Buch über Russland nach Putin: Postsowjetische Dämonen
In „Titan oder die Gespenster der Vergangenheit“ erzählt Sergei Lebedew von einem Russland nach Putin. Er setzt auf Vergangenheitsbewältigung.
Von Geistern oder „Gespenstern“ ist bereits im Titel seines neuen Buchs die Rede, und von postsowjetischen Dämonen erzählt auch der Autor Sergei Lebedew sehr schnell, wenn man mit ihm ins Gespräch kommt.
Sergei Lebedew: „Titan oder die Gespenster der Vergangenheit“. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2023, 304 S., 25 Euro
Der 42-Jährige sitzt im Wollpullover am Stand seines Verlags während der Frankfurter Buchmesse, es ist Ende Oktober, er redet ohne Punkt und Komma über die Sowjetgeschichte, als wolle er selbst die Vergangenheitsbewältigung gleich hier erledigen: „Über die Geister des Tschekistenstaats und über die verbrecherische Vergangenheit der Sowjetunion zu sprechen, wäre der erste Schritt, um eine Gegenwart und eine Zukunft überhaupt möglich zu machen“, sagt Lebedew, „erst wenn die Geister entzaubert sind, können sich die Dinge beruhigen, und es kann eine neue Periode in Russland anbrechen.“
Dafür aber, das weiß Lebedew selbst am besten, müsste erst einmal das System Putin zusammenbrechen und davon ist man derzeit weit entfernt. Das ist auch ein Grund, warum der Schriftsteller heute in Potsdam lebt. Seit fünf Jahren ist er im Brandenburgischen zu Hause, er kam als Besucher, mit den Jahren wurde er Exilant. Lebedew hat mehrere Romane verfasst, die Russlands Kippen ins Totalitäre beschreiben, darunter „Menschen im August“ (2015) und „Das perfekte Gift“ (2021).
Putin-Gegner
In seiner Heimat gilt Lebedew als prominenter Putin-Gegner. Kürzlich erschien sein neuer Erzählungsband „Titan oder die Gespenster der Vergangenheit“, elf Parabeln über die Geister Russlands und Belarus’.
Lebedew gräbt in diesen Geschichten aus, was das derzeitige Regime am liebsten für immer verschüttet sähe. Im Vorwort schreibt der Autor, die Archiv- und Ermittlungsakten des NKWD und KGB seien „vielleicht das wichtigste und schrecklichste russische Werk des 20. Jahrhunderts“. Wie diese (juristisch) unaufgearbeiteten Kapitel, wie das Verschweigen, diese Art fortdauernde „Unfähigkeit zu trauern“ (Alexander und Margarete Mitscherlich) sich auf die russische Gegenwart auswirken, dem spürt Lebedew in seinen Erzählungen nach.
„Es ist eine Kette der Straflosigkeit, die bis ins Heute reicht“, erklärt der Autor. „Sowjetische Verbrechen wurden nicht bestraft. Die Verbrechen der frühen 90er Jahre wurden nicht bestraft. Und während der Ära Putin wurde die Frage der Verantwortung für die Tschetschenienkriege nie richtig angesprochen.“
Fehlende Erinnerungskultur
Die erste Erzählung „Abend eines Richters“ spielt die fehlende Erinnerungskultur am Beispiel des Massakers von Katyń von 1940 durch. Dort ereignete sich ein Massenmord durch das sowjetische Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKDW), mehr als 4.000 Gefangene wurden nahe der Stadt Katyń erschossen und im Wald begraben, weitere an anderen Orten ermordet. Richter Scheludkow, Protagonist in Lebedews Geschichte, bekommt diesen Fall auf den Tisch.
Nachfahren der Toten fordern Entschädigungen, seine Aufgabe ist es zu verschleiern, was geschah. „Er fällte ein absichtlich kompliziertes und verwirrendes Urteil, bei dem unterm Strich herauskam, dass nur die Geschädigten selbst einen Antrag auf Rehabilitierung hätten stellen können“, heißt es in der Erzählung. Die Perfidie und den Zynismus, mit dem die russische Justiz zuweilen vorgeht, treibt Lebedew hier auf die Spitze.
Er zeichnet zudem ein Psychogramm des Apparatschiks Scheludkow, erzählt eine Anekdote aus dessen Kindheit nach. Sie zeigt, dass Verantwortung als Wert gelernt werden muss. Und sie verweist darauf, dass das Wort „Verantwortung“ bis heute ein Fremdwort für die russische Gesellschaft ist.
Die Erzählungen referieren oft auf reale Geschehnisse und Orte. In der Titelerzählung „Titan“ geht es um die Verfolgung eines Künstlers, die vielleicht zentrale Geschichte ist aber „Hell war die Nacht“, in der Lebedew anhand dreier Orte – dem Kreml, der Lubjanka, der Datscha Stalins in Kunzewo – den Spuk der Sowjetvergangenheit nachzeichnet – auf groteske bis mystische Art und Weise.
Im Kreml trägt ein Geheimdienstler ausgerechnet einen Skarabäus spazieren, einen Käfer, der im Ägyptischen als Glücksbringer, als Symbol für Auferstehung und Leben steht. Im ehemaligen Hauptquartier des KGB und heutigen Sitz des FSB, der Lubjanka, platzt ein Abwasserrohr, es ist aber kein Geld da, um es zu reparieren („Na, da haben Sie uns ja eine Scheiße untergejubelt, Genosse Schewkunow! Wegräumen! Abwaschen!“).
Die Anwesenheit Stalins spüren
In Stalins einstiger Datscha übernachten verschiedene (KGB-)Persönlichkeiten und spüren die Anwesenheit des toten „Hausherrn“. Ein klug gewählter Ort für eine solche Erzählung: Schon kurz nach seinem Amtsantritt soll Wladimir Putin einige Oligarchen wie etwa Sergei Pugatschow ausgerechnet dort zu einem Treffen eingeladen haben – um Macht zu demonstrieren.
Auch in die jüngere Gegenwart reichen einige Erzählungen. So spielt „19D“ auf den Ryanair-Flug 4978 am 23. Mai 2021 an, auf dem der belarussische Blogger Roman Protassewitsch durch eine erzwungene Zwischenlandung in Minsk festgenommen wurde (ehe er später mutmaßlich gefoltert wurde).
Lebedew wählt die Perspektive des fiktiven Co-Piloten, den der Lesende zunächst beim Wandern im Troodos-Gebirge auf Zypern kennenlernt. Wie in „19D“ gelingt es Lebedew oft, große Geschehnisse zu personalisieren, in diesem Fall philosophiert der Protagonist über das In-der-Luft-Sein, es wird fast eine kleine Abhandlung über das Fliegen daraus. Bis der Co-Pilot in der weltpolitischen Realität hart landet: Sein Flug wird mit einer erfundenen Bombendrohung zum Landen gezwungen. Die Sitznummer „19D“ steht hier für den Passagier, dem dieses politische Manöver gilt.
Keine Hochburg des Antifaschismus
Eines der großen Themen des Buchs ist es, „wie Russland, das immer behauptet hat, die Hochburg des Antifaschismus zu sein, sich in etwas verwandelt hat, das dem faschistischen Staat der Nazis sehr ähnlich ist“, wie Lebedew sagt. Die Antwort: Ermöglicht wurde dies durch das Verdrängen und Verschleiern des Gewesenen.
Nicht nur die Opfer der Russen, auch die Opfer auf der eigenen Seite erhielten fortdauernd kein adäquates Gedenken, so Lebedew – zum Beispiel die vielen tausend Toten, die durch die Gegenschläge der Tschetschenen nach 1994 starben. Heute dagegen verdränge man etwa, dass Ukrainer:innen noch vor Kurzem ganz selbstverständlicher Teil des Moskowiter Alltags waren. In der Gegenwart übt Lebedew Kritik an Intellektuellen und an der Opposition.
Die wenigsten hätten verstanden, dass das ganze Denken von einer großen russischen Kultur überwunden werden müsse. „In intellektuellen Kreisen wird so getan, als sei alles nur Putins Schuld. Als hätte es jenseits von Putin kein imperiales Russland, kein kolonialistisches Russland gegeben“, sagt er. Dabei würden die Minderheiten, ob Tataren, Jakuten oder Burjaten, auch von der Opposition an den Rand gedrängt, „anstatt einzuladen, anstatt ihnen Platz und Stimme zu geben. Die russischen Intellektuellen versagen da in ihrer Rolle als Intellektuelle.“
Wenn man es so sieht, versteht man, was er meint, wenn er sagt, die großrussischen Geister von gestern kämen nicht zur Ruhe.
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