Monatelanger Streik in Recycling-Werk: Einknicken keine Option
Seit mehr als 125 Tagen streiken Arbeiter:innen des Recycling-Werks Rötha. Doch der Konzern verweigert Verhandlungen. Was macht das mit der Moral vor Ort?
E s ist kurz nach 5 Uhr morgens, als Michael Hecker im Auto aus Leipzig Richtung Süden fährt, auf dem Weg zu seinem aktuellen Arbeitsplatz: dem Streik beim Recyclingunternehmen SRW. „Eigentlich ist das noch nicht meine Uhrzeit. Aber ich mache das seit mehr als vier Monaten fast jeden Tag“, sagt Hecker, eine Hand am Lenkrad, beide Augen auf der Straße. Der SRW-Streik ist seit Sonntag der längste von der IG Metall organisierte Streik in Deutschland: 124 Tage in Folge.
Doch das versetzt Michael Hecker nicht in Partylaune: „Für uns ist das eher ein bitterer Rekord, den wir kämpferisch statt feierlich begehen; fokussiert auf den Tarifvertrag“, erklärt er und nimmt die zweite Hand ans Lenkrad. Als Gewerkschaftssekretär unterstützt er die organisierten Arbeiter:innen bei den Verhandlungen mit dem Betrieb. Dass die Streikenden auf eine Tarifbindung bestehen, aber die Unternehmensführung diese kategorisch ablehnt, ist einer der Hauptgründe für den Streik.
Zwanzig Minuten später kommt Hecker in Espenhain an, einem Ortsteil der Kleinstadt Rötha. Es ist noch dunkel. Rechts vor dem Werkstor 5, dem Haupttor, wärmen sich vier Streikende an einer Feuertonne, links davon hat die IG Metall einen beheizten Container aufgestellt, damit die Streikenden Wind und Wetter nicht völlig ausgesetzt sind. Immer ist jemand vor Ort, rund um die Uhr im Schichtsystem. Sie zeigen demonstrativ, dass sie Maschinen fahren und den Schrott sortieren könnten, aber unter den aktuellen Bedingungen nicht wollen.
Verglichen mit der Bahn, Erzieher:innen oder Pflegepersonal hat SRW nur wenige Beschäftigte und kaum jemand ist vom Streik direkt betroffen. Trotzdem geht es bei dem kleinen Unternehmen bei Leipzig um große Themen: wirtschaftliche Beziehungen zu China, das Ost-West-Lohngefälle, die sozial-ökologische Transformation und auch um das Demokratieverständnis.
Harte Arbeit, schlechte Bezahlung
Laut SRW Metalfloat gehört das Werk in Espenhain mit den rund 190 Arbeiter:innen zu den führenden Metall- und Stahlaufbereitungsstandorten in Europa und erwirtschaftet Millionengewinne. Hier trennen die Arbeiter:innen Schrott in seine Bestandteile auf, um diese zur Wiederverwertung weiterzuverkaufen.
Zu den Kunden gehören Stahlwerke, Gießereien und Hütten, welche die Metalle veredeln und dann etwa an Autokonzerne liefern. Harte Arbeit von nachhaltigem Wert, aber mit gesundheitlichen Risiken. Trotzdem kommen die Schrotter:innen nur mit zwei Nachtschichten und dem entsprechenden Zuschlag auf mehr als 2.000 Euro netto im Monat.
Im Streikcontainer riecht es an diesem Morgen nach Kaffee und ein wenig nach Lagerfeuer. Um kurz nach 7 Uhr gibt es Brötchen mit Käse, Wurst und Eiern. Die Streikenden essen, machen Witze und über eine große Box läuft Pop-Radio. Die Stimmung ist locker. Obwohl der Container die Größe einer kleinen Wohnung hat, ist es fast schon eng, so viele sind mittlerweile da. Überall an den Wänden hängen Solidaritätserklärungen anderer IG-Metall-Gruppen.
Auch René Haunschild, eckige Brille, grauer Schnauzbart, hat sich Brötchen geholt und an eine der vier Bierzeltgarnituren im Container gesetzt. Seit 14 Jahren fährt er bei SRW die großen Anlagen. Eigentlich wolle er gerne wieder in den Betrieb, da vergehe die Zeit schneller. „Hier haben wir ja nichts zu tun“, sagt er, „drinnen ist besser als draußen.“ Sein Kollege Mirko Noeseke beugt sich über den Tisch und ergänzt mit erhobenen Zeigefinger: „Aber nur zu unseren Bedingungen.“
Wie lange halten sie das noch durch? „Bis zum Ende“, ist sich Noeseke sicher. „Wir können da jetzt nicht einfach wieder reingehen.“ Das sagen auch andere Streikende. Auch wenn ihr Einkommen sich derzeit auf das Streikgeld von der IG Metall beschränkt. Es hängt davon ab, wie lange sie Mitglied bei der Gewerkschaft sind und wie hoch ihre Beiträge waren. Im Schnitt seien es aber 70 bis 80 Prozent des Nettogehalts. Allerdings, sagt einer der Streikenden, in die Rentenkasse zahlen sie, solange der Streik währt, nicht ein.
Mirko Noeseke trägt eine schwarze Mütze mit der Aufschrift „Team IG Metall“ und einen grauen Dreitagebart. Vor sich steht eine Tasse – gefüllt mit Vita Cola. Seit 17 Jahren ist er bei SRW. Als Radladerfahrer kippte er 40 Stunden in der Woche mit einer großen Schaufel Schrott auf Schubböden, die das Material dann langsam zum Trennen und Sortieren aufs Förderband schoben.
Gute Arbeit. Jedoch: Die Bezahlung knapp über dem Mindestlohn, trotz der ganzen Erfahrung. Wie groß die Lohnlücke auch zu Betrieben in Westdeutschland ist, lässt sich nicht genau beziffern. Laut IG Metall verdienten aber Arbeiter:innen in vergleichbaren Betrieben 600 Euro mehr bei weniger Arbeit.
Im vergangenen Jahr, als die Inflation zunehmend spürbar wurde, habe sich der Betriebsrat an die IG Metall gewandt, erzählt Michael Hecker. Er sitzt eine Bierbank daneben, direkt am Fenster, vor sich den Laptop, daneben einen Drucker – ein provisorisches Bierbankbüro.
Herr Qin schweigt
Im März 2023 habe der Betriebsrat gemeinsam mit der Gewerkschaft Forderungen an die SRW gestellt: 8 Prozent mehr Lohn, verpflichtendes Urlaubs- und Weihnachtsgeld von je 1.500 Euro, eine 38-Stunde-Woche und einen Tarifvertrag.
Schnell sei klar gewesen, dass die Tarifbindung das Problem ist. Zusätzlich erschwerten die Eigentumsverhältnisse des Unternehmens die Verhandlungen. Die SRW ist eine hundertprozentige Tochterfirma der Scholz Recycling Gruppe aus Baden-Württemberg.
Die gehört wiederum seit 2016 zur chinesischen Chiho Environmental Group. Weil der Geschäftsführer der SRW, Thomas Müller, keine Vollmacht hat, um mit seinen Beschäftigten über einen Tarifvertrag zu verhandeln, würden die gerne mit Yongming Qin sprechen, dem zuständigen Geschäftsführer der Scholzgruppe. Doch der erschien, trotz Ankündigung, nicht zu Verhandlungen.
Auch auf eine taz-Anfrage antwortet Yongming Qin nicht. Stattdessen erklärt ein Sprecher der Scholz-Gruppe, bei drei von vier Forderungen komme der Konzern den Streikenden entgegen. Aber ein Tarifvertrag? Das sei keine Option: Zum einen seien Rohstoffmärkte konjunkturabhängig. Zum anderen habe man mit Betriebsvereinbarungen gute Erfahrungen gemacht.
Zwischen den einzelnen Unternehmen und ihren Betriebsräten habe es faire Kompromisse gegeben, behauptet der Sprecher. „Warum soll man etwas ändern, was sich in der Sozialpartnerschaft bewährt hat, nur weil eine Gewerkschaft ihre Machtposition ausbauen will?“
Sprecher des SRW-Konzerns
Gewerkschaftssekretär Hecker sieht das anders: Ein Tarifvertrag biete „Rechtssicherheit und finanzielle Planbarkeit für die Kolleginnen und Kollegen.“ Bei SRW sei das von besonderer Bedeutung, denn „in der Vergangenheit hat der Arbeitgeber getroffene Versprechungen und Zusagen, das Entgelt zu erhöhen, immer wieder zurückgenommen und war wortbrüchig“, sagt Hecker.
Er könne nicht nachvollziehen, wie sich das Unternehmen verhalte. Das profitiere doch auch von einem Tarifvertrag, der es zum Beispiel attraktiver für Fachkräfte mache. Nachdem die Verhandlungen zunächst verschoben wurden und dann daran scheiterten, dass der Geschäftsführer ihnen fernblieb, kam es am 23. August zum ersten Warnstreik in der Geschichte von SRW; er dauerte anderthalb Stunden.
Michael Hecker, Gewerkschaftssekretär
Die IG Metall habe neue Verhandlungstermine gefordert. „Aber von Herrn Qin haben wir bis heute keine Antwort“, sagt Hecker, dreht an einem Stift und schaut auf seinen Laptopbildschirm. Nach fünf Warnstreiks, einem Autokorso und einer Kundgebung stimmten die IG-Metall-Mitglieder bei SRW in einer Urabstimmung mit rund 89 Prozent für den Streik. Am 8. November, nachts, legten sie die Arbeit nieder. Zu Verhandlungen kam es trotzdem nicht, sagt Hecker.
Stress mit den Streikbrechern
Vor dem Fenster fahren immer wieder Lastwagen am Container vorbei auf das Betriebsgelände. Nicht alle Arbeiter:innen streiken. Wie viele genau noch ihrer Arbeit nachgehen und wie viele sich verweigern, darüber machen SRW und die Streikenden unterschiedliche Angaben. Laut Konzern streiken rund 90 Arbeiter:innen. Die IG Metall sagt, es seien gut drei Viertel der Belegschaft, also etwa 140.
Die Verbleibenden können bei SRW nur einen Minimalbetrieb aufrechterhalten. Auf dem Hof staple sich das Material, weil von den vier Anlagen nur eine laufe, sagen die Streikenden. Für das Unternehmen bedeute der Streik deshalb Einbußen. Wie hoch die sind, will es nicht sagen – allein schon aus „taktischen Gründen“. Für den Millionen-Konzern seien es aber nur kleine Einbußen. Es sei „wie bisher möglich, die Kunden ohne wesentliche Verzögerungen zu bedienen.“
Offensichtlich ist: Das Unternehmen scheint den Streik ignorieren zu können. Auch die Berichterstattung durch überregionale Medien hat daran bisher nichts geändert. Am Freitag ist ein Team der „Tagesthemen“ in Espenhain vor Ort und spricht mit den Streikenden.
Im Container heißt es, man rede nicht mehr mit den „Streikbrechern“. Auch nicht privat, wenn man sich begegne. Das beruhe auf Gegenseitigkeit, dabei sei der Druck für die Streikenden höher. „Wir tragen für die ja das Risiko mit. Wenn der Tarifvertrag kommt, haben die auch einen. Wenn nicht, ziehen nur wir den Kürzeren.“ Die Streikbrecher zögen das Ganze nur in die Länge.
Was die Moral stützt
Warum die nicht auch streiken? Nun, kommt die Antwort, einige hätten befristete Verträge. Die wären ihren Job sicher los. Bei den anderen gibt es Gerüchte, der Betrieb habe ihnen höhere Löhne angeboten.
Was nun geschieht, darüber machten sich alle derzeit Gedanken, sagt Betriebsrätin Kathrin Kroll. „Jedem kreist im Kopf: Wie geht es weiter?“ Aber man sei zusammengerückt.
Was die Gewerkschaft in den bisherigen vier Monaten des Streiks geleistet habe, habe die Arbeiter:innen positiv überrascht, sagt Kroll: der Container, das Essen und die Kontakte. Immer wieder besuchen hochrangige Politiker:innen den Streik, um mit der Belegschaft zu sprechen. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) war ebenso da wie der Linkenpolitiker Gregor Gysi. Das stütze die Moral.
Doch, auch das muss man sagen, bisher hat der Streik nichts gebracht. Mehr als 125 Tage und das Unternehmen ist immer noch nicht bereit zu verhandeln. Beim bisher längsten Streik in der Geschichte der Bundesrepublik, 1991/92, dauerte es stolze 301 Tage, bis die Steinmetze der Granitindustrie im Bayerischen Wald einen eigenen Haustarifvertrag abtrotzten.
Protest vor der chinesischen Botschaft
In Espenhain ist das noch nicht in Sicht, trotz 17 Wochen im Ausstand. Ist das noch Stärke oder schon Schwäche? Michael Hecker setzt sich auf seiner Bierbank etwas aufrechter hin. „Ich sehe da nichts Schwaches“, antwortet er bestimmt. Aber er findet, eine Gesellschaft solle sich fragen, wie sie so was zulassen könne.
Die Streikenden wollen jetzt mehr machen, als nur vor dem Tor sitzen. Für diese Woche ist eine Fahrt nach Berlin geplant, um vor der chinesischen Botschaft zu protestieren. Die Hoffnung: Die politische Führung in China soll Einfluss auf den Mutterkonzern Chiho Environmental und den Geschäftsführer nehmen.
Das nennt auch Jürgen Kerner, der zweite Vorsitzende der IG Metall, eine gute Idee. Am Freitag ist auch er in Espenhain, um den Streikenden Mut zuzusprechen. Auf die Frage der taz, wie lange die IG Metall den nun längsten Streik denn noch unterstützen werde, reagiert er verdutzt.
Die Streikenden bräuchten sich keine Sorgen machen, dass der Gewerkschaft das Streikgeld ausgehe, versichert er. „Die Arbeitnehmer setzen ihre berufliche Existenz aufs Spiel, da lassen wir sie nicht allein. Es wird kein Arbeitskampf an der Finanzierung scheitern.“ Selbst wenn der Streik noch Monate weitergehen sollte, die IG Metall zahle weiter Streikgeld, Essen und Container.
Das klingt nach PR-Sprech. Aber ein Vorteil sei dabei, dass es um verhältnismäßig wenige Beschäftigte gehe. Das senkt die Streikkosten. Die IG Metall ist noch vor Verdi die größte Gewerkschaft in Deutschland und hat entsprechende Reserven. Was sie sich aber nicht leisten kann, ist einzuknicken. Welches Zeichen würde das für andere Streiks aussenden?
Um kurz nach 10 Uhr versammeln sich die Streikenden in der Sonne vor dem Werkstor 5. Außer den Lastwagen ist im Industriegebiet nicht viel los. So weit man gucken kann, stehen Zäune um den Betrieb. Große Maschinen bewegen sich auf und ab. Den SRW-Streikenden gegenüber, auf der anderen Straßenseite, stehen zwei Personen in schwarzer Arbeitskleidung. Ein Werksschutz, den die SRW seit Beginn des Streiks aufstellt. Anfangs habe der sogar Hunde gehabt.
Jürgen Kerner steigt auf ein kleines Podest und spricht über Mikrofon zu den versammelten Arbeiter:innen: Qin sei ein „Schandfleck für chinesische Eigentümer“, sagt Jürgen Kerner. „Es ist ein absoluter Bruch mit der Kultur, wenn man keinen Respekt vor der eigenen Belegschaft hat“, sagt Kerner. Das kenne er nicht mal aus dem konservativen Bayern.
Dann übernimmt Gewerkschaftssekretär Michael Hecker das Mikro. Statt im sonst ruhigen, freundlichen Ton ruft er den Streikenden energisch Durchhalteparolen zu: „Wir sind hier noch nicht fertig. Bis der Tarifvertrag vorliegt, bleiben wir hier!“ Dafür erntet er Applaus.
Über der Versammlung flattert eine IG-Metall-Fahne im Wind. Ihre rote Farbe lässt sich nur noch erahnen. Über der Feuertonne, die seit Monaten unentwegt brennt, ist sie rußschwarz geworden. So ungewiss das Schicksal der Streikenden scheint, so sicher ist das der Fahne: Sie soll ins Archiv, wenn der Streik vorbei ist – und die Schrotter:innen einen Tarifvertrag haben.
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