Autor über die Kultur des Fahrradfahrens: „Eine erstaunliche Maschine“

Sie können so viel mehr sein als ein Mittel zur Fortbewegung. Ein Gespräch mit dem Autor Jody Rosen über Fahrräder als politisches Instrument.

Eine Person macht auf einem Rad einen Wheelie.

In New York City machen Menschen Stunts auf Fahrrädern und holen sich öffentlichen Raum zurück Foto: Mark Peterson/Redux/laif

wochentaz: Herr Rosen, Sie schrei­ben in Ihrem neuen Buch, „der heutige Fahrradboom“ sei „ohne Frage der größte in der Geschichte und hat unzählige Millionen Radfahrer fast überall auf der Erde mitgerissen“. Haben wir etwa wirklich schon den Peak der Fahrradbegeisterung erreicht?

Jahrgang 1969, lebt und arbeitet als Journalist und Autor in New York. Er schreibt u.a. für das New York Times Magazine und den New Yorker. Kürzlich erschien sein Buch „Zwei Reifen, eine Welt. Geschichte und Geheimnis des Fahrrads“ auf Deutsch (aus dem Engl. von Andreas Jandl, Sigrid Schmid und Violeta Topalova, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2023, 464 S., 26 Euro).

Jody Rosen: Nein, das sicher nicht. Vergessen wir nicht: Wir leben immer noch in einer Welt für Autofahrer. Aber die Fahrradinfrastruktur bessert sich in einigen westlichen Metropolen langsam, denken Sie nur an London und Paris. In Paris plant die Bürgermeisterin gerade Fahrverbote für Autos im historischen Zentrum ab 2024. Zudem ist die Entwicklung von Bikesharing bei Weitem noch nicht abgeschlossen.

Wie ist es in Ihrer Heimatstadt New York?

In New York City sollte schon 2019 die Mautgebühr für Autofahrer eingeführt werden, es hat Jahrzehnte gedauert, das durchzusetzen. Jetzt endlich, endlich wird die City-Maut für Manhattan kommen. Wir werden sehen, wie sehr das den Stadtteil – auch was die Feinstaubbelastung angeht – entlastet und wie positiv sich dies auf den Verkehr auswirkt.

Müssen die Autos ganz raus aus den Städten?

In meinen Träumen ist New York City eine autofreie Stadt. Aber alle Experten plädieren für ein reichhaltiges Angebot an Transportmöglichkeiten: U-Bahn, Bus, Fahrräder, Motorroller und sogar einige Autos für Fahrten, bei denen man ein Auto braucht. Realistischerweise erkennen wohl auch die meisten Fahrradaktivisten, dass eine grünere, sauberere Art von Autos vor allem für den Transport auch weiter eine Rolle spielen muss.

In Deutschland zeichnet sich in den meisten Umfragen überhaupt keine klare Mehrheit für autofreie Innenstädte ab. Glauben wir nicht nur aus unserer linksliberalen Blase heraus, dass diese angestrebt werden?

Sicher ist viel Wunschdenken bei den Radaktivisten dabei. Selbst in den linksliberalsten Städten ist noch viel zu tun, um die Menschen davon zu überzeugen, ihren auto­orientierten Lebensstil aufzugeben. Meiner Meinung nach ist es der falsche Ansatz, eine „klare Mehrheit“ für autofreie Innenstädte zu suchen.

Es gibt viele wichtige Maßnahmen, die von Kommunen ergriffen wurden und die zumindest anfangs keine Unterstützung in der Bevölkerung fanden – das Rauchverbot in Bars und Restaurants hier in New York ist ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte. Was wir brauchen, sind visionäre Führungspersönlichkeiten, die auch bereit sind, sich politisch angreifbar zu machen, um die Städte besser befahrbar, sicherer und nachhaltiger zu machen.

Zuletzt gab es große Entwicklungsschritte beim Fahrrad. Das E-Bike boomt, das Lastenrad hatte seinen Durchbruch. Wie wird sich das Fahrrad Ihres Erachtens in Zukunft entwickeln?

Die Entwicklung des E-Bikes hat die Fahrradkultur weltweit verändert – und wird sie weiter verändern. Es ist eine der wichtigsten Entwicklungen in der Geschichte des Fahrrads. In vielen Gegenden der Welt werden gerade E-Bike-Sharing-Programme eingeführt. Pendler, die zur Arbeit fahren wollen, haben bislang bei längeren Strecken vielleicht gezögert, zum Rad zu greifen – weil es anstrengend ist und man verschwitzt bei der Arbeit ankommt. Mit dem E-Bike kann er solche Strecken aber ganz bequem bewältigen.

Ich nehme jetzt selbst auch gelegentlich das E-Bike. Ich wohne in Brooklyn. Es ist irre, wie schnell ich damit über die Brooklyn Bridge nach Manhattan sausen kann! Das E-Bike ist eine erstaunliche Maschine. Ich glaube, es kann eine Menge Fahrradskeptiker bekehren.

Was bewirkt der Boom der Lastenfahrräder?

Immer mehr Lieferfahrzeuge in den USA sind Lastenfahrräder, viele davon wahrscheinlich E-Bikes mit Tretunterstützung. Auch Amazon nutzt in den USA schon E-Bike-Lieferfahrzeuge. Sicher, Amazon ist ein mindestens problematisches Unternehmen – aber das ist dennoch eine positive Entwicklung. Lastenfahrräder sind nun einmal energieeffizienter, schneller und günstiger und lohnen sich deshalb immer mehr für Unternehmen.

In Ihrem Buch preisen Sie das Fahrrad als Symbol für Individualität und Freiheit. Genau das ist aber für die meisten Menschen in der westlichen Welt weiterhin das Auto.

Zweifelsohne ist das Auto für viele ein Freiheitssymbol. Ich spreche in meinem Buch vor allem von der ersten Hochphase des Fahrradbooms Ende des 19. Jahrhunderts. Damals hat das Fahrrad den Menschen ein neues Ausmaß von persönlicher Freiheit und Mobilität verschafft. In gewisser Weise hat es diesen Status behalten: Das Gefühl, das man als Kind bekommt, wenn man zum ersten Mal auf ein Fahrrad steigt und plötzlich Autonomie und Bewegungsfreiheit erfährt – das vergisst man nicht. Auch wenn man auf einem Fahrrad draußen in der Natur unterwegs ist, ist das ein anderes Freiheitsgefühl als mit dem Auto.

Sie schreiben über die misogynen Aspekte in der frühen Geschichte des Fahrrads. Frauen, die Fahrrad fuhren, wurde ein „Fahrradwahn“ attestiert. Das erinnert ein bisschen an den Hysteriediskurs bei Sigmund Freud.

Das Fahrrad gab den Frauen eine Freiheit, die man ihnen damals nicht zugestehen wollte. Sie waren plötzlich mobil, konnten umherziehen, sich besser vernetzen und schließlich das Wahlrecht einfordern. Das Fahrrad spielte eine wichtige Rolle in der Frauenbewegung, sowohl in den USA als auch in Großbritannien und anderswo im Westen. Sie konnten sich organisieren. Sie haben Freud erwähnt, auch das ist interessant: es gab eine Moral Panic, es wurde debattiert, was Frauen mit einem Fahrrad alles anstellen könnten, das Fahrrad wurde sexualisiert. Aus heutiger Sicht ist das lächerlich.

Das Fahrrad war erst auch Weißen vorbehalten, der US-Fahrradverband League of American Wheelmen verbot zunächst die Mitgliedschaft von Nichtweißen. Es gab lange sehr wenig schwarze Radsportler*innen. Ist das Fahrrad auch heute noch ein weißes Fahrzeug?

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Ich wäre gern noch mehr um die Welt gereist, um das genauer sagen zu können. Was ich bei der Literatur über die Geschichte des Fahrrads festgestellt habe, ist, dass es sich um eine extrem euro- und US-zentrierte Literatur handelt.

Dabei spielt das Fahrrad in Afrika, Asien und Lateinamerika eine wichtige Rolle. Aber in manchen US-Bundesstaaten wird es geduldet, wenn die Polizei Schwarze Radfahrer schikaniert. Ich denke, wir Fahrradliebhaber sollten diese Probleme viel deutlicher ansprechen. Das Establishment der Fahrradaktivisten ist nämlich weiß und männlich.

Sie schreiben über das Fahrrad als Demonstrationsfahrzeug. Als Beispiele nennen Sie die Demokratiebewegung in China 1989 oder Black Lives Matter. Die weltweite Bewegung Critical Mass nutzt explizit immer Fahrräder für ihre Demos. Warum wird das Fahrrad nicht noch viel mehr eingesetzt, um die Macht auf der Straße zu erobern?

Es ist sicher das Ziel von Critical Mass, dass das noch öfter geschieht. Das Konzept haben jedenfalls schon einige andere Bewegungen für sich entdeckt. Es gibt Bike Buses in den USA, Barcelona und anderswo, bei denen große Gruppen zusammen durch die Stadt fahren, um von A nach B zu kommen – vor allem Gruppen von Schulkindern. Auch das ist eine Form von Fahrradaktivismus.

Es gibt außerdem das Phänomen der sogenannten Rideouts: Über den Hashtag #BikeLife findet man Aktionen vor allem von Schwarzen Jugendlichen, die auf den Straßen New Yorks oder Londons Stunts auf Fahrrädern machen und so den öffentlichen Raum für sich beanspruchen.

Sie schreiben auch darüber, wie man die Energie, die beim Fahrradfahren entsteht, nutzen könnte. Wir reden in Zeiten der Klimakrise viel über regenerative Energien. Sollen wir bald mit Pedalkraft unsere Smartphones laden?

Ja, warum nicht? Im Buch schreibe ich über eine Gruppe US-amerikanischer Aktivisten, die sich in den Siebzigern den Einsatz pedalbetriebener Geräte in Landwirtschaft, Industrie und unseren Häusern vorgestellt haben. Sie argumentierten, dass die Pedalkraft das Potenzial habe, die Umwelt zu heilen und „Millionen“ von der Plackerei der traditionellen Arbeit zu befreien.

Das war natürlich eine wilde Fantasie. ­Vielleicht ist das auch ein bisschen weit hergeholt. Aber warum sollte man in der gigantischen Klimakrise, in der wir uns befinden, nicht alle Möglich­keiten ausschöpfen, um alter­native Energiequellen zu nutzen?

Sie haben auch über sogenanntes Slow Cycling geschrieben. Was hat es damit auf sich?

Das ist ein Trend, der auf den dänischen Fahrradaktivisten und Stadtplaner Mikael Colville-Andersen zurückgeht. Er hatte einen Blog namens Copenhagen Eyes, er hat die Phrase „Cycle Chic“ geprägt. Fahrradfahren war für ihn ein modisches Statement. Auf Colville-Andersen geht auch der Begriff „Slow Bicycle Movement“ zurück.

Damit will man der hohen Geschwindigkeit, mit der wir uns alle durch das digitale Zeitalter bewegen, etwas entgegensetzen. Es geht um achtsames, bewusstes, gemächliches Fahrradfahren. Das ist eine Art historische Ironie, denn als das Fahrrad im 19. Jahrhundert aufkam, war es die Geschwindigkeitsmaschine schlechthin.

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