Goldener Bär für Doku über Restitution: Stimmen aus dem Jenseits
Wieder gewinnt ein Dokumentarfilm die Berlinale. „Dahomey“ von Mati Diop begleitet die Rückgabe von Raubkunst aus Frankreich nach Benin.
König Ghézo kommt zurück. Er ist unzufrieden. Er weiß nicht, was ihn in seiner Heimat erwartet. Er ärgert sich, dass er in einer dunklen Kiste steckt und dass man ihn seines Namens beraubt und stattdessen mit einer Nummer versehen hat, der 26. Das ist zugleich die Anzahl an Kunstobjekten, die 2021 aus Frankreich an das heutige Benin zurückgingen. Sie waren während der Kolonialzeit geraubt worden und gehörten danach zum Bestand des Pariser Musée Quai Branly.
Die französisch-senegalesische Regisseurin Mati Diop begleitete den Vorgang mit der Kamera für ihren Dokumentarfilm „Dahomey“, der am Sonnabend bei der Preisverleihung der 74. Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Ihr Film bietet Szenen, in denen die Statuen und andere Objekte fachgerecht in Kisten verpackt und in Benin dann wieder ausgepackt und wissenschaftlich begutachtet werden.
Dazwischen gibt es eine Diskussion an der Université d'Abomey-Calavi zu sehen, bei der darüber gestritten wird, ob es eine Schande ist, dass von 7.000 entwendeten Objekten bloß 26 zurückgekehrt sind, oder ob man diese Geste als ersten Schritt begrüßen sollte. Gestritten wird auch darüber, ob etwa das „westliche“ Konzept des Museums der richtige Ort für die Objekte ist, die einst kultischen Zwecken dienten. Aus dem Off erklingt regelmäßig die Stimme von Objekt 26, elektronisch verfremdet, mit mehr oder minder freien Kommentaren zum Geschehen. Ob sie für den Film nötig waren, ihm eine entscheidende Dimension verliehen, die die dokumentarischen Bilder nicht hatten, sei dahingestellt.
Die Jury unter dem Vorsitz der Schauspielerin Lupita Nyong'o entschied sich unter den 20 konkurrierenden Wettbewerbsfilmen für einen von zwei Dokumentarfilmen. Nach Nicolas Philiberts „Auf der Adamant“ aus dem vergangenen Jahr gewinnt damit zum zweiten Mal in Folge kein Spielfilm bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin den Preis für den besten Film. Daran ist grundsätzlich nichts auszusetzen, doch die Frage ist, ob wirklich der beste Film gewonnen hat. Die Entscheidung sagt zugleich etwas über die restliche Auswahl aus.
Halbgeglücktes Arthousekino
Da hatte sich lange kein klarer Favorit abgezeichnet, auch wenn ein paar starke Filme vertreten waren, die am Ende zumindest zum Teil mit einigen der übrigen Preise bedacht wurden. Vor allem aber fiel dieser Wettbewerb durch halbgeglücktes Arthousekino ohne stimmige ästhetische Haltung auf. Zum Beispiel waren da die beiden italienischen Filme, „Another End“ von Piero Messina und „Gloria!“ von Margherita Vicario, die auf ganz unterschiedliche Weise ihrem Thema nicht gerecht wurden. Der Science-Fiction-Film „Another End“ ließ das Drama seiner Gedankenspiele um Trauer in grauem Einerlei versinken, der Historienfantasiefilm „Gloria!“ über die Schülerinnen einer Musikakademie bei Venedig verschenkte sein Tribut an die vergessenen Komponistinnen des 18. Jahrhunderts durch mutwillige Niedlich- und musikalische Beliebigkeit.
Auch der Franzose Olivier Assayas konnte in seinem Lockdownfilm „Hors du temps“ keine richtige Form finden für die private Pandemiegesellschaft, die er zeigt, ungeachtet präzise beobachteter Details. Und die ebenfalls französische Regisseurin Claire Burger machte ihre „Langue Étrangère“ um einen deutsch-französischen Schülerinnenaustausch zu einem lieblos didaktischen Abhaken drängender heutiger Fragen wie Rechtsextremismus und den Umgang mit der deutschen Vergangenheit.
Von solchen Enttäuschungen abgesehen, erfreuten umso mehr die Ausreißer nach oben. Einer der schönsten davon, wieder aus Frankreich, war Bruno Dumonts Science-Fiction-Komödie „L'Empire“, die hemmungslos mit den Bildkonventionen des Genres Schindluder trieb und so schöne Einfälle aufbot wie Raumschiffe, die der Pariser Saint-Chapelle oder dem Schloss Caserta nachempfunden waren, deren Verlängerungen nach unten hin andererseits an die apokalyptischen Betonruinen aus den Comics des Zeichners Enki Bilal erinnerten. Auch für die Kirchenfenster der Berliner Gedächtniskirche hatte Dumont in seinem Bildpastiche Verwendung.
Auch das Personal, unförmige Außerirdische in Plastikglibber- beziehungsweise Lichtgestalt, die sich auf der Erde notgedrungen Dorfdeppenkörper aneignen, ist entwaffnend reizvoll. Dass die verfeindeten Aliengruppen, die bei ihm aufeinandertreffen, nebenbei noch etwas übrig haben für das Lustempfinden, das sich menschliche Körper im Miteinander bereiten können, ist eine weitere feine Pointe. Dafür gab es immerhin den Preis der Jury.
Prinzip der Wiederholung
Der Große Jurypreis ging an einen weiteren älteren Mitstreiter, den schon öfter im Berlinale-Wettbewerb angetretenen südkoreanischen Regisseur Hong Sangsoo. Sein Film „A Traveler's Needs“ mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle als Frau, die irgendwie in Korea gelandet ist, wo sie nach spontan entwickelten pädagogischen Ideen Französischunterricht erteilt, folgt Hong Sangsoos bewährtem Prinzip der Wiederholung mit Variationen, in der die gleichen Szenen mit leichten Veränderungen durchgespielt werden, mit großem Erkenntnis- und Komikgewinn.
Sperriger, aber keinesfalls uninteressant zeigte sich dagegen „Pepe“, der überbordende Beitrag des dominikanischen Regisseurs Nelson Carlo de los Santos Arias über das erste Nilpferd, das auf dem amerikanischen Kontinent getötet wurde. Das titelgebende Tier spricht aus dem Jenseits zum Publikum, wie bei Diops „Dahomey“ mit verzerrter Stimme, erzählt seine Geschichte, gemischt mit dokumentarisch anmutendem Material, historischen Vignetten und Geschichten der Menschen in Kolumbien, die die dort zuvor unbekannten Nilpferde fürchten lernten. Drogenboss Pablo Escobar hatte sie eigens aus Afrika für einen Privatzoo „holen“ lassen. Der Regiepreis schien da nicht verkehrt.
Dass andererseits ein Film mit politischem Anliegen, der sein Thema auf menschlich genau beobachtete und zugleich erzählerisch offene Weise angeht wie „Mé el Aïn“ der tunesisch-kanadischen Regisseurin Meryam Joobeur, am Ende leer ausging, gehört zu den weniger verständlichen Jury-Entscheidungen. Das Drama um eine Mutter, die zwei ihrer drei Söhne an den IS verloren hat, wird vom verbliebenen Sohn Adam, mit der kindlichen Frage zusammengefasst: „Ich habe sie immer noch lieb. Ist das okay?“ Ob das in Teilen interpretationsbedürftig rätselhafte Drehbuch die Jury abgeschreckt hat?
Von den deutschen Filmen erhielt lediglich Matthias Glasner für „Sterben“ den Preis für das beste Drehbuch. Wie zwingend man alle Einzelheiten in seiner um zwei ungleiche Geschwister herum erzählten dreistündigen Familiengeschichte am Ende findet, wäre noch zu erörtern. Doch enthält der Film einige der am besten geschriebenen Szenen dieses Wettbewerbs, darunter ein erbarmungsloses Gespräch zwischen Sohn (Lars Eidinger) und Mutter (Corinna Harfouch), warum sie einander nicht lieben und dafür so kalt zu anderen Menschen sind. Wie man in solchen Fällen sagt: Diese Szene wird bleiben.
Politische Schlagseite der Preisverleihung
Was von der Preisverleihung bleibt, ist vor allem die politische Schlagseite des Abends. Hatte die scheidende Geschäftsführerin, Mariëtte Rissenbeek, anfangs noch an das Massaker der Hamas vom 7. Oktober in Israel erinnert, sprach sie gleich im nächsten Atemzug von einer politischen Lösung für Gaza: „Die Kampfhandlungen müssen aufhören.“
Unter den Juryvertretern, die auf der Bühne erschienen, trugen wiederum einige Stoffstücke mit dem Schriftzug „Cease Fire Now“, und manche Preisträger nahmen ihre Auszeichnung mit Palästinensertuch um den Hals entgegen, so der Regisseur Ben Russel, der mit seinem Ko-Regisseur Guillaume Cailleau für den Dokumentarfilm „Direct Action“ über eine militante französische Aktivistengruppe in der Sektion „Encounters“ den Preis für den besten Film erhielt.
In den „Encounters“, dem unter dem scheidenden künstlerischen Leiter Carlo Chatrian eingeführten Nebenwettbewerb für freiere Formen, bekannte sich zudem die für ihren Spielfilm „Cidade Campo“ mit dem Regiepreis geehrte brasilianische Regisseurin Juliana Rojas in ihrer Dankesrede zur „Solidarität mit allen palästinensischen Zivilisten“. Diese Differenzierung entfiel später beim Goldenen Bären. Mati Diop rief unter Beifall: „Ich stehe in Solidarität mit Palästina.“ Der 7. Oktober, schien es, war da schon weit weg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen