piwik no script img

Militärische Ausbildung in der UkraineSanfte Mobilmachung

Das Parlament in Kyjiw schafft es nicht, ein neues Gesetz zur Mobilmachung zu verabschieden. Jetzt kümmert sich die Armee selbst um neue Soldaten.

Ukrainische Zivilistin bei der Schulung an einer Panzerabwehrwaffe in einem Ausbildungszentrum der Armee, März 2024 Foto: Juri Konkewitsch

Luzk taz | Ukrainische Militärangehörige haben es satt, auf Nachschub und auf die Verabschiedung eines Mobilmachungsgesetz zu warten. Deshalb haben sie damit begonnen, selbst im Land nach Personal zu suchen. Mittlerweile lässt es sich als Tendenz erkennen, dass die Kampfbrigaden ihre eigenen Ausbildungszentren im Hinterland einrichten.

Ein Beispiel für eine solch aktive Personalrekrutierung ist die 100. Wolhynische Brigade, die 2022 als Territorialverteidigungseinheit im westukrainischen Luzk gegründet wurde.

Später wurde die Brigade zum Kämpfen in den Osten geschickt. Die taz konnte mit ihrem Pressesprecher Serhii Chominskyi auf dem Weg zu den Schulungsräumen sprechen.

„Wir bieten Interessieren Schulungen an Kalaschnikows, am US-amerikanischen Panzerabwehrsystem Javelin und der schwedischen Panzerabwehrlenkwaffe Nlaw und dem tragbaren Flugabwehrraketensystem Stinger. Außerdem gibt es bei uns eine Pionierausbildung und einen Kurs für taktische Medizin. Einberufungsbescheide werden in unserem Zentrum nicht ausgestellt. Unser Ziel ist vielmehr, das Wissen der Zivilbevölkerung im Bereich militärische Angelegenheiten und die Grundlagen der landesweiten Wehrfähigkeit zu verbessern“, so Serhij Chominskyj.

Eigeninitiative Rekrutierungen

Die Militärs haben nicht aus Nettigkeit entschieden, dass sie ab sofort selbst nach neuen Rekruten suchen. Vielmehr haben die schweren Kämpfen bei Kupjansk, Awdijiwka und Bachmut im Osten der Ukraine in den letzten Monaten nicht nur bei den russischen Streitkräften zu enormen Verlusten geführt, sondern auch bei den ukrainischen. Trotzdem schafft es die Werchowna Rada, das ukrainischen Parlament, seit über zwei Monaten nicht, ein Gesetz zur Verbesserung der Mobilisierung zu verabschieden. Und die Gesellschaft ist unzufrieden mit der Arbeitsweise der Wehrpflichtkommissionen, die oft gezwungen sind, Rekruten mit Gewalt in die Armee zu zwingen.

Alle Instruktoren im Ausbildungszentrum haben schwere Kämpfe an der Ostfront hinter sich. Sie bitten darum, nicht namentlich genannt zu werden, und bedecken ihre Gesichter, bevor sie fotografiert werden.

Zur Zeit sind sie hier, im Hinterland. Ihr Ziel ist es, eine Kampfreserve vorzubereiten, damit die Menschen im zivilen Leben so gut wie möglich auf den nationalen Widerstand vorbereitet sind. Vielleicht werden einige von ihnen später in die Armee eintreten und sich dort dann sicherer fühlen.

Training an Panzerabwehrwaffen

An diesem Morgen nehmen fünf Zivilisten am Training teil. Sie werden am Nlaw-Panzerabwehr-Kompex geschult, das 12 Kilo schwer ist. Um das Ziel zu treffen, muss man es auf der Schulter platzieren und die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten kennen. Ausbilder Andrij hat früher bei Bachmut gekämpft und mit der Nlaw mehrere russische Panzer zerstört. Im Ausbildungszentrum werden die Ziele auf einem Monitor angezeigt. Dabei kann man echte Gefechtsgeräusche anschalten, um ein Gefühl für reale Kriegssituationen zu bekommen.

Im Raum daneben steht ein Simulator des tragbaren Flugabwehrsystems Stinger. Ausbilder Andrij sagt, diese Waffe könne Ziele in der Luft aus einer Entfernung von bis zu viereinhalb Kilometern treffen. Den richtigen Umgang damit zu lernen, nehme ein paar Wochen Zeit in Anspruch, aber an einem Tag kann man sich zumindest schon einmal mit der Technik vertraut machen.

Werbeveranstaltungen in Innenstädten

Während Andrij durchs Ausbildungszentrum führt, baut sein Kollege, Major Kostjantin Bajtschuk gerade ein Zelt auf dem zentralen Platz der in der nahegelegenen Stadt Luzk auf. Dort soll später eine mobile Rekrutierungsgruppe arbeiten. Auch sie stellt aber keine Einberufungsbescheide aus, sondern soll Passanten über die Möglichkeiten des Dienstes in der 100. Brigade informieren, z.B. darüber, welche Berufe dort benötigt werden und wie die Ausbildung abläuft.

„Die wichtigste Botschaft dieser Veranstaltung ist: geht zu euren Leuten, verteidigt euer Land gemeinsam mit den Menschen, mit denen ihr hier zusammen lebt“, erklärt Major Bajtschuk

Ähnliche Werbemaßnahmen unternimmt auch eine andere, angesehen Kampfeinheit, die Dritte Sturmbrigade. Sie setzt auf persönliche Begegnungen mit Soldaten. Die Brigade hat ein eigenes Ausbildungszentrum in Lwiw (Lemberg) eröffnet und plant im März Werbeveranstaltungen in mehr als 20 ukrainischen Städten.

„Jeder kann bei diesen Veranstaltungen die Einheit und den Geist der Brigade kennen lernen. Wir informieren über freie Stellen und die Vorzüge des Dienstes in unserer Brigade. Auf alle Fragen wird es nur ehrliche Antworten geben, es ist nur eine 'sanfte Mobilmachung’, wir werden sie über die Möglichkeiten, die freien Stellen und die Vorteile eines Dienstes in der Dritten Sturmbrigade informieren. Nur ehrliche Antworten auf alle Fragen und nur ‚sanfte Mobilisierung‘“, so der Major.

Aus dem Ukrainischen Gaby Coldewey

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • Vor gut zwei Monaten bezeichnete Selensky die von der Armee geforderten 400.000 neuen Rekruten als " teure und politisch heikle Frage".



    Seit dem hat sich offensichtlich nicht viel bewegt.



    Abgesehen davon, dass Selensky seinen größten Kritiker, den Chef der Heeresleitung entlassen hat.



    Es ist interessant, dass an dieser Stelle offenbar wird, wie die Ukraine sich selbst ausbremst.



    Die scheinbar falschen Angaben Selenskys über die eigenen Gefallenen an der Front fallen den Verteidigern nun auf die Füße.



    Die Notwendigkeit für Nachschub an Truppen scheint nicht durchgedrungen zu sein.



    Es reicht auch nicht, wenn ZivilistInnen wissen, wo bei det Stinger vorne und hinten ist.



    Eine Ausbildung wäre schon sinnvoll.



    Und die braucht Zeit.



    Forderungen nach Nachschub durch die ukrainische Armee sind so alt, wie dieser Krieg.



    Es wurden zwar im Westen Soldaten an neuen Waffensystemen ausgebildet, doch Nachwuchs im Inland nicht besonders gefördert.



    Lange wurde der Westen für viele angebliche Verfehlungen verantwortlich gemacht, nun zeigt sich, dass einige Probleme hausgemacht sind.



    Das Engagement der Soldaten, die mit allen Mitteln versuchen, für Unterstützung zu sorgen, ist nachvollziehbar.



    Es wirkt allerdings auch wie aus Verzweiflung geboren.

  • Ich bewundere die Ukrainer:innen und ihren Willen sich Putin entgegenzustellen.

  • Die Grenzen der Ukraine sind das eine. Ein riesiges Problem, das nach dem Krieg auftreten wird, ist die Demographie. Die Ukraine ist seit der Unabhängigkeit von ca. 50 Millionen auf 40 Millionen geschrumpft.



    Ein guter Teil der Geflohenen wird - aus Erfahrung von anderen Kriegen - nicht mehr zurückkehren, vor allem, wenn der Krieg lange dauert, wovon man ausgehen kann. Dass viele Geflohene Frauen im Familienalter sind ebenso wie Kinder macht das Ganze noch schwieriger.



    Dazu kommen die Gefallenen, was bedeutet, dass wir ein riesiges demographisches Loch haben werden.



    Dazu kommt die verbleibende Bevölkerung in russisch kontrolliertem Gebiet.



    Dazu u.a. mal hier:



    www.destatis.de/Eu...gsentwicklung.html

  • St Javelin. Cool.