Expertin über soziale Ungleichheit: „Mir wurde gesagt, ich bin zu laut“
Arbeiterkinder werden oft in soziale Schubladen gesteckt. Katja Urbatsch ist Mitgründerin der Plattform Arbeiterkind.de und kennt die unsichtbaren Hürden.
taz: Frau Urbatsch, wann fängt soziale Herkunft an, sich auszuwirken?
Katja Urbatsch: Bei mir fing das im Kindergarten an. Mir wurde gesagt, dass ich zu laut bin. In der Schule meinte eine Englischlehrerin, dass meine Aussprache im Englischen zu schlecht ist. Meine Deutschlehrerin sagte, ich sei zu ehrgeizig. Ob man Akademikerkindern gesagt hätte, sie sollen einen Gang runterschalten? Und selbst wenn, ob da nicht die Eltern dann in der Schule auf der Matte gestanden hätten? Menschen schieben andere generell in soziale Schubladen.
war die erste Akademikerin ihrer Familie. Im Jahr 2008 gründete sie die Initiative ArbeiterKind.de.
Spielen auch die Schulformen an sich eine Rolle?
Wir haben eine große Pfadabhängigkeit. Das Schulsystem ist in unseren Köpfen, das lässt sich nicht einfach auflösen. Als es darum ging, ob ich aufs Gymnasium oder die Realschule soll, hörte ich oft: „Du kannst hinterher wechseln.“ Das ist zu einfach gedacht. Wer einmal auf der Realschule ist, kommt schwer wieder runter. Später wird man kaum ermutigt, Abitur zu machen. Freunde, die in der Oberstufe gewechselt sind, hatten Probleme. Die haben anders gelernt, anderen Stoff.
Es hat nicht nur mit den eigenen Erfolgen zu tun, sondern auch mit dem Selbstbild.
Bei Arbeiterkind.de gibt es den Slogan „Stipendien nicht nur für Einserkandidaten“. Viele denken, Stipendien seien nur für Hochbegabte. Das Wort „Begabtenförderung“ ist schwierig. Wer hält sich schon für begabt? Einer aus einer nichtakademischen Familie hält sich selten für begabt. Akademikerkinder haben mit höherer Wahrscheinlichkeit in ihrem Umfeld Stipendiaten – Leute, die sie zur Bewerbung motivieren.
Wie groß ist der Zusammenhang zwischen der Herkunft als Arbeiterkind und Armut?
Im englischsprachigen Raum gibt es die Unterscheidung „First Generation“ und „Low Income“. „First Generation“ heißt nicht automatisch „Low Income“. Der erste Faktor bezeichnet den nichtakademischen Hintergrund. Es gibt Probleme, die alle Arbeiterkinder haben: das Verständnisproblem zu Hause, das Klarkommen in der Uni. Es gibt auch Kinder von erfolgreichen Handwerkern, die vielleicht finanziell ganz gut gestellt sind …
… deren Familie jedoch wenig mit dem Thema Studium anfangen kann.
Vor allem, wenn man Geistes- oder Sozialwissenschaften studiert, hat man trotzdem Diskussionen zu Hause. „First Generation“ ist ein Punkt, aber wenn dann etwas hinzukommt – niedriges Einkommen, Arbeitslosigkeit in der Familie, Migrationshintergrund oder chronische Krankheiten –, kann das die Ausgangslage des Studierenden verschärfen.
Welche Sorgen von Arbeiterkindern an der Uni werden übersehen?
Die Uni ist weiterhin auf Akademikerkinder ausgelegt. Man erwartet, dass Menschen sich voll aufs Studium konzentrieren können und vollständige Unterstützung erfahren – ideell und finanziell. Vielen fällt nicht auf, dass sie diejenigen fördern, die ihnen ähnlich sind. Sie fördern selbstbewusste Menschen, die sich trauen, mit Professor*innen zu sprechen. Für Arbeiterkinder ist das eine soziale Anpassungsleistung.
Und Arbeiterkindern selbst wird das oft erst im Laufe des Studiums bewusst.
Viele Eltern, die selbst studiert haben, helfen ihren Kindern im Studium praktisch: bereiten Referate vor, korrigieren Hausarbeiten, ziehen das Argument nochmal gerade. Das geht bis zur Doktorarbeit. Es wird Akademikerkindern zugestanden, sie hätten alles alleine geleistet. Und das stimmt oft nicht.
Unbezahlte Praktika fördern die soziale Ungleichheit.
Auch Arbeitgeber differenzieren. Ein Studium allein reicht für den Berufseinstieg nicht. Es wird hinterfragt, wenn man nicht in Regelstudienzeit studiert hat, ob man im Ausland war, ob man Praktika gemacht hat. Aber das ist von Finanzen und Connections abhängig, vom sozialen Kapital. Und das fehlt vielen Arbeiterkindern. Da mangelt es auf Arbeitgeberseite an Sensibilität für diese Gruppe. Vielen ist nicht bewusst, welche Privilegien sie hatten – oder eben nicht.
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