Hamburger Institut für Sozialforschung: Der Himmel der Theorieproduktion

Die Verdienste des Hamburger Instituts für Soziaforschung um die kritische Öffentlichkeit sind groß. Reemtsma, der es nun schließt, ermöglichte viel.

Jan Philipp Reemstma neben anderen Zuhörern in einer Sitzreihe

Jan Philipp Reemstma auf einer Tagung des Hamburger Instituts für Sozialforschung 2009 in Hamburg Foto: Joerg Boethling/imago

Als junger Soziologiestudent bin ich einmal in meine Heimatstadt Nürnberg gefahren, um mir den Streik der AEG-Mit­ar­bei­te­r*in­nen anzusehen. Damals war verkündet worden, dass das dortige Werk zum Jahr 2007 geschlossen würde. Trotz, Trauer, Solidarität und Wehmut prägten die Situation, nicht nur bei den Beschäftigten, sondern in der ganzen Stadtgesellschaft. Gefühle, die man nur entwickeln kann, wenn die Sache etwas bedeutete, wenn sie das Leben geprägt und die Welt berührt hat.

So wird es wohl auch mit dem Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) sein, dessen endgültige Schließung für das Jahr 2028 geplant ist. Ich habe hier als Doktorand von 2009 bis 2016 gearbeitet. Der Trubel um die Wehrmachtsausstellungen, die zwischen 1995 bis 1999 und 2001 bis 2004 in zahlreichen Städten gezeigt wurden, war damals abgeebbt.

Als Schüler waren sie auch mein erster Kontakt zur Arbeit des HIS gewesen. Bis heute bilden die Ausstellungen das Aushängeschild des Instituts, dessen historische, soziologische und politikwissenschaftliche Forschung sich zu großen Teilen mit Fragen der Gewalt befasst.

Das HIS hat Karrieren geprägt. Zu seinen Alumni zählen intellektuelle Größen wie Hannes Heer, Michael Wildt, Heinz Bude, Wolfgang Kraushaar, Bernd Greiner, Wolfgang Bonß und viele weitere mit längeren und kürzeren Stationen in Hamburg.

Außenwirkung und akademische Relevanz

Die Verdienste des Instituts um die kritische Öffentlichkeit der Bundesrepublik sind Legende: die Beiträge seiner Mit­ar­bei­te­r*in­nen in den Medien, die zahlreichen Publikationen in der hauseigenen Zeitschrift Mittelweg 36 oder im eigenen Verlag, unzählige Tagungen, Forschungsprojekte und Debattenbeiträge.

Dass dem Institut der Spagat zwischen intellektueller Außenwirkung und akademischer Relevanz gelang, belegen nicht zuletzt zahlreiche Berufungen ehemaliger Mit­ar­bei­te­r*in­nen des Instituts auf Professuren in der Bundesrepublik und im Ausland.

Im Inneren zusammengehalten wurde das Institut nach meiner Wahrnehmung von einem die vertretenen Disziplinen übergreifenden Konsens, der alle Forschungsprojekte auf das Ziel der Theorieproduktion verpflichtete. In der Zeit nach der Wehrmachtsausstellung habe ich diese analytische Orientierung vor allem in der soziologischen Arbeit im Haus als Quelle eines außergewöhnlich ambitionierten Denkens erlebt.

Der vermittelte Ansatz war, dass jedes Projekt, ob es sich nun um Geld, Freundschaft, neue soziale Klassen oder verlorene Orte drehte, einen Teil des Ganzen im Blick hatte. Diese Ausrichtung, gepaart mit der Idee, mit vielen anderen an einem Theoriegebäude für die Gegenwart zu arbeiten, maß selbst der Arbeit von Dok­to­ran­d*in­nen eine Relevanz bei, die zum strengen und anspruchsvollen Denken motivierte.

Komfort und Privileg

Wer hier mitzog, konnte mit einer Unterstützung rechnen, die im sozialwissenschaftlichen Betrieb ihresgleichen suchte: eine eigene Bibliothek mit kompetenten Mitarbeiter*innen, die Rechercheaufträge übernahmen. Ein monatliches Kolloquium, in dem man an die wirklich grundlegenden Texte heranging. Die Arbeit am Schrei­ben mit den Redakteuren der hauseigenen Zeitschrift. Das alles in für den wissenschaftlichen Nachwuchs vollkommen unüblicher Vollzeitbeschäftigung. Es war der Himmel und wir wussten es.

Der außergewöhnliche Komfort der Arbeit am HIS war nicht nur Privileg, sondern Ausweis der Selbstwertschätzung. In der Belegschaft hatte man das Gefühl, aufgehoben zu werden. Man durfte und sollte dazugehören, auch wenn die Verträge damals schon lange nicht mehr unbefristet ausgestellt wurden.

Im Idealfall legte dieser Geist des Hauses das Fundament einer gut gepolsterten Pflicht­ethik: Weil man das Glück habe, fürs Denken bezahlt zu werden, habe man die Sache auch gut zu machen. So oder so ähnlich erinnere ich die von Jan Philipp Reemtsma in die Belegschaft gesprochene Nachricht.

Man sollte das Hamburger Institut freilich auch nicht verklären. Seine organisatorische Agilität und inhaltliche Unabhängigkeit hängen von einer Struktur ab, die auch im Vergleich zum bürokratischen, oft behäbigen und von Drittmitteln abhängigen Normalbetrieb der Massenuniversität alles andere als demokratisch ist. Am Ende sind die großen Entscheidungen mit der Person des Stifters, der das Haus mit einem erklecklichen Teil seines Privatvermögens finanziert, unverbrüchlich verbunden.

Eine private Angelegenheit

Als junger Doktorand habe ich hier international geachtete Professoren weinen sehen. Aber wir haben auch getanzt

Wer heute argumentiert, dass die Unabhängigkeit des Hauses auch mit einem Beirat aufrechtzuerhalten wäre, sollte zur Kenntnis nehmen, dass das HIS in seiner Grundstruktur nie eine öffentliche, sondern immer eine private Angelegenheit war. Als solche war das Haus nicht nur außergewöhnlich in der deutschen Wissenschaftslandschaft.

Der hohe persönliche Einsatz, den der Arbeitsstil, die gemeinsame Mission und die letztlich auf eine Person zugeschnittene betriebliche Herrschaft erforderten, hatten so manchen Fallout. Als junger Doktorand habe ich international geachtete Professoren weinen sehen und Spannungen in Räumen gespürt, die ich mir schlicht nicht erklären konnte. Aber wir haben auch getanzt, bis in die Nacht gesprochen und uns als Teil eines besonderen Ortes gefühlt.

Meine Zeit am HIS war mit dem Amtsantritt des aktuellen Direktors vorbei. Ich wechselte zu dieser Zeit in ein anderes Institut. Die organisatorische Neuausrichtung ab 2015 diente nach meiner Wahrnehmung der Annäherung an den akademischen Normalbetrieb.

Das alte HIS hatte sich mit Personen wie Wolfgang Kraushaar oder Klaus Naumann noch Lebensexperten für bestimmte öffentlichkeitsrelevante Themen wie den Linksterrorismus oder die Bundeswehr geleistet. Das neue HIS sollte sich stärker um zeitlich befristete Forschungsgruppen sortieren und damit letztlich nach dem Vorbild öffentlicher Forschung an Dynamik gewinnen. Die öffentliche Relevanz trat in den Hintergrund. Für den Mittelbau und den wissenschaftlichen Nachwuchs entstanden dafür neue Spielräume im Haus.

Der lange Atem des Zivilisationsbruchs

Die Umstrukturierung hatte den Abschied einer ganzen Reihe von Mitarbeitenden zur Folge, die lange Zeit Gesicht und Stimme des HIS gewesen waren. Vielfach waren sie über ihre Forschungsthemen eng an ein intellektuelles Generationenprojekt gebunden, das sie mit dem Stifter teilten. Im Kern war das alte Bundesrepublik, der lange Atem des Zivilisationsbruchs.

Die folgende Neuausrichtung versuchte, das bereits eingetretene Ende dieses Generationenprojekts durch die Überführung sehr spezifischer Fragen in normale Wissenschaft zu überspielen. Aber das HIS war eben nie normal. Gerade deswegen sind hinsichtlich seiner Schließung Trotz, Trauer, Solidarität und Wehmut angebracht. Weil es etwas bedeutete.

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