Nachruf auf Philosoph Enrique Dussel: Denker der Transmoderne
Enrique Dussel beeinflusste über Generationen die Debatten um linke Theorie und Praxis. Am Sonntag starb er in Mexiko-Stadt. Ein Nachruf.
Es ist nur ein winziges, aber schönes Detail in einer beeindruckenden Vita mit zwei Doktortiteln und verschiedenen Professuren: Zu Beginn seiner Laufbahn arbeitete der spätere Philosoph Enrique Dussel einmal als Zimmermann in Nazareth. Das war Ende der 1950er Jahre und für den späteren Professor für Theologie und Kirchengeschichte sicherlich eine Praxis von nicht geringer Symbolkraft.
Dussel war einer der bedeutendsten Intellektuellen Lateinamerikas. In Argentinien geboren, lebte und lehrte er ab den 1970er Jahren in Mexiko. Mit seinen über dreißig Büchern beeinflusste er Debatten um linke Theorie und Praxis über Generationen hinweg. Er gehörte in den 1960er Jahren der Befreiungstheologie an und wurde in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem der zentralen Stichwortgeber dekolonialistischer Theorie.
Dass die Moderne nicht mit dem Westfälischen Frieden oder der Aufklärung, sondern schon 1492 begann, mit der Ankunft der Spanier in der Karibik, wurde er nicht müde zu betonen. Dementsprechend sah Dussel die moderne Subjektivität nicht nur als einen Sieg der Vernunft an, sondern auch als Effekt einer Geschichte der kolonialen Gewalt: Das „Ich denke, also bin ich“ von René Descartes sei nicht ohne ein „Ich erobere, also bin ich“ zu haben.
Aussicht auf Befreiung der Ausgegrenzten
Ausbeutung und Ausgrenzung der „Anderen“ standen im Zentrum seines politisch-theoretischen Interesses, mit dem er die Marx’sche Ökonomiekritik und die Subjektphilosophie von Emmanuel Levinas verknüpfte. Die Ausgegrenzten waren für ihn jedoch nicht nur Opfer: Zwar sind sie in eine Position der „Exteriorität“ gezwungen, wie Dussel vielfach ausführte. In dieser Stellung des Außerhalb lag für ihn aber stets auch ein Potenzial für Befreiung.
Vor allem vor dem lateinamerikanischen Hintergrund ist die Hoffnung auf die Kraft der „Volkskultur“ zu verstehen, die Dussel bis zuletzt nicht aufgab und einem modernen Kapitalismus entgegenhielt. Nicht in antimodernen Reflexen aber bestand sein Konzept, sondern in der Überwindung ausbeuterischer und marginalisierender Verhältnisse, in der es zu einem gleichberechtigten Nebeneinander kommen sollte. Er nannte es „Transmoderne“.
Auch wenn Dussel heute mehr als Kulturtheoretiker denn als Theologe wahrgenommen wird, der Glaubenshorizont blieb stets präsent: Die Entstehung sozialer Klassen, schrieb er einmal, sei nicht nur Ergebnis von Produktionsprozess und Arbeitsteilung, sondern schlicht „Frucht der Sünde“.
Dussel starb am 5. November 88-jährig in Mexiko-Stadt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!