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Ende des Hamburger Reemtsma-InstitutsHarter Schlag für Königsdisziplin

Das Hamburger Institut für Sozialforschung ist von herausragender Bedeutung. Nun möchte es sein Gründer und Stifter Jan Philipp Reemtsma schließen.

Mäzen, Publizist, Wissenschaftler, Entführungsopfer und Fabrikanten-Erbe Jan Philipp Reemtsma Foto: Andreas Herzau/laif

Das ist eine Katastrophe für die Sozialwissenschaften und die zeitgeschichtliche Forschung in Deutschland. So kommentierten am Wochenende bereits Soziologen die Nachricht von der Schließung des unabhängigen Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) auf X. Sie haben recht.

Vor 40 Jahren von Jan Philipp Reemtsma gegründet, wird das Institut als gemeinnützige Stiftung bürgerlichen Rechts bis auf ein paar Drittmittel aus dem Privatvermögen Reemtsmas finanziert. „Aus dem eigenen Betrieb heraus ist es nicht finanzierbar“, hieß es am Montag in der Pressemitteilung des Instituts, die Entscheidung scheint endgültig.

Mit Ende der Amtszeit des Direktors und politischen Soziologen Wolfgang Knöbl, der 2015 die Leitung des Instituts von Reemtsma übernommen hat, soll die Arbeit 2028 eingestellt werden.

Das Institut ist in seiner Arbeit und Bedeutung einzigartig in Deutschland, mit der Zeitschrift Mittelweg 36, dem Verlag Hamburger Edition und dem sozialwissenschaftlichen Nachrichtenportal „Soziopolis“ gibt es einen relevanten und aktualitätsbezogenen Austausch mit der akademischen Welt und politisch Interessierten außerhalb des Instituts.

Kaum zu überschätzende Beiträge

Von Anfang an standen Phänomene der Makrogewalt im Zentrum der Forschung, dann zunehmend auch Probleme von Demokratie und Staatlichkeit sowie die Strukturanalyse des gegenwärtigen Kapitalismus. Der Beitrag des Instituts zur Holocaust- und Genozidforschung ist kaum zu überschätzen.

Reemtsma selbst hatte mit der ersten Wehrmachtsausstellung 1995 für Aufsehen und ein Bild von der Wehrmacht gesorgt, das deren Verbrechen angemessen war. Dafür war er nicht nur von Rechtsextremen angegriffen worden, die Deutschen taten sich noch immer schwer mit der historischen Wahrheit über sich als Verbrecher. Mit den Auseinandersetzungen um die Ausstellungen gelang das Institut zu größerer Popularität.

Anfänglich hatte Reemtsma nur Einzelprojekte gefördert, vor allem solche aus der analytischen Sozialpsychologie; ihn interessierten auch die nonkonformen Intellektuellen wie etwa Wolfgang Pohrt, den er förderte. Auch für die Dokumentation und Aufarbeitung der Geschichte der sozialen Bewegungen und der linksterroristischen Gruppierungen hat das HIS Erhebliches geleistet.

Unklar, was mit dem großen Archiv des HIS zu Themen der Zeitgeschichte und der Neuen Sozialen Bewegungen geschehen wird, das, wie die Bibliothek, öffentlich zugänglich ist. Die Zahl der Dokumente zum Linksterrorismus ist enorm. Auch die Nachlässe von Hans-Christian Ströbele und Wolfgang Pohrt etwa, die innerhalb des linken Spektrums kaum weiter voneinander entfernt hätten sein können, liegen im HIS.

Unabhängigkeit als Stärke

Die Stärke des Instituts lag in seiner Unabhängigkeit, heißt es in der Pressemitteilung. Die Rolle des Vorstands beschränkte sich seit der Einsetzung Wolfgang Knöbls als Direktor 2015 auf die Genehmigung des Etats. Ein solches Modell sei nach dem Ende von Knöbls Direktorat für den Stifter und Vorstand Reemtsma aus Altersgründen nicht mehr möglich.

Man fragt sich, ob der 71-jährige Reemtsma kein anderes Modell hätte finden können, doch er befürchtet, die „Stärke des Instituts“ und „daß es seine eigene Agenda schreiben kann“, könnte damit beendet sein.

Reemtsma, der sich einst aus der Rolle des Mäzens zum Sozialwissenschaftler und viel beachteten, klugen Publizisten emanzipieren musste, fällt zurück in die Rolle des Mäzens, der souverän entscheidet: „Da es nicht die Intention des Stifters war noch ist, ein beliebiges sozialwissenschaftliches Institut unter der Leitung oder Observanz irgendeiner anderen Forschungseinrichtung zu gründen, wird das Hamburger Institut für Sozialforschung im Jahre 2028 seine Arbeit einstellen.“

Das ist eine Katastrophe, ja. Vor allem in einer Zeit, in der die Soziologie fast nur noch mit medienwirksamen Zeitdiagnosen boomt, bedarf es der empirischen und unabhängigen Sozialforschung, die an den Universitäten immer weniger möglich ist. Hatte doch das HIS das Erbe der Kritischen Theorie angetreten und auf eine Weise belebt, wie man es sich für das Frankfurter Institut für Sozialforschung wünschen würde.

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10 Kommentare

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  • Schade, von einem solchen Institut erhoffte ich mir die nötigen argumentativen Grundlagen um endlich unseren Überwachungskapitalismus abzuschaffen (aka personalisierte Werbung).

    Aber eine Katastrophe ist das Ende des Instituts auch nicht, denn eine funktionierende Demokratie sollte solche Strukturen schaffen und am Leben halten können.



    Kann sie das nicht, dann ist sowieso die Kacke am dampfen.

  • „ die Deutschen taten sich noch immer schwer mit der historischen Wahrheit über sich als Verbrecher“:



    Vermutlich tun sie das immer noch, dieser radikalobjektiven Ausstellung zum Trotz.

  • Gerade jetzt, wo sich, dass "nie wieder" aufgrund des enormen Erfolgs der AFD gesellschaftlich bewähren muss, ist das Institut von Reemtsma unentbehrlich.



    Es sorgte gegen erbitterte gesellschaftliche Widerstände dafür, dass das Bewusstsein über die Verbrechen der Wehrmacht als wichtige Täter innerhalb der Shoa in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses gerückt wurde.

    Bleibt zu hoffen, dass Hamburgs Wissenschaftssenatorin, die Universität Hamburg und andere Universitäten nach Wegen suchen, wie diese freie Perle der Wissenschaft, die zum demokratischen und wissenschaftlichen Grundfundament Hamburgs und der BRD gehört, finanziell und organisatorisch gerettet werden kann.



    Es sollten sich doch Personen und eine Form finden, denen Gründer Reemtsma vertraut, auch wenn er das Institut nicht mehr finanziert.

    Die Stadt Hamburg ist in der Pflicht, dieses Institut weiter zu finanzieren, will sie sich nicht in der historischen Rückschau sagen lassen, dass sie nicht alles unternahm, diesen einmaligen und freien Leuchturm der Wissenschaft und des gesellschaftlichen Diskurses gerettet zu haben.

  • Reemtsmas Entscheidung ist vollkommen zu respektieren: Es ist eine deutliche, wenngleich vornehm zurückhaltend formulierte Absage an das derzeitige Universitätssystem mit seiner Drittmittel-Logik und den aus ihr resultierenden Kompromissen, Schaumschlägereien, Konformismen und mafiösen Strukturen. Hier wird verdeutlicht, dass ein solches Institut, wenn die Öffentlichkeit es denn will, nicht auf Dauer von einem privaten Mäzen finanziert werden kann, sondern nur vom Gemeinwesen selbst. Wenn dieses nicht dazu in der Lage ist, so ist die Einstellung des Instituts ein Denkmal für diese Unfähigkeit. Ein Mahnmal!



    Für die universitären und außeruniversitären Wissenschaftsinstitutionen sollte dies Anlass zum Innehalten und zur Selbstbefragung sein: Warum lässt sich ein solcher 'Leuchtturm', wie das Institut in der Sprache der Wissenschaftsrhetorik heute vermutlich genannt würde, nicht erhalten? Warum springt das MPI nicht ein? Warum engagiert sich die Bundeskulturstiftung nicht? Warum investiert das Bildungsministerium nicht in ein solches Institut?



    Die Einstellung des Instituts verdeutlicht: Niemand kann auf Dauer als Privatperson die Aufgabe übernehmen, die in einer Demokratie das Gemeinwesen selbst übernehmen muss.

  • Reemtsma will halt sein Vermächtnis nicht verwässert sehen durch irgend eine Nachfolge. Egoistisch? Ja. Zeugt es doch von Mangel an Vertrauen in Andere oder zumindest in Stiftungsstatuten und deren verbindliche Umsetzung. Schade. Hoffentlich findet sich eine gute Lösung für Archiv und Bibliothek

  • Reemtsmas gelten in Hamburg als ehrbare, großzügige Stifter und Mäzene.



    Warum eigentlich ? Die Deals mit den Nazis, Einsatz von Zwangsarbeitern u. Vorteile



    durch Arisierung sind zwar bekannt und schaden offensichtlich nicht, dabei ist



    offen, ob das Thema Arisierung, wie bei vielen deutschen Unternehmen, tatsächlich voll-



    ständig aufgearbeitet wurde, genauso, wie die systematische Unterdrückung der



    Erkenntnisse zu den schädlichen und gesundheitsgefährdenden Folgen des „Genusses“ der Reemtsma-Zigaretten.

    • @Hubertus Behr:

      Und vor allem - “Stiftungen Mäzenatentum - …allet vorenthaltene Lohnerhöhungen! Woll“



      Weiß nicht nur das Ruhrgebiet! Newahr



      Na aber Si’cher dat. Dat wüßt ich ever.



      Da mähtste nix!



      Normal



      & Däh - Mäzenatet sojet - vom Feinsten:



      “Reemtsma, der sich einst aus der Rolle des Mäzens zum Sozialwissenschaftler und viel beachteten, klugen Publizisten emanzipieren musste, fällt zurück in die Rolle des Mäzens, der souverän entscheidet: „Da es nicht die Intention des Stifters war noch ist, ein beliebiges sozialwissenschaftliches Institut unter der Leitung oder Observanz irgendeiner anderen Forschungseinrichtung zu gründen, wird das Hamburger Institut für Sozialforschung im Jahre 2028 seine Arbeit einstellen.“

      Na Mahlzeit -



      & =.> 🙀🥳💰 -



      wie schon ein Kalle Marx einst sagte:



      “Tut mir leid Jungs! War halt nur so'ne Idee von mir." Gellewelle&Wollnich •



      encrypted-tbn0.gst...ngN9tHuBwjbv1ZjA&s

      • @Lowandorder:

        ????? - Schade doch wenn unvermerkt



        Netti⛓️ selbst Wilhelm Busch verzwergt



        Hatte doch Mailtütenfrisch den Tanz -



        Eröffnet so fein mit Observanz



        Eingerührt 💡 Franz & ik so - froh!



        W.B.s Kopp con Chassé on the top!



        www.projekt-gutenb...ilder/knop1509.gif -



        Egal - der Rest aus Volkers Mund 👄



        Wieder Mal abortus - kalt entschwund!

      • @Lowandorder:

        nice

  • Ehrlich gesagt ist mir die Erklärung trotzdem nicht ganz nachvollziehbar. Wieso hätte man das nicht in irgendeine grundlegende Satzung aufnehmen können? Mir ist der Punkt mit der Unabhängigkeit jedenfalls völlig unklar geblieben. Das Argument der "Altersgründe" verstehe ich jedenfalls nicht, denn es klingt für mich, als ob Reemtsma dann doch ein Auge bzw. die Hand auf dem Institut haben möchte (was dann aber die Unabhängigkeit an sich etwas fragwürdig erscheinen lässt), was er nun "aus Altersgründen" nicht mehr kann/will.



    Vielleicht möchte er auch einfach kein Institut finanziell fördern, dass sich ggf. in eine Richtung entwickelt, die ihm nicht passt und deshalb wird das Institut dann lieber geschlossen. Irgendwie wirkt es auf der Grundlage der Artikel so, die ich bisher dazu gelesen habe.

    Jedenfalls sehr schade. Das Institut, da Archiv und die Zeitschriften sind schon eine Institution in der deutschen Sozialwissenschaft und Soziologie.