Die letzte „poetical correctness“: Über das schöne Schreiben
Wenn die Zustände oft so hässlich sein müssen, soll wenigstens in der Sprache Schönheit liegen. Diese Kolumne war ein Raum dafür, fürs Fragen und Denken.
M ein liebstes Notizbuch ist salbeigrün. Es wird von einer einzigen Tackernadel zusammengehalten und die Seiten sind mit Fotos bedruckt, sodass man durch eine Collage aus Steinen, Bächen, Wolken und welken Sonnenblumen blättert. Der Weißraum drumherum ist einladend nebensächlich. Deshalb war er für mich ein guter Platz für angerissene Gedanken und Sätze, die sich selbst nicht erklären wollen, aber die ich unbedingt außerhalb von mir festhalten musste. Genau in die Mitte des Notizbuchs, wo die Tackernadel in das Foto eines wild bewachsenen Schutthügels greift, habe ich poetical correctness geschrieben, irgendwann 2019.
Die Kolumne, die daraus entstand, war eine Befreiung für mich. Kein vorgegebenes Thema, kein enger Rahmen. poetical correctness, das sind nur zwei Wörter, und doch haben sie mir plötzlich für alles Raum gegeben. Dafür, Fragen zu folgen, Gedanken wachsen zu lassen, eine Lupe über das Beiläufige zu halten. Ich konnte nach einer anderen Art von Herkunft suchen, nach der Herkunft meines Denkens, losgelöst von Geburtsort, Pass, Körper. Ich konnte realistisch sein und dann wieder eine Träumerin.
Trotzdem habe ich mich oft schwergetan. Schreiben, besonders gegenwartspolitisch, ist selten Magie. Meistens ist es Handwerk und ein Job, der auch mal müde macht. Weil man sich zu wiederholen beginnt, von sich selbst gelangweilt ist, weil nicht jede Ambivalenz auf 90 Zeilen passt. Weil es schwer ist, anderes zu tun, als auf Hass zu reagieren.
Wenn die Zustände oft so hässlich sein müssen, dachte ich irgendwann, dann will ich wenigstens Schönheit in die Sätze legen, mit denen ich sie beschreibe. Nicht als Weichzeichner, Ablenkung oder Ignoranz vor dem Gewicht der Zustände, sondern als Aufmerksamkeit gegenüber der Welt, besonders dort, wo sie zu oft fehlt: an den angeblichen Rändern, unter den Teppichen, zwischen den Zeilen.
Moral ist keine Bedrohung
Es stimmt, dass das auch ein moralisches Anliegen ist. Es bleibt mir ein Rätsel, warum sich so viele allein durch das Wort Moral bedroht fühlen. Ich denke oft daran, wie Mely Kiyak in „Frausein“ dem Zusammenhang zwischen Ethik und Schönheit nachspürt. Wie sie von den alten Griechen erzählt, die einen Begriff für die Verbindung von Schönheit und Gutheit erfanden: kalokagathia. Wie sie schreibt, „die Gabe, Schönheit zu erkennen […], ist nicht die Folge eines gelungenen Lebens, sondern ihre Voraussetzung“.
Orte für schönes Schreiben sind für mich Geschenke. Auch dieser hier. Aber zum Glück braucht Aufmerksamkeit für die Welt keine Kolumne. Sie findet statt, ganz praktisch und konkret. Sie ist private Seenotrettung und Widerstand gegen die Normalisierung der AfD. Sie ist gute Recherche, die Enttarnung von Worthülsen, der Kampf gegen Gewöhnung. Sie ist Hilfeleistung, Zugewandtheit, Pflege. Und für mich ist sie immer auch Poesie.
Bleiben Sie also aufmerksam. Und danke, es war wirklich schön hier.
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