Flagge. Doch jedes Mal, wenn westliche Geheimdienste über die Konzentration neuer russischer Gruppen entlang der ukrainischen Grenze berichten, sagen Analysten einen baldigen Durchbruch der Frontlinie voraus, der katastrophale Folgen für die Ukraine haben könnte. So geschehen Anfang Mai, als russische Truppen die ukrainische Staatsgrenze im Norden des Landes in der Region Charkiw überschritten.

„Düstere Prognose von Militärexperten: ‚Dammbruch‘-Szenario für Front im Ukrainekrieg“ oder „Schock in der Ukraine: Wie kam es zu dem militärischen Fiasko für Kyjiw?“ – solche und ähnlich dramatische Schlagzeilen erscheinen häufig in den Medien. Analysten der britischen Zeitschrift The Economist prognostizierten Anfang des Jahres, dass die neue Offensive Russlands weitaus schwieriger einzudämmen sein werde als die zu Beginn der Invasion.

Vor diesem Hintergrund haben andere führende westliche Medien wiederholt pessimistische Szenarien für die Ukraine veröffentlicht, bis hin zu einer Offensive russischer Truppen in Richtung Charkiw und Kyjiw. Jedes Mal provozieren solche Veröffentlichungen Debatten über die Zweckmäßigkeit einer militärischen Unterstützung der Ukraine, wenn Russland doch angeblich ohnehin nicht zu besiegen ist.

Manchmal scheint es sogar, als ob man sich auf diese Weise wünschte, dass die Front in der Ukraine wirklich zusammenbräche und die Russen einen Durchbruch erzielten – um damit die uneinsichtigen Ukrainer endlich zu Verhandlungen mit Russland und zur Annahme seiner Ultimaten zu zwingen. Die Lage an der Front ist jedoch sowohl für die Ukraine als auch für Russland viel komplexer, als es die These von der Unbesiegbarkeit Russlands vermittelt.

Hohe russische Verluste

Das Wort Durchbruch muss sehr bewusst verwendet werden. Die heutige Lage an der Front erlaubt es nicht, von Frontdurchbrüchen und der schnellen Eroberung von Gebieten in kurzer Zeit zu sprechen, wie es im Frühjahr 2022 der Fall war. Die heutige Front ist auf beiden Seiten unglaublich gesättigt mit Drohnen verschiedener Typen – Aufklärungs-, Angriffs-, Wärmebild- und Nachtdrohnen. Diese Situation lässt keine schnellen Durchbrüche zu, da beide Seiten die Aktionen der anderen Seite auf dem Schlachtfeld deutlich sehen können.

Dies ist auch einer der Gründe, warum die russische Armee nicht mehr in Fahrzeugkolonnen vorrücken kann: Diese werden sofort ­vernichtet, wie bereits mehrfach geschehen. Auch wenn die russische Armee personell und materiell überlegen ist, kann sie daher nur an einzelnen Frontabschnitten lokalisierte Durchbrüche erzielen, was sie auch tut. Gleichzeitig sind unter diesen technologischen Bedingungen die Verluste der russischen Armee an Personal und Technik deutlich höher als die erzielten Ergebnisse.

Im Durchschnitt verliert Russland bei seinen Offensivversuchen in der Ukraine etwa tausend Soldaten pro Tag. Das sind selbst für die russische Armee erhebliche Verluste. Dies hat zur Folge, dass die Mobilisierungsressourcen, die diese Verluste ausgleichen sollen, nicht genügend Zeit für die Ausbildung haben und schlecht trainierte Soldaten langsam vorankommen und schnell sterben. Jeder neu eroberte Kilometer ukrainischen Territoriums kostet die russische Armee Tausende von Menschenleben.

Voraussetzungen für einen langen Zermürbungskrieg

Die ukrainische Seite, die ihr Land verteidigt, steht vor noch größeren Herausforderungen. Der anhaltende russische Druck erschöpft die ukrainische Armee, die personell stark unterbesetzt ist und deren Mobilisierungsbemühungen gescheitert sind. Das Fehlen von Granaten aufgrund einer sechsmonatigen Verzögerung der versprochenen US-Militärhilfe erzwang etwa den Verlust von Städten wie Awdijiwka. Die in letzter Minute an der Front angekommene Hilfe hat jedoch nicht nur die russische Offensive in der Oblast Charkiw gestoppt, sondern die Russen sogar zurückgedrängt und sie daran gehindert, die Ruinen der von ihr zerstörten Stadt ­Wowtschansk einzunehmen.

Trotz der Sättigung mit Granaten ist es für die ukrainische Armee viel schwieriger, die Frontlinie in der Region Donezk zu halten, wo die russische Armee, die die Fehler der ukrainischen Militärführung und die Verzögerung der Hilfe ausnutzt, langsam, aber sicher vorrückt und sich der strategisch wichtigen Stadt Pokrowsk mit mehreren Tausend Einwohnern nähert. All diese Faktoren schaffen derzeit die Voraussetzungen für einen langen Zermürbungskrieg.

In den ukrainischen Volksmärchen geht es häufig um vermeintlich Schwache, die sich mit Einfallsreichtum und Gerissenheit gegen die Starken wehren. Genau das tut die Ukraine, um sich gegen Russland zu verteidigen. Auch mit weniger Ressourcen ist die Ukraine in der Lage, der russischen Armee wirksam entgegenzutreten und ihre Gebiete zurückzuerobern, insbesondere wenn die Unterstützung der Verbündeten nicht politischer Manipulation zum Opfer fällt.

Und wenn der US-Präsidentschaftskandidat Trump in der Debatte mit Biden sagte, die Ukraine werde diesen Krieg verlieren, dann sollte man ihn außer an die hier dargelegten Fakten daran erinnern, dass es sich bei diesem Krieg nicht nur um einen Kampf der Ukraine gegen Russland handelt, sondern um eine Konfrontation von Demokratien gegen eine Allianz aus Autokratien. Im Kreml führen solche Aussagen dazu, dass die Landkarte Europas aufgeklappt wird, um das nächste Opfer der Aggression zu bestimmen.

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Anastasia Magasowa
Anastasia Rodi (Magazova) ist 1989 auf der Krim (Ukraine) geboren. Studium der ukrainischen Philologie sowie Journalismus in Simferopol (Ukraine). Seit 2013 freie Autorin für die taz. Von 2015 bis 2018 war sie Korrespondentin der Deutschen Welle (DW). Absolventin des Ostkurses 2014 und des Ostkurses plus 2018 des ifp in München. Als Marion-Gräfin-Dönhoff-Stipendiatin 2016 Praktikum beim Flensburger Tageblatt. Stipendiatin des Europäischen Journalisten-Fellowships der FU Berlin (2019-2020) in Berlin. 2023 schloss sie ihr Studium am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin ab. Sie hat einen Master of Arts (Politikwissenschaft). Als Journalistin interessiert sie sich besonders für die Politik in Osteuropa sowie die deutsch-ukrainischen Beziehungen. Von den ersten Tagen der Annexion der Krim bis heute hat sie mehrere hundert Reportagen über den Krieg Russlands gegen die Ukraine geschrieben.
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9 Kommentare

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  • Danke für den guten Text. Man hat inzwischen auch den Eindruck, dass diese ganzen "Experten" auch einfach deshalb den Sieg Russlands wollen, um recht behalten zu haben.

    Wäre die Hilfe des Westens schnell und effektiv erfolgt, wäre sie Situation wohl eine andere. Stattdessen diese unwürdig Debatten wegen jedem Helm. Es ist ein Elend.

  • Der Wenn es "im Westen" Meinungsmacher gibt, die die Ukraine vor dem Kollaps sehen, dann wo bitte? Im Gegenteil: Ich sehen in den mir bekannten Medien nur Artikel die die Lage positiv für die Ukraine darstellen. Egal was gerade passiert.

  • Der Kommentar sollte zur Pflichtlektüre für Kurz- und Kleindenker gemacht werden. Ich befürchte allerdings, Sarah, Donald und Tino wird auch das nicht überzeugen, sie wollen einfach nicht wirklich darüber nachdenken.

  • "Und wenn der US-Präsidentschaftskandidat Trump in der Debatte mit Biden sagte, die Ukraine werde diesen Krieg verlieren, dann sollte man ihn außer an die hier dargelegten Fakten daran erinnern, dass es sich bei diesem Krieg nicht nur um einen Kampf der Ukraine gegen Russland handelt, sondern um eine Konfrontation von Demokratien gegen eine Allianz aus Autokratien."

    Besser nicht ! - Dass Trump auf Seite der Autokraten steht, sollte doch wohl klar sein !?

    Ansonsten ein guter Artikel gegen das "Bündnis Wahrer Zarenknecht"- Geschwurbel !!!

  • Danke für diesen Beitrag entgegen der Miesmacherei!

    Was Trump betrifft, so glaube ich allerdings nicht, dass man ihn an diese Konfliktlinie erinnern sollte.



    Er steht da nämlich auf der Gegenseite.

    Höchstens sollte man ihn daran erinnern, dass die Dominanz der USA zu brechen das erklärte Ziel dieser unheilvollen, jedoch wackligen Allianz aus China, Iran, Russland und Nordkorea ist.



    Das dürfte ihm weniger gefallen.

  • Natürlich ist das Bild einer auf lange Sicht letztlich völlig chancenlosen Ukraine auch wesentlicher Teil der russischen Desinformationskampagne. Die wird ja auch hier im Forum von einigen nach Kräften bedient. Immer nach der Devise: Unterstützung lohnt nicht, die Ukraine wird eh verlieren. Gerne auch garniert mit Krokodilstränen über die "sinnlosen" ukrainischen Opfer. Dass es mit dem Mythos einer auf quasi unerschöpfliche Ressourcen zurückgreifenden russischen Armee allerdings so weit her auch nicht ist, zeigen die sich in den letzten Monaten häufenden Berichte, wonach mittlerweile mehr und mehr auf Uralt-Panzer zurückgegriffen werden muss. Und dass man inzwischen sogar auf die Unterstützung eines komplett heruntergewirtschafteten Landes wie Nordkorea angewiesen ist, belegt nur, dass die russische Rüstungsindustrie inzwischen an ihre Grenzen gestoßen ist.

  • Jaja, Militärexperten waren auch überzeugt, dass Deutschland nicht Frankreich besiegen könnte und danach, dass die Sowjetunion in kurzer Zeit kapitulieren müsste. Dann wurde der Krieg aber außerhalb der Köpfe der Experten entschieden

  • Die Ukraine kann so wenig gegen Russland anrüsten, wie Russland gegen den Westen oder auch nur gegen die EU anrüsten kann. Putin hat also nur eine Chance, nämlich dass westliche "Friedenstauben" die Solidarität mit der Ukraine untergraben. Ansonsten werden die Russen Putin davonjagen, sobald genügend russische Soldaten gestorben sind.

  • Das Problem ist momentan auch weniger ein möglicher Durchbruch der Russen, als die fortschreitende Zerstörung der Energie-Infrastruktur durch Terrorangriffe, die dem Land irgendwann das Genick brechen kann. Dagegen braucht es neben mehr Raketenabwehrwaffen natürlich auch die geforderten weitreichenden Waffen, die den russischen Nachschub unterbrechen können.