UN-Menschenrechtsbericht zu Äthiopien: Erst Tigray, dann das ganze Land
Die Experten des UN-Menschenrechtsrats werfen Äthiopien und Eritrea „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in Tigray vor. Es drohten weitere Greuel.
Der Abschlussbericht der unabhängigen Äthiopien-Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrates liest sich wie ein Horrorkatalog. Die Schilderung der Vergewaltigungen von Frauen folgt auf eine Analyse von Massentötungen an jungen Männern. Die Täter hätten oftmals die ethnische Gruppe der Tigrayer als Ganzes als Zielscheibe benannt: „Dieses Muster umfasste Beschreibungen von Tigrayern als ‚Krebsgeschwür‘, den Ausdruck des Wunsches nach Tötung von Männern und Kindern oder nach Zerstörung der reproduktiven Kapazitäten von Frauen.“
Der Krieg in Tigray begann im November 2020 mit einem Aufstand der dort herrschenden Regionalpartei TPLF (Tigray-Volksbefreiungsfront) gegen Äthiopiens Zentralregierung und endete im November 2022 mit einem Friedensvertrag, in dessen Folge die TPLF wieder in Tigray regieren darf, sich aber entwaffnen muss. Er gilt als blutigster Konflikt der Welt in den vergangenen Jahren, mit 600.000 Toten nach Schätzung der Afrikanischen Union.
Noch kein internationaler Untersuchungsbericht ist dem vielfach von tigrayischer Seite geäußerten Vorwurf eines Völkermordes so nahe gekommen wie der Bericht der International Commission of Human Rights of Experts on Ethiopia (ICHREE), die der UN-Menschenrechtsrat im Dezember 2021 ins Leben rief und die mit ihrem Zwischenbericht im September 2022 schon einmal den Zorn der äthiopischen Behörden auf sich gezogen hatte.
Den Völkermordvorwurf machen sich die UN-Experten nicht zu eigen, sie werfen aber den Armeen Äthiopiens und Eritreas sowie verbündeten Amhara-Milizen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Tigray vor, wo ein „ausgedehnter und systematischer Angriff auf die Zivilbevölkerung“ anzunehmen sei. Tigray-Rebellen und ihre Verbündeten hätten ihrerseits in den Regionen Amhara und Afar „Kriegsverbrechen“ begangen.
„Der Konflikt ist nicht vorbei“
Dies ist nicht nur Vergangenheitsbewältigung. „Der Konflikt in Tigray ist nicht vorbei“, warnt die UN-Kommission. Äthiopiens Armee sei abgezogen, aber „eritreische Truppen und Amhara-Milizen verüben andauernde Übergriffe“. Auch die Versorgungslage bleibe katastrophal.
Die UN-Experten verweisen auch auf ein hohes Risiko neuer Greueltaten im ganzen Land im Zusammenhang mit dem Aufflammen weiterer Konflikte etwa in der Amhara-Region, wo seit August das Kriegsrecht gilt. In ganz Äthiopien herrsche eine „Politik der Straflosigkeit und der Toleranz für schwere Menschenrechtsverletzungen“, die Justiz sei „politisiert“ und das Misstrauen der Bevölkerung in den Staat „verbreitet“.
Die scharfe UN-Kritik an Äthiopiens Regierung dürfte zu einer Konfrontation bei der bevorstehenden Jahrestagung des UN-Menschenrechtsrats in Genf führen. Vor einem Jahr scheiterte Äthiopiens Regierung noch mit ihrem Bestreben, das Mandat der ICHREE zu beenden – es wurde im Oktober 2022 um ein Jahr verlängert.
Mittlerweile aber ist die internationale Aufmerksamkeit für Äthiopien gering. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die den UN-Bericht als Bestätigung ihrer eigenen Untersuchungen wertet, warnt bereits vor Versuchen, das Mandat der UN-Experten im Oktober nicht weiter zu verlängern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen