Erdbeben in Türkei und Syrien: Zelte, kein Strom, kein Wasser

Auch Erdbebenopfer, deren Häuser noch stehen, fürchten sich zurückzukehren – zu groß ist das Misstrauen gegen die staatlichen Gebäudeinspektoren.

In den Trümmern liegen persönliche Gegenstände

Zwischen den Trümmern eines Gebäudes in Adana Familienfotos, Aktenordner und ein Kuscheltier Foto: Imago

ADANA/BEYOğLU taz | Mit acht weiteren Menschen sitzt Sezen um ein Holzfeuer und knackt Sonnenblumenkerne zwischen den Zähnen. Die Schalen wirft sie in die Flammen, die in einem abgeschnittenen Metallfass lodern. Hinter ihr steht ein Zelt, eines von 260 in diesem provisorischen Lager in der südosttürkischen Stadt Adana.

Ihr Leben, wie Sezen und ihr Mann es kannten, endet, als sie am 6. Februar kurz nach 4 Uhr morgens vom Beben der Erde – 7,8 auf der Richterskala – geweckt werden. Die beiden warten, bis der neunstöckige Wohnblock, in dem sie leben, aufhört zu wackeln, dann laufen sie nach draußen. Nach einem langen Gespräch mit den ebenfalls aus ihren Wohnungen geeilten Nachbarn kehren sie in ihr Zuhause zurück. Als das Gebäude gegen halb 2 Uhr nachmittags erneut zu beben beginnt, rennen sie die Treppen hinunter ins Freie – diesmal, ohne zu zögern.

Als sie unten ankommen, hören sie, wie ein 14-stöckiges Gebäude, weniger als hundert Meter von ihnen entfernt, zusammenbricht. Es stürzt mit solcher Wucht in sich zusammen, dass Teile der Mauer über die Straße fliegen und die Wand eines gegenüberliegenden Parkplatzes einreißen. Zehn Menschen sollen in dem Gebäude ums Leben gekommen sein. Wie Sezen und ihr Mann hatten sie geglaubt, nach dem ersten Beben wieder sicher in ihre Wohnungen zurückkehren zu können.

Die beiden leben seitdem in einem Zelt. Inspektoren haben zwar ihr Gebäude überprüft und festgestellt, dass die Risse im Mauerwerk nur oberflächlich sind. Es wurde als „leicht beschädigt“ eingestuft, es soll also sicher sein. Die Bewohner dürften eigentlich wieder darin leben. Sezen besucht ihr Zuhause, um Wäsche zu waschen und zu putzen. Lange bleiben will sie aber nicht. „Ich habe Angst“, sagt sie. 20 Tage wollen sie so ausharren, bis sie dem Gebäude wieder glauben vertrauen zu können.

Knapp zwei Wochen nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet sind die Rettungseinsätze in nahezu allen betroffenen Provinzen der Türkei eingestellt worden. Lediglich in rund 40 Gebäuden in den Provinzen Kahramanmaraş und Hatay laufe die Suche nach Überlebenden weiter, sagte der Chef des türkischen Katastrophenschutzes am Sonntag.

Durch das Beben am 6. Februar wurden mehr als 105.000 Gebäude allein in der Türkei beschädigt, mehr als 20.000 stürzten ein. In Syrien und der Türkei starben mindestens 44.000 Menschen. (dpa)

25.000 Gebäude wurden bei dem Beben zerstört

Der türkische Umweltminister Murat Kurum hat an die Bürgerinnen und Bürger appelliert, nach Hause zurückzukehren, wenn von den Inspektoren festgestellt wurde, dass ihre Wohngebäude „wenig oder gar nicht beschädigt“ sind

Die meisten Häuser, die in Adana eingestürzt sind, befinden sich im Norden der Stadt. Direkt darunter verläuft die Verwerfungslinie. Wer nachts den Turgut Özal Bulvarı entlangfährt, eine breite Straße, die sich durch den Norden Adanas zieht, sieht: In den Hunderten von Wohnblöcken in diesem Teil der Stadt sind nur wenige Lichter an, viele Gebäude bleiben völlig dunkel. Die Bewohner trauen ihnen nicht. Und auch den Inspektoren trauen sie nicht.

Dass bei dem Beben etwa 25.000 Gebäude zerstört wurden, zeigt den Bewohnern: Entweder haben die Inspektoren schon vor dem Beben ihre Arbeit nicht gemacht, oder die Inspektionsstandards sind zu niedrig.

Das mangelnde Vertrauen in das Inspektionssystem bestätigt Gamze, eine von Sezens Nachbarinnen und Nachbarn im Zeltlager. Wie Sezen möchte auch sie ihren Nachnamen nicht veröffentlich sehen, die beiden fürchten Repressalien der türkischen Regierung. Inspektoren hätten ihren Wohnblock eine Woche nach den Beben überprüft und für sicher befunden. Sie fügt hinzu: „Selbst wenn die Inspektoren gleich am Tag nach den Beben gekommen wären, wären wir nicht in unsere Wohnung zurückgekehrt. Wir hatten Angst vor einem dritten oder vierten Beben.“

Wer es sich leisten kann, geht weg

Wer die Straßen im türkischen Teil des Erdbebengebiets, das neben der Osttürkei auch Teile Syriens umfasst, entlangfährt, sieht immer wieder Lastwagen mit offenen Laderäumen, darin Matratzen, Waschmaschinen, Kommoden, Koffer. „Sie fahren in ihre yazlıks“, sagt ein Mann aus Adana. Gemeint sind die Sommerhäuser, die einige Türkinnen und Türken in den Küstenstädten am Mittelmeer besitzen.

Nach Angaben der Regierung haben mehr als zwei Millionen Menschen das Katastrophengebiet, in dem vor dem Beben 13,5 Millionen Menschen lebten, verlassen. Viele können es sich aber nicht leisten wegzugehen, ins Ausland oder andere Teile der Türkei – insbesondere die, die auf dem Land leben und Vieh halten.

In Beyoğlu, einer Kleinstadt mit 13.000 Einwohnern in der Provinz Kahramanmaraş, sind die Straßen rissig, die Ampeln funktionierten nicht. In Beyoğlu gibt es keine hohen Wohnblöcke, es reiht sich Haus an Haus. Etwa jedes dritte ist eingestürzt oder so stark beschädigt, dass es kaum sicher sein kann, darin zu leben. Die Menschen campieren in ihren Gärten zusammen mit ihren Hühnern und gelegentlich einer Kuh. Ein örtlicher Vorsteher zählt die Probleme der Bewohner Beyoğlus auf: kein Strom, kein fließendes Wasser, zu wenige Zelte und Hygieneartikel.

Viele Wohn­blöcke in Adana bleiben nachts völlig dunkel

Eine Familie, die bisher im Freien geschlafen hat – zwei Mitglieder in der Kabine eines Lastwagens, drei unter einem Dach aus Plastikplanen –, baut ein Zelt auf. Zur Verfügung gestellt hat es eine benachbarte Gemeinde. Auf einem Holzherd kochen sie. Wer auf die Toilette muss, macht sich auf zur Moschee, die einen Wassertank besitzt. Ihre Handys lädt die Familie an einer Tankstelle, die über einen Stromgenerator verfügt.

„Wir finden jeden Tag mehr Leichen“

Ali Karaçay, ein Bewohner der Stadt, erzählt: Beyoğlu fühle sich von der staatlichen Katastrophenschutzbehörde Afad übersehen. Die habe zwar einige Zelte zur Verfügung gestellt, aber nicht genug. Die Decken und Wasserflaschen, die sich im Garten hinter ihm stapeln, stammen von Stadtverwaltungen in anderen Teilen der Türkei, die Lastwagen mit Hilfsgütern in das Katastrophengebiet schicken.

Die Lastwagen sind Teil des derzeitigen Straßenbilds von Beyoğlu. Unter ihren Windschutzscheiben hängen Banner, die angeben, woher die Lieferungen stammen: Mardin, Samsun, Tokat, Trabzon – Städte, die Hunderte Kilometer von Beyoğlu entfernt liegen.

Die Erdbeben hätten hier mehr als hundert Menschen das Leben gekostet, schätzt Karaçay. Ein Vorsteher der Stadt, ­Ejder Oğul, will keine Zahlen nennen, sagt aber: „Wir finden jeden Tag mehr Leichen.“ Tote geborgen und Überlebende gerettet hätten die Einwohner, nicht die Afad, sagt Karaçay.

Auch fast zwei Wochen nach dem Beben gibt es in Beyoğlu noch kein fließendes Wasser. Sich und ihr Geschirr waschen die Menschen mit abgefülltem Wasser aus Flaschen. Die Stromversorgung ist zwar in etwa 80 Prozent der Stadt wiederhergestellt, doch die provisorischen Behausungen müssen erst mal daran angebunden werden. Das Hauptproblem sei derzeit aber, die Zelte zu beheizen, sagt Karaçay. Die Temperaturen fallen nachts auf bis zu 3 Grad, den Menschen fehlt es an Öfen.

Keine Lust auf Plattitüden

Etwa 175 Kilometer östlich von Beyoğlu liegt Adıyaman, eine Stadt mit etwa 270.000 Einwohnern. Sie erlangt am 14. Februar landesweite Bekanntheit, als eine Reporterin von Habertürk TV, einem regierungsnahen Sender, vor einem eingestürzten Gebäude eine Livesendung beginnt. Eine Frau in Sanitäterinnenuniform geht darin auf die Reporterin zu, zieht deren Mikrofon zu sich und ruft in die Kamera: „Sie haben Adıyaman drei Tage lang seinem Schicksal überlassen. Wir hörten Menschen unter den Trümmern um Hilfe rufen. Wir hielten uns die Ohren zu, um sie nicht zu hören. Alle kamen drei Tage zu spät. Die Menschen unter den Trümmern starben vor Kälte und Hunger.“

Sie fährt fort: „Der Präsident soll herkommen, wenn er es ertragen kann.“ Die Reporterin versucht sie zu trösten: „Ich kann Sie verstehen.“ Doch die Sanitäterin hat keine Lust auf Plattitüden: „Dieser Schmerz scheint nur unser Schmerz zu sein. Sie haben uns im Stich gelassen.“ Und: „Unter diesen Betonblöcken und Trümmern liegt unser Blut und das Blut der ganzen Türkei. Wo ist das Krisenmanagement? Jeder hier ist gestorben. Türkei, wach auf!“

Die Kommentare der Sanitäterin decken sich mit einer Erklärung der zivilgesellschaftlichen Gruppe Feminist Solidarity for Disaster Relief: Die ersten Rettungskräfte, schreibt diese, hätten Adıyaman am Mittwoch, den 8. Februar, also am dritten Tag der Katastrophe erreicht – ein Freiwilligenteam, keines der Katastrophenschutzbehörde Afad. Die Zivilorganisation gibt an, dass die inoffizielle Zahl der Todesopfer in Adıyaman inzwischen höher als 11.000 sei.

Das Onlinemedium Turkey recap zitiert eine Frau am Ort eines eingestürzten Gebäudes in Adıyaman so: „Wir haben drei Tage lang Geräusche aus dem Inneren gehört, aber jetzt sind sie verstummt.“ Viele Einwohner der Stadt glauben, so berichtet Turkey recap, dassmehr Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn sie früher Hilfe und Aufmerksamkeit bekommen hätten.

Aus dem Englischen von Lisa Schneider

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