Erdbeben in der Türkei und Syrien: Mehr als 30.000 Tote

Die Zahl der Toten im türkisch-syrischen Grenzgebiet steigt auf 30.000, die UN rechnen mit weitaus mehr. Die Türkei erlässt 113 Haftbefehle wegen möglicher Baumängel.

Zelte der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad am Samstag in Antakya Foto: dpa

ISTANBUL dpa/epd/rtr/taz | Fast eine Woche nach der Erdbeben-Katastrophe im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist die Zahl der Toten auf mehr als 30.000 gestiegen. Allein in der Türkei liege die Zahl bei 29.605, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Sonntag unter Berufung auf die Katastrophenschutzbehörde Afad. Aus Syrien wurden zuletzt 3.575 Tote gemeldet.

Die Zahl der Todesopfer könnte nach Schätzungen der Vereinten Nationen noch auf 50.000 oder mehr steigen. Der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte dem Sender Sky News am Sonntag im Erdbebengebiet Kahramanmaras, Schätzungen seien schwierig, aber die Zahl der Todesopfer könnte sich „verdoppeln oder mehr“.

Zudem verloren viele Menschen ihr Zuhause: Nach Angaben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan suchten inzwischen mehr als 1,5 Millionen in Zelten, Hotels oder öffentlichen Notunterkünften Schutz. Zudem wurden die Schulferien verlängert, und Universitäten stellen vorerst auf Fernunterricht um – so sollen auch Studentenwohnheime als Unterkunft für Überlebende zur Verfügung gestellt werden.

Der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu hatte die Schulschließungen am Samstag kritisiert. Junge Leute hätten in der Coronapandemie genug gelitten, schrieb er auf Twitter.

Sieben Monate altes Baby lebend geborgen

Sechs Tage nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist ein sieben Monate altes Baby in der Südosttürkei aus den Trümmern gerettet worden. Die Helfer konnten den Jungen in der Provinz Hatay nach 140 Stunden lebend aus den Trümmern bergen, wie der Staatssender TRT berichtete.

Sie hätten das Kind weinen gehört und seien so auf es aufmerksam geworden. Ein 35-Jähriger wurde nach Angaben des Senders in derselben Provinz am Sonntagmorgen nach 149 Stunden unter Trümmern gerettet.

Seuchengefahr wächst

Indes wächst in den betroffenen Regionen in Syrien und der Türkei die Gefahr von Krankheiten. „In den Regionen, wo Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, drohen irgendwann Seuchen“, sagte Thomas Geiner, erdbebenerfahrener Mediziner und Teil des Teams der Katastrophenhelfer vom Verein Navis.

„Die Kunst der nächsten Tage wird es sein, Hilfe dorthin zu bringen, wo sie benötigt wird.“ Bei der Größe der Region sei es aber so gut wie unmöglich, überall die nötige Infrastruktur bereitzustellen. Die betroffenen Gebiete sind flächenmäßig größer als Deutschland.

Durch die vielen ungeborgenen Leichen könne Wasser verunreinigt werden. Vielerorts haben Leute zudem keinen Zugang zu irgendeiner Art von Toiletten. Auch dadurch könnten Keime in das Grundwasser gelangen.

Geiner sagte, die Situation vor Ort erinnere ihn an die in Haiti nach dem Erdbeben 2010. In der Region sehe man alles an Verletzungen, was man sich vorstellen könne. Es brauche alles an möglicher Hilfe. Die Gesundheitsinfrastruktur ist stark beschädigt.

Türkei erlässt 113 Haftbefehle wegen möglichen Baupfuschs

Die Türkei will hart gegen mögliche Baumängel im Erdbebengebiet vorgehen. Bislang seien 131 Verdächtige ausgemacht worden, die für den Einsturz Zehntausender Gebäude verantwortlich sein könnten, sagte Vizepräsident Fuat Oktay am Sonntag. „Gegen 113 von ihnen wurden Haftbefehle erlassen.“ Die Türkei werde nicht ruhen, bis alles auch strafrechtlich geklärt sei. Das Justizministerium habe in den zehn betroffenen Provinzen Untersuchungsbüros eingerichtet. Umweltminister Murat Kurum zufolge sind fast 25.000 Gebäude bei den Erdstößen am Montag eingestürzt oder schwer beschädigt worden.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan sieht sich inzwischen mit immer größerer Wut der Bevölkerung konfrontiert. Viele werfen ihm und den Behörden vor, viel zu langsam und unzureichend auf die Katastrophe reagiert zu haben. Vor allem Fragen nach der Bauweise in dem Erdbebengebiet werden laut. Die Opposition wirft der Regierung vor, Baubestimmungen nicht konsequent erzwungen und Sondersteuern für stabilere Gebäude nach dem letzten großen Erdbeben 1999 verschwendet zu haben. Erdoğan weist die Vorwürfe zurück und bezichtigt die Opposition der Lüge.

Deutschland plant Drei-Monats-Visa

Die Bundesregierung plant Visa-Erleichterungen für Menschen aus Syrien und der Türkei. Familien in Deutschland solle es ermöglicht werden, Angehörige, die vom Erdbeben betroffen sind, vorübergehend bei sich aufzunehmen, wenn sie kein Dach mehr über dem Kopf haben oder medizinische Behandlung brauchen, schrieb Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Samstagabend bei Twitter.

Das Auswärtige Amt und das Bundesinnenministerium hätten eine Task Force gebildet. Ziel sei es, Visaverfahren für Betroffene so unbürokratisch wie möglich zu machen. „Wir haben in der Türkei Personal an Auslandsvertretungen verstärkt und Kapazitäten umgeschichtet“, erklärte Baerbock.

Laut Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sollen die Visa schnell erteilt werden und drei Monate gültig sind. „Es geht um Hilfe in der Not“, sagte sie laut ihrem Ministerium.

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