Hannah Kaviani über den Aufstand in Iran: „Es gibt kein Zurück mehr“

Die Hinrichtungen von Protestierenden haben ihre Wirkung verfehlt, sagt die Journalistin Kaviani. Selbst Religionsgelehrte stellten das Vorgehen infrage.

Studierende mit ausgestreckten Mittelfingern vor einer Tafel

Mittelfinger für das Regime: Schulmädchen in Teheran in einer Aufnahme von Anfang Oktober

taz: Frau Kaviani, anders als bei früheren Aufständen im Iran halten die aktuellen Proteste seit mehr als drei Monaten an. Was ist Ihre Zwischenbilanz?

Hannah Kaviani: Was wir aktuell beobachten, hat es so in den letzten vier Jahrzehnten nicht gegeben. Die Sicht der Gesellschaft auf die Islamische Republik ist erschüttert worden. Es gibt kein Zurück mehr. Gleichzeitig hat die Niederschlagung der Proteste zugenommen, so dass die Protestformen eine neue Gestalt angenommen haben. Die Verhaftung von bis zu 17.000 Demonstrierenden, 400 oder mehr Getötete und zwei Hinrichtungen, all das hat Einfluss auf die Intensität und die Form des Protests.

wuchs im Iran auf. Seit 2008 arbeitet sie bei Radio Farda, dem iranischen Dienst von Radio Free Europe/Radio Liberty. Sie lebt in Prag.

Inwiefern?

Von dem, was ich mitbekomme, würde ich sagen: Die Straßenproteste haben im Vergleich zu den ersten Wochen abgenommen. Nur die Proteste an den Universitäten haben trotz der Niederschlagung zugenommen. Aber dennoch: Der Protest hält an, in Form von Slogans an Hauswänden, Bannern über Straßen und Streiks. Immer mehr Frauen gehen ohne Kopftuch auf die Straße. Dieser Wandel der Protestformen erklärt auch, warum es bei früheren Protesten mehr Tote gab. 2019 hatten wir Hunderte, einigen Zählungen zufolge mehr als 1.000 Tote, in nur zehn Tagen.

Hatten die zwei Hinrichtungen im Dezember einen Einfluss auf die Bewegung?

Die Hinrichtungen sind eine Tragödie, waren aber erwartbar. Die schnelle Vollstreckung der Urteile, während die Proteste noch anhalten, zeigt, dass das Regime Angst verbreiten will. Interessant ist die Reaktion der iranischen Gesellschaft sowie der internationalen Gemeinschaft. Hinrichtungen sind in der Geschichte der Islamischen Republik ja nichts Neues. Als in den 80er Jahren Tausende unter konstruierten Anschuldigungen hingerichtet wurden, habe ich, die ich im Land lebte, erst Jahre später davon erfahren. Heute, in Zeiten der modernen Kommunikationstechnologie, ist die Reaktion direkter und stärker, weshalb momentan auch die Todesstrafe für einen weiteren Demonstranten, Mahan Sedarat, hinausgezögert wird.

Hoffnung Die iranische Justiz hat ein Todesurteil gegen einen Demonstranten aufgehoben. Wie die Justizbehörde am Samstag mitteilte, ordnete der Oberste Gerichtshof an, das Verfahren gegen den 26-Jährigen Sahand Nurmohammed-Sadeh neu aufzurollen. Laut seinem Anwalt war der Mann wegen Teilnahme an Protesten der „Gegnerschaft zu Gott“ (moharebeh) schuldig gesprochen worden – einer Straftat nach islamischem Scharia-Recht, auf die im Iran die Todesstrafe steht. Er ist einer von fast einem Dutzend Iraner, die im Zuge der Proteste zum Tode verurteilt wurden.

Drohung Mindestens hundert Menschen im Land droht die Todesstrafe. Die Menschenrechtsorganisation Iran Human Rights (IHR) erklärte, hundert im Rahmen der Proteste festgenommenen Menschen würden moharebeh und andere Tatbestände zur Last gelegt, die im Iran mit dem Tod bestraft werden können. (afp)

Sie rechnen zunächst nicht mit weiteren Hinrichtungen?

Gut möglich, dass weitere Protestierende hingerichtet werden, viele wurden ja bereits zum Tode verurteilt. Aber die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft sowie von Leuten, die teilweise Teil des Systems sind, machen das Ganze interessant. Die Hinrichtungen sind ein Instrument der Islamischen Republik, das sich aktuell gegen sie selbst richtet.

Von welchem Teil des Systems sprechen Sie?

Die Hinrichtungen haben die Meinungsunterschiede unter den religiösen Gelehrten an den Universitäten verstärkt. Einige fragen jetzt: Wo war der ordentliche Prozess? Wo waren die unabhängigen Anwälte? Diese Debatten stellen eine Herausforderung für die Islamische Republik dar. Nehmen wir als Beispiel den Straftatbestand moharebeh, also Gegnerschaft zu Gott. Die Definition dieses Tatbestands ist sehr unklar. Einige Gelehrte vertreten durchaus die Meinung, dass die hingerichteten Protestierenden nicht Gegner Gottes waren, sondern Gegner des Staates.

Wer zum Beispiel?

Ein sehr prominenter Geistlicher, der sich zu Wort meldete, ist Ajatollah Morteza Moghtadai, ehemaliger Leiter des Obersten Gerichtshofs und offensichtlich kein Mensch, der wie du und ich denkt. Er führt religiöse Argumente an, dass eine Person, selbst wenn sie moharebeh begeht, nicht hingerichtet werden sollte. Auch andere, weniger prominente Geistliche und Religionsgelehrte haben die Hinrichtungen infrage gestellt. An einigen Universitäten gab es Debatten zum Thema. Kürzlich gab ein Professor, der die Hinrichtungen kritisiert hatte, bekannt, dass er unter Druck gesetzt und möglicherweise von der Universität Teheran entlassen werde.

Lässt sich sagen, dass der Widerspruch aus dem religiösen Establishment stärker wird?

Dafür habe ich keine Daten. Auch in der Vergangenheit hat es hochrangige Ajatollahs gegeben, die widersprochen haben. Hossein Ali Montazeri zum Beispiel, der einst Nachfolger Chomeinis werden sollte, hat sich in den 80er Jahren sehr stark gegen die Massenhinrichtungen ausgesprochen. Er wurde unter Hausarrest gestellt und starb. Opposition aus Reihen der Gelehrten gab es von Tag eins der Islamischen Republik an. Aber mit Sicherheit lässt sich sagen, dass mehr solcher Stimmen zu vernehmen sein werden, wenn die grundlose Niederschlagung der Proteste und diese völlig verrückten Hinrichtungen anhalten sollten.

Sie sprachen von den internationalen Reaktionen auf die Hinrichtungen. Wird im Iran registriert, was wir in Europa machen?

Was ich höre, ist, dass es für die Leute sehr wichtig ist, dass ihre Stimmen gehört werden. In Deutschland zum Beispiel übernehmen aktuell viele Parlamentarier Patenschaften für Inhaftierte im Iran. Das mag ein symbolischer Akt sein, aber in der Vergangenheit gab es unzählige Fälle, die diese Unterstützung gebraucht hätten.

Was kann Europa jenseits von Symbolik tun?

Wir sind im vierten Monat der Proteste und das kann noch lange so weitergehen. Das ist kein Thema, das in ein paar Wochen erledigt sein wird. Obwohl die Europäer mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt sind, haben sie sich mit den Iranern solidarisch gezeigt, indem sie die Niederschlagung der Proteste verurteilt und die Namen von Menschenrechtsverletzern auf die Sanktionsliste gesetzt haben. Aber was können sie noch tun? Einige fordern mehr Druck und weniger diplomatische Kontakte, andere argumentieren, dass das iranische Volk am meisten leiden wird, wenn der Kommunikationskanal wegfällt. Vor uns liegt eine sehr komplizierte Zeit, vor allem wenn man an das Atomabkommen und seine unklare Zukunft denkt.

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