Eine Streuobstwiese

Die Streuobstwiese in Hamburg-Schnelsen Foto: Miguel Ferraz Araújo

Der Wert von Streuobstwiesen:Wer holt die Äpfel runter?

Eigentlich würde Bruno Reuer seine Streuobstwiese gern loswerden. Er findet nur keinen Käufer. Streuobstwiesen lohnen sich nicht.

Ein Artikel von

22.9.2023, 16:33  Uhr

Jetzt machen wir richtig Maskerade“, sagt Bruno Reuer und hüllt sich in seine Pflückschürze, einen Kittel mit Seitentaschen, in die bis zu zehn Kilogramm Äpfel passen. Dann steigt der 74-Jährige auf eine gefährlich hoch aussehende Leiter, die in die Wipfel des „Wohlschmeckers“ führt. „Der ist einer der Ersten, die reif werden“, ruft Reuer aus der Baumkrone hinunter. Und schon fliegt ein Apfel in eine der Kisten auf dem Boden. Hier wird das Obst, das Reuer pflückt, sortiert: in verfaulte Äpfel, Tafelobst zum Verkauf und Früchte zur Weiterverarbeitung als Kompott, Aufstrich und Saft.

Bruno Reuers Streuobstwiese liegt im Hamburger Stadtteil Schnelsen. Hier wachsen über 40 Bäume, von denen viele um die 100 Jahre alt sind. Sie tragen etwa 30 seltene Sorten mit Namen wie Prinz Albrecht von Preußen, Schweizer Orangenapfel und Pfannkuchenapfel. Gepflanzt wurden sie von Reuers Familie, als die Streuobstwiese noch ein Bauerngarten war, und später von Reuer selbst. Er nahm die Wiese zehn Jahre nach dem Tod des Vaters in seine Obhut und setzt auf dem Grundstück seitdem regelmäßig einen Baum mit der Sorte des Jahres in die Erde.

300.000 Hektar Streuobstwiesen gibt es nach Schätzungen des Nabu noch in Deutschland, sie sind wertvolle Biotope und beherbergen über 5.000 Pflanzen-, Tier- und Pilzarten. Seit Beginn der 50er Jahre sind sie von der massentauglichen Plantagenwirtschaft, dem sogenannten Erwerbsobstbau, verdrängt worden. In Mitteleuropa gab es zwischen 1965 und 2010 einen Rückgang der Streuobstwiesen um 70 bis 75 Prozent; bis 1974 wurden sogar Rodungsprämien für die Streuobstbäume gezahlt.

Ein ganz anderer Abgang, wie Wein

Äpfel von Streuobstwiesen enthalten eine größere Menge sogenannter Polyphenole als Plantagenobst. Aus diesem Grund sind sie besonders verträglich für Allergiker. Außerdem sind die Früchte deswegen aromatischer. „Jeder Apfel hat eine eigene Note und auch einen anderen Abgang, wie Wein“, erklärt Reuers Lebensgefährtin Hajni Szepesváry.

Reuer führt durch das noch ungemähte Gras unter den knorrigen Ästen seiner 100-jährigen Bäume. Er pflückt zwei Äpfel. „Der hier hat Sonnenbrand“, meint er nach kurzer Inspektion. Sonnenbrand bei Äpfeln bezeichnet verfaulte Stellen in der Frucht, die durch klimawandelbedingte Hitze vermehrt entstehen.

Diesen Prozess vermeide man auf Plantagen möglichst, indem deren Boden mit bestimmten Stoffen versorgt werde, erzählt Reuer. Auf Streuobstwiesen greife man nicht auf diese Art und Weise in die Natur ein. Weil die meisten Menschen aber perfekte Züchtungen gewohnt sind und Äpfel auch die sogenannte Vermarktungsnorm der EU erfüllen müssen, können Bruno Reuer und seine Lebensgefährtin Hajni Sepesvary braun gewordenes Tafelobst nicht verkaufen.

Bruno Reuter sortiert Äpfel

Bruno Reuter sortiert Äpfel Foto: Miguel Ferraz Araújo

Weggeworfen werden die Äpfel deshalb aber keineswegs: Das Paar schneidet die betroffenen Stellen aus der Frucht heraus und bereitet dann Kompott und Aufstrich zu. Auf seinem Grundstück hat Reuer ein kleines Haus gebaut, in dem die beiden während ihrer Ernte und der Pflege der Wiese wohnen. Hier kochen sie die geernteten Äpfel ein, wie Hajni Szepesváry erzählt. Sie holt zwei Gläser aus dem Keller. Auf liebevoll gestalteten Etiketten steht „Apfelgewürzaufstrich mit Ingwer“ und „Apfelgelee“.

Eine dunkle, trübe Flüssigkeit

Produkte wie diese machen den Großteil ihres Ertrags aus, mehr als das verkaufte Tafelobst. Aber auch Saft lassen Reuer und seine Lebensgefährtin von einem Hamburger Produzenten herstellen. Hajni Szepesváry hat ein Tetrapack mit ihrem eigenen Apfelsaft auf den Tisch auf der Terasse gelegt und zapft eine dunkle, trübe Flüssigkeit in kleine Gläser. „Frischer Direktsaft, so wie er ist – ganz ohne Zucker und Zusatzstoffe“, erklärt sie stolz.

Reuer und Szepesváry ernten jährlich etwa drei Tonnen Äpfel von ihrer Streuobstwiese. Ihre Produkte verkaufen sie bei den norddeutschen Apfeltagen und je nach Erntejahr manchmal auch in ihrem Hof. Finanziell lohnt sich das nicht: Der Baumschnitt, den Reuer hin und wieder durchführen lassen muss, kostet 300 Euro am Tag, außerdem zahlt er in die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft ein, die eine Versicherung für Unfälle beim Baumschneiden bietet. Der Verkauf der Äpfel und Apfelprodukte kompensiere diese Kosten und den Aufwand für das Mähen und Ernten nicht, sagt Reuer.

Dann will er noch mehr Bäume zeigen. Doch bevor er einen Gummistiefel ins ungemähte Gras setzen kann, zieht seine Lebensgefährtin ihn zurück: „Bruno, da sind zu viele Mücken, nimm lieber den anderen Weg!“ Reuer zuckt mit den Schultern und sagt: „Wir haben hier eine Chefin.“

Dann läuft er am Zitronenapfelbaum und der Champagnerette vorbei zum Kaiser Wilhelm, der besonders gut geeignet ist für Allergiker:innen. Manchmal denkt sich Reuer auch Spitznamen für seine Äpfel aus. Er zeigt auf eine Frucht der Sorte Finkenwerder Herbstprinz und sagt: „Den hier nenne ich Müsliapfel, weil er so schön resch ist.“

Man merkt Reuers Wortwahl an, dass seine Wahlheimat schon lange in Österreich liegt; „resch“ bedeutet so viel wie „knackig“. Der gebürtige Hamburger ist Kulturwissenschaftler, er hat Musikethnologie in Budapest und Wien studiert. Heute lebt er mit seiner Lebensgefährtin in Kärnten, in einem selbst konzipierten, mit Hanf gedämmten Holzhaus mit Lehmziegeln.

Die Entfernung zu Hamburg erschwert den Erhalt der Streuobstwiese noch um einiges mehr. Drei Mal im Jahr kommt Reuer für ein paar Wochen von Kärnten nach Hamburg, im Winter zum Baumschneiden, im Frühjahr zum Mähen der Wiese und im Sommer und Spätsommer zusammen mit seiner Lebensgefährtin für die Ernte.

Bruno Reuter auf seiner Streuobstwiese, er bückt sich an einem kleinen Bäumchen

Bruno Reuter begutachtet einen Baum Foto: Miguel Ferraz Araújo

Seit Jahren versucht der Grundstücksbesitzer erfolglos, eine Nach­fol­ge­r:in für die Pflege seiner Wiese zu finden. Vor kurzem hat sich eine Mitarbeiterin vom BUND-Landesverband Hamburg die Bäume angeschaut. Nun prüft der BUND, ob sich genügend Ehrenamtliche finden, um eine Patenschaft für Reuers Wiese zu übernehmen. „Aber sonst will niemand hier arbeiten, weil die Wiese so wenig wirtschaftlichen Ertrag bringt“, klagt Reuer.

Der Hochstamm Deutschland e. V. – der Name des Vereins bezieht sich auf die hohen Stämme der Streuobstwiesen im Unterschied zu den niedrigen der Obstplantagen – dokumentiert, wie viel Landwirte mit ihrem Streuobst verdienen. In Baden-Württemberg, wo es die meisten Streuobstwiesen Mitteleuropas gibt, stehen laut dem Verein höchstens 50 Prozent der Wiesen auf landwirtschaftlichen Flächen. Der Rest sind sogenannte Stückle, kleine Grundstücke, die zu wenig Fläche haben, um als Landwirtschaftsbetrieb anerkannt zu werden.

Unter dem gesetzlichen Mindestlohn

Aber selbst für Land­wir­t:in­nen sei Streuobst nicht rentabel, weil der Preis für das Obst schlicht zu niedrig sei, sagt ein Sprecher des Vereins. „Vielleicht kommt man am Tag auf 20 oder 50 Euro Lohn, und dafür hat man dann ungefähr sechs Stunden gemäht, sich gebückt und geerntet.“ Entsprechend verdienen Land­wir­t:in­nen mit Streuobst weitaus weniger als den gesetzlichen Mindestlohn.

Als Resultat würden in Baden-Württemberg viele Streuobstbäume nicht gepflegt, bestätigt Almut Sattelberger, Naturschutzreferentin des dortigen BUND-Landesverbandes. Im städtischen Raum rund um Stuttgart kümmerten sich Menschen vor allem hobbymäßig um kleine Streuobstwiesen, aber auf dem Land finde sich wegen der geringen Wirtschaftlichkeit der Wiesen oft kaum jemand.

Die „Baumlandkampagne“ der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft setzt sich deshalb dafür ein, dass die Politik Streuobstwiesen großflächig finanziell fördert, damit mehr Menschen die Wiesen wieder beruflich bewirtschaften. Zwar stellen die Länder bereits unterschiedliche Fördermittel zur Verfügung, die man als Be­wirt­schaf­te­r:in einer Streuobstwiese beantragen kann, aber die Gelder sind meist nur für einen begrenzten Zeitraum wie eineinhalb Jahre angesetzt. Außerdem fordert die Kampagne, dass man die Förderung unbürokratischer beantragen kann. Das wünscht sich auch Bruno Reuer: „Sonst setz’ ich mich da Tage und Wochen hin, um Formulare und Richtlinien zu studieren.“

Wie viel die Grundstücke, auf denen Streuobstwiesen stehen, wert sind, kann man laut Hochstamm e. V. pauschal nicht sagen. Streuobstwiesenbesitzer Ralf Gottwald aus Urbach östlich von Stuttgart erzählt, dass der Grundstückpreis in seiner Umgebung meist zwischen 40 Cent und drei Euro pro Quadratmeter liegt – oder, wie Gottwald es ausdrückt, „zwischen verschenkt und drei Euro“. Viele Be­sit­ze­r:in­nen seien froh, wenn sich überhaupt jemand um ihre Wiese kümmere. Gottwald sagt, von Lohn könne man als Streu­obst­wie­sen­be­sit­ze­r:in nicht einmal sprechen. „So eine Wiese ist ein Hobby, die erhält man aus Idealismus – nicht, weil man daran verdient.“ Er beobachtet rund um Stuttgart viele Grundstücke, die verwildern, weil sich niemand darum kümmert.

Wie solche Wiesen dann aussehen, kann man sich auch im Süden Hamburgs anschauen. Im Naturschutzgebiet Moorgürtel führt ein zugewucherter Forstweg zwischen Brennnesseln und hohem Gras auf eine ehemalige Streuobstwiese. Die Äste der alten Bäume tragen zwar noch Äpfel, sind aber oft abgebrochen oder eingeknickt.

Eine Kiste mit Falläpfeln

Solche Äpfel lassen sich nicht verkaufen Foto: Miguel Ferraz Araújo

Weil Bruno Reuer so ein Szenario auf seinem eigenen Grundstück vermeiden wollte, hat er die Sache vor Jahren schon selbst in die Hand genommen – und seine Bäume mit nach Österreich gebracht. Von der Streuobstwiese in Hamburg ließ er ein paar alte Apfelbäume veredeln. Dabei werden die Triebe eines Baumes mit einem anderen Baum zusammengeführt, sodass beide miteinander verwachsen. Es entsteht einer neuer Baum, alte Apfelsorten lassen sich so erhalten.

Hamburger Kinder für Kärnten

2018 brachten Reuer und seine Lebensgefährtin die ersten „Kinder aus Hamburg“, wie Reuer es ausdrückt, nach Kärnten und pflanzten sie auf einer neu angelegten Wiese ein. Inzwischen gibt es dort 75 Apfelsorten. Finanziell gefördert wird die Wiese durch ein Programm des österreichischen Klima- und Energiefonds.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Bruno Reuer wünscht auch für Deutschland mehr solcher Unterstützung. Streuobstwiesen seien Orte, an denen der Mensch im Einklang mit der Natur leben könne, findet er. Inzwischen hat er sich im kleinen Häuschen neben der Apfelwiese an den Esstisch gesetzt. „Wenn man erkennt, dass Streuobstwiesen eine Wertigkeit haben, dann möchte man auch, dass eine Wertschätzung erfolgt. Und die fehlt in Deutschland.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.