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Helfer Daniel spricht mit einer Frau die noch in Trümmern liegt Foto: Piroschka Van De Woouw/reuters

Nach dem Erdbeben in der TürkeiDie gebrochene Stadt

Das Erdbeben vernichtete Kırıkhan in der türkischen Provinz Hatay. Hoffnung, Überlebende aus Trümmern zu bergen, gibt es kaum – doch es gibt Wunder.

Cem-Odos Gueler
Von Cem-Odos Gueler aus Kırıkhan

W as einmal die Haupteinkaufsstraße von Kırıkhan war, ist jetzt eine Schlaglochpiste. „Das hier, das war ein siebenstöckiges Gebäude“, sagt Uğur Aslan und zeigt auf einen Trümmerhaufen. Bruchgut liegt überall am Weg, Soldaten haben das Gebiet am Sonntag abgesperrt. Aslan, 37, hat das Erdbeben in der Türkei überlebt, seine Eltern rettete er, indem er ihnen eine Bettdecke überwarf, um sie vor herabstürzenden Trümmern zu schützen. Jetzt läuft er durch die zerstörten Straßen und wiederholt immer wieder diesen einen Satz: „Wie im Krieg. Wie im Krieg.“

Genau vor einer Woche bebte im Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei die Erde innerhalb von neun Stunden zwei Mal – und so stark, wie es hier noch niemand je erlebt hatte. Auf einer Fläche halb so groß wie Deutschland stürzten Wohnhäuser ein, brachen Straßen, riss die Erde alles in die Tiefe.

Mehr als 30.000 Menschen kamen bislang ums Leben, die Zahl ist noch im Steigen. Das Ausmaß der Zerstörung ist gewaltig, auch in der Provinz Hatay, wo Kırıkhan liegt. Auf zwei Trümmerhaufen, die einmal Kırıkhan waren, arbeiten Rettungskräfte in der ehemals 120.000 Ein­woh­ne­r*in­nen großen Stadt weiter, um Menschen zu retten. Doch die Aussichten, eine Woche nach dem Beben Lebende aus den riesigen Bergen aus Stahlbeton zu ziehen, sie sind verschwindend gering.

Uğur Aslan macht sich ein Bild von der Zerstörung in seiner Stadt. Immer wieder zeigt er auf einen Trümmerhaufen und sagt: „Hier haben sie nicht einmal angefangen mit der Suche.“ Als die Erde Montag früh um 4.17 Uhr letzte Woche das erste Mal bebte, war Aslan mit der Familie zu Hause. Er hätte es rausgeschafft, doch seine Eltern seien nicht mehr fit auf den Beinen. „Also bin ich zu ihnen und habe sie, so gut ich konnte, geschützt. Dann kam meine Schwägerin hochgerannt und meinte, das Beben habe die Haustür blockiert. Ich schlug die Haustür mit einem Hammer ein, brachte meine Familie nach unten.“ Alle überlebten unverletzt.

Rettung mit sieben Bergungshunden

Als erste professionelle Hel­fe­r*in­nen trafen Rettungskräfte der Organisation International Search And Rescue (ISAR) in Kırıkhan ein, unter ihnen 43 Hel­fe­r*in­nen aus Deutschland mit sieben Bergungshunden, auch der Bundesverband Rettungshunde war hier dabei. 28 Stunden nach dem ersten Erdbeben der Stärke 7,8 waren sie alle vor Ort – und nur etwa 19 Stunden nach dem zweiten Erdbeben der Stärke 7,5.

„Hier sah es katastrophal aus“, sagt Bünyamin Aydın über seine Ankunft. Der Berliner, der in der Türkei lebt, ist Generalkoordinator von ISAR Turkey. Er hat die Ankunft der deutschen Rettungskräfte im Erdbebengebiet geplant. Als anderswo die Hilfe erst anlief, war ISAR in der Provinz Hatay bereits in Aktion. Die türkische Sektion ist mit etwa 80 Menschen in Kırkhan. Gemeinsam rettete man nach der Ankunft der Deutschen zusammen eine 60-jährige Frau aus den Trümmern, das Ausladen des Materials lief gerade noch. „Wir waren bereit wie die Tiere, wir haben sofort losgelegt“, sagt Aydın.

Auch eine Woche nach dem Beben ist es nach Sonnenuntergang gespenstisch dunkel in Kırıkhan. Es gibt keinen Strom, an den Essensausgaben in der Stadt bilden sich lange Schlangen, und viele Menschen schlafen auch bei Temperaturen von minus zehn Grad draußen. An jeder Straßenecke sind kleine Feuer aus Pappe und Holzabfällen zu sehen, an denen sich Leute wärmen. Han bedeutet auf Türkisch Herberge, kırık gebrochen: die gebrochene Unterkunft – Kırıkhan. Besser lässt sich das Leid der Menschen hier nicht zusammenfassen.

Am Samstag kursiert die Meldung, dass in der Provinz Hatay Plünderer unterwegs gewesen seien, auch Schüsse sollen gefallen sein. Der deutsche Rettungstrupp entscheidet deshalb tagsüber, einen geplanten Beobachtungsrundgang durch den Ort und mit den Bergungshunden abzusagen. Doch die Hel­fe­r*in­nen erklären: Sollten noch Meldungen von lebenden Menschen in den Trümmerhaufen bekannt werden, stünden sie sofort bereit.

Um 19 Uhr am Samstag geschieht dann das, womit niemand mehr gerechnet hatte: Das Technische Hilfswerk (THW) wird in der Stadt für eine Rettungsoperation mobilisiert. Türkische Einsatzleute haben in den Überresten eines Hauses Stimmen gehört. Das THW ist vergangenen Mittwochabend mit 50 Männern und Frauen in Kırıkhan dazugestoßen und hat seine Zelte mit denen von ISAR auf einem Hügel über der Stadt gebaut. Auch das THW hat vier Hunde dabei.

Es ist stockdunkel in Kırıkhan, als ein Dutzend THW-Kräfte mit einem lokalen Fahrer im Minibus startet. 140 Stunden nach dem Erdbeben gibt es Lebenszeichen einer alten Frau in den Häusertrümmern. Die tür­ki­schen ­Kol­le­g*in­nen brauchen ein spezielles Schneide- und Spreizwerkzeug, das das THW im Gepäck hat, um zu der Frau zu gelangen.

Vor Ort ist die Situation dann unübersichtlich: Soldaten mit Langwaffen im Anschlag haben das Gebiet abgesperrt. Die Stimmung ist angespannt, ein Umstehender flucht über die späte Hilfe: „Ich habe euch doch vorgestern schon gesagt, hier leben noch viele Menschen in den Trümmern“, ruft er in Richtung der türkischen Hilfskräfte. „Ihr wolltet nicht auf mich hören.“

Zeynep Kahramans Schwester (re.) in vager Hoffnung, als ihre Schwester zunächst gerettet wird Foto: Piroschka Van De Woouw/reuters

Die Rettungskräfte des THW begeben sich auf den riesigen Trümmerberg. Es muss ein mehrstöckiges Gebäude gewesen sein, so groß wie der Haufen ist. Das Surren der Generatoren ist immer wieder weg, alle Lichter werden gelöscht, die wenigen Umstehenden zur Ruhe ermahnt: Der gesamte Block steht still, wenn Arbeiter mit der eingeschlossenen Frau reden. Die Frau spricht nur Arabisch, per Übersetzer nehmen die deutschen Hel­fe­r*in­nen Kontakt zu ihr auf.

Nach etwa vier Stunden tragen sie die Frau tatsächlich auf einer Trage aus den Trümmern. Sie ist 88 Jahre alt, hat einen gebrochenen Unterarm und ein gebrochenes Bein. Komplett eingeschlossen lag sie in einem kleinen Loch, mit ihrem Kopf an der Schulter eines Toten. Der Leichengeruch ist schon weit vor der Trümmerstelle nicht zu ignorieren. Kaum vorzustellen, wie die alte Frau fünf Tage in dem Loch überlebt hat. Es grenzt an ein Wunder.

Die deutsche ISAR-Gruppe und das THW haben seit ihrer Ankunft fünf Menschen aus den Trümmern von Kırıkhan lebend geborgen. Für großes Aufsehen sorgte die Rettung der 40-jährigen Zeynep am Freitagabend. An­woh­ne­r*in­nen hatten die Rettungskräfte von ISAR alarmiert: In der Ruine des Hauses hätten sie am Mittwoch noch Stimmen gehört. Mit Hunden können die Spe­zia­lis­t*in­nen aus Deutschland den Ort ausmachen, an dem sich die Frau befindet.

„Gib nicht auf!“

Die Ret­te­r*in­nen teilen sich in zwei Schichten auf; Tag und Nacht versuchen sie, zu der Frau zu gelangen. Das Gebäude hat sich beim Einsturz so verkeilt, dass sie nach einem geeigneten Zugangsweg suchen müssen. Als Erstes können die Hel­fe­r*in­nen in den Trümmern einen Versorgungsschlauch zu der Frau legen, über den sie mit Flüssigkeit versorgt werden kann. Ab dem Zeitpunkt ist auch ein Arzt nahe der Verschütteten vor Ort, ihr Zustand wird medizinisch überwacht. Auch die Schwester der Eingeschlossenen ist an der Unglücksstelle, spricht ihr Mut zu, „gib nicht auf!“.

Da ist auch Freude, einen Menschen mehr in dieser Katastrophe gerettet zu haben

Nach mehr als 60 Stunden Arbeit und einem zweiten Bergungsschacht, den die Ret­te­r*in­nen einrichten müssen, ist es tatsächlich so weit: Zeynep wird aus den Trümmern getragen. Sie hatte die ganze Zeit über neben ihrem toten Mann und neben ihren zwei toten Kindern gelegen. Bei ihrer Rettung haben alle Hel­fe­r*in­nen Tränen in den Augen. Es ist eine riesige Anspannung, die von ihnen fällt – aber da ist auch Freude, einen Menschen mehr in dieser verheerenden Katastrophe gerettet zu haben.

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Die fast ausgelassene Stimmung weicht am nächsten Tag der Trauer. Zeynep stirbt in der Nacht zu Samstag im Krankenhaus von Adana. Wieder liegen sich die ­Hel­fe­r*in­nen von ISAR in den Armen. Peter Kaup ist ärztlicher Leiter der Organisation und spricht ihnen Mut zu. „Als Ärzte wissen wir, dass nach so einer schweren Rettung die ersten 48 Stunden entscheidend sind“, sagt er in die Stille des Zeltes. Zeynep sei im Beisein ihrer Schwester und ihrer Familie gestorben, sie hätten sich voneinander verabschieden können. Das sei für die Angehörigen von „unermesslichem Wert“.

Im Lager von ISAR dreht Tamara Reiher eine Runde mit ihrem Australian Shepherd Mayuma. Mayuma ist aufgeweckt, bellt immer wieder kurz auf. Und ist still, wenn Reiher den unteren Rücken des Tieres streichelt. „Menschen kamen in der Stadt zu uns, fragten explizit nach den Hunden“, sagt sie. Die Tiere sind Profis, ihre Nasen darin geschult, lebende Menschen zu erschnüffeln. Auch bei der Rettung von Zeynep waren die sieben Hunde der Organisation ganz vorne mit dabei. „Es ist unglaublich, was ein Hund auf Trümmerhaufen ausrichten kann“, sagt Reiher. „Wenn sie jemanden riechen, bellen sie los, als würden sie Alarm schlagen.“

Die Hun­de­füh­re­r*in­nen stehen am Rand und „lesen die Hunde“. Das bedeutet, dass sie die unterschiedlichen Nuancen im Bellen und das Laufverhalten auf den Trümmern gekonnt interpretieren müssen. In Kırıkhan kommentieren auch häufig Umstehende das Verhalten der Bergungshunde. „Wir waren hier vor Ort so effektiv, weil wir so stark miteinander kooperiert haben und weil ISAR Germany so gut vorbereitet war“, sagt Bünyamin Aydın von der türkischen Sektion.

Von der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD bekam ISAR Turkey die Stadt Kırıkhan als Einsatzort zugewiesen, weil die Provinz Hatay wegen der Wucht der Zerstörungen die höchste Priorität für Hilfen bekommen habe. Um 5.30 Uhr am vergangenen Montagmorgen hatte sich Aydın bereits von der deutschen ISAR-Sektion die Bestätigung eingeholt, dass man einen Einsatz in der Türkei plane. Von da an habe alles ineinandergegriffen.

Abends flogen die Deutschen ab, ISAR Turkey organisierte einen Lkw zum Flughafen in Gaziantep. 15 Tonnen Einsatzgerät wurden verladen und nach Kırıkhan gefahren. Unterwegs dorthin empfängt das Autoradio immer wieder arabische Sender. Nur etwa fünf Kilometer trennen Kırıkhan von der syrischen Staatsgrenze, in die kurdische Stadt Afrin sind es nur etwa 50 Kilometer Luftlinie. Angesichts der Zerstörungen in Kırıkhan ist kaum vorstellbar, wie es dort drüben aussieht. Für ISAR und THW im türkischen Einsatzgebiet bleibt die Erdbebensituation in Syrien eine große Unbekannte.

Suchaktionen gehen weiter bei ISAR Turkey

An diesem Montag wollen die beiden deutschen Organisationen ihren Such- und Rettungseinsatz in der Region beenden. „Das Zeitfenster für Suchmaßnamen ist nahezu gänzlich geschlossen. Es gibt kaum noch lebend zu rettende Menschen in den Trümmern“, sagt Steven Bayer, Leiter des deutschen ISAR-Teams. Sowohl das THW als auch ISAR Deutschland lassen ihre Zelte und Teile ihres Materials vor Ort, weil ISAR Turkey die Suchaktionen weiterführen wird.

Helferin Tamara Reiher mit Bergungshündin Mayuma: „Es ist unglaublich, was ein Hund auf Trümmerhaufen ausrichten kann“ Foto: Cem-Odos Güler

Auf den Straßen in die Stadt ist von Norden aus wegen der zahlreichen Hilfslastwagen kaum ein Durchkommen. Noch viel langsamer geht es allerdings auf der Gegenspur voran: Es wirkt, als würden alle, die irgendwie können, die Provinz Hatay verlassen. Die Staus ziehen sich über Dutzende von Kilometern, ohne dass sich ein einziges Auto bewegt.

Anwohner Uğur Aslan, der seine Familie ­retten konnte, sieht ebenfalls keine Zukunft in Kırıkhan. „Was soll ich hier noch machen?“, fragt er, durch die zerstörte Stadt laufend. Er spricht auch Deutsch, Aslan ist in Wien aufgewachsen. Nach dem Erdbeben hatte er zufällig die Ankunft der deutschen Rettungsgruppe beobachtet, seine Hilfe und Ortskenntnisse angeboten.

„Hier gibt es nichts mehr.“ Seine Eltern möchte Uğur Aslan unbedingt wieder nach Österreich bringen. Er selbst will es nach Deutschland ­versuchen.

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