Roman „Das Zeitalter der roten Ameisen“: Dieser entsetzliche Hunger

Mit dem Holodomor wollte Stalin die Ukraine aushungern. Die Buchautorin Tanya Pyankova hat beim Schreiben zeitweise selbst auf Nahrung verzichtet.

Schwarz-weiß-Foto von Tanya Pyankova

„Ich fühlte mich schuldig, weil ich etwas zu essen hatte“: Tanya Pyankova Foto: Olga Khazai

Der Hunger, dieser entsetzliche Hunger. Alles würden die Menschen im zentralukrainischen Dorf Matschuchy tun für ein paar Körner, ein kleines bisschen Brot. Dusja, eine der Hauptfiguren des Romans „Das Zeitalter der roten Ameisen“, quält das Jucken ihrer vom Wasser aufgedunsenen Beine, sie hat Bauchkrämpfe, im Kopf kreist immer nur dieses schreckliche Verlangen nach irgend etwas Essbarem: „Der Hunger seufzt, stöhnt, kreischt, weint, sabbert, schreit, summt, bettelt, betet, verlangt, krampft. […] Er krümmt uns, stülpt uns um, spannt uns auf, wringt uns, mahlt uns, macht uns siech, quält uns, bricht uns.“

Der Holodomor ist das Thema des neuen Romans der ukrainischen Schriftstellerin Tanya Pyankova. Als Holodomor bezeichnet man die finsterste Phase der ukrainischen Geschichte im 20. Jahrhundert: In den Jahren 1932 und 1933 verfolgte Stalin gegenüber den ukrainischen Bauern eine Politik der Enteignung und Zwangskollektivierung; ihr Widerstand gegen das Regime sollte gebrochen werden.

Die Folge war eine massive Hungersnot, mehrere Millionen Menschen starben, die Ukraine sollte systematisch ausgehungert werden. Viele Staaten erkennen den Holodomor inzwischen als Genozid an – Deutschland noch nicht. Nun aber liegt dazu ein Resolutionsentwurf von Ampelparteien und CDU/CSU vor, über den am 30. November im Bundestag beraten und beschlossen werden soll.

Was das Hungern bedeutet, was es mit Körpern, mit Psychen, mit menschlichen Gemeinschaften macht, schildert Pyankova so eindrücklich, dass man nach der Lektüre nicht nur anders über den Holodomor denkt, sondern auch über den Wert des Essens an sich. Zur Recherche hat die Schriftstellerin mit Me­di­zi­ne­r:in­nen gesprochen, sie hat selbst zeitweise auf Nahrung verzichtet.

Tanya Pyankova: „Das Zeitalter der roten Ameisen“. Aus dem Ukrainischen von ­Beatrix Kersten. Ecco Verlag, Hamburg 2022, 400 Seiten, 22 Euro

Der Schreibprozess habe sie verändert und ausgelaugt, berichtet sie im Gespräch: „Ich fühlte mich geradezu schuldig, weil ich etwas zu essen hatte und meine Protagonistinnen und Protagonisten hungern mussten. Das führte schließlich dazu, dass ich selbst Essstörungen entwickelte.“ Zudem wuchs ihre Angst, im Krieg könne erneut eine Hungersnot ausbrechen. Sie legte sich Essensvorräte an.

Das Treffen findet am Rande der Frankfurter Buchmesse statt. Sie steht auf dem Außengelände der Messe neben ihrem ukrainischen Verleger Roman Skliarov, der für sie ins Englische dolmetscht. Zahlreiche Tondokumente von Holodomor-Opfern habe sie abgehört, erzählt Pyankova, eine Frau mit langen, rötlich gefärbten Haaren und entschlossenem Blick.

„Es sind viele Aufnahmen von Zeitzeugenberichten im ­Ukrainian Institute of National Memory in Kyjiw und im National Museum of the Holodomor archiviert. Ich saß oft in diesen Instituten und hörte mir an, wie es den Menschen während dieser Zeit ergangen ist.“

Tanya Pyankova war bis dato wenig bekannt in Deutschland, mit diesem sprachgewaltigen Roman dürfte sich dies ändern. Es ist ihr erstes Buch, das auch auf Deutsch erscheint, toll übersetzt von Beatrix Kersten, deren Sprache Sogwirkung entwickelt. Geboren wurde Pyankova 1985 in der Region Iwano-Frankiwsk, in der Ukraine hat sie mehrere Romane und Gedichtbände veröffentlicht, sie ist zudem Literaturagentin und Veranstalterin.

Butscha als literarisches Sujet

Nach Beginn des russischen Angriffskriegs ging sie zunächst im Sommer nach Wien (sie hatte dort eine Residenz), aktuell lebt sie in Krakau. Derzeit arbeitet sie an ihrem nächsten Roman, auf den man gespannt sein darf: Sie will die Ereignisse von Butscha, die Invasion der Russen in die Ukraine nördlich von Kyjiw literarisch verarbeiten.

Wie absurd die Situation für ukrainische Schrift­stel­le­r:in­nen im Moment ist, zeigt sich während des Interviews in Frankfurt: Erst am Morgen des Tages musste ihr Sohn mit ihrer Mutter drei Stunden im Keller ausharren, weil russische Bomben auf die Region Iwano-Frankiwsk niedergingen.

„Das Zeitalter der roten Ameisen“ erzählt vom Holodomor aus unterschiedlichen Perspektiven. Da ist auf der einen Seite die Familie von Dusja, ihrem Bruder Myros und Mutter Hanna, die entkulakisiert worden ist („entkulakisieren“ nannte man die brutalen Enteignungen und Repressionen, Kulaken waren relativ wohlhabende Bauern), Vater Timofej wurde nach Sibirien abtransportiert.

Und da ist auf der anderen Seite die Geschichte von Solja: Solja müsste eigentlich keinen Hunger leiden, denn sie ist die Frau des ortsansässigen Parteivorstehers Ljoscha. Doch aufgrund einer Psychose ist sie esssüchtig, sie kommt in ein Sanatorium, wo sie abnehmen soll. Solja nimmt Ljoscha zunächst alle Lügen der Partei ab (die er selbst auch glaubt), lebt in einer Parallelwelt und erfährt erst gegen Ende, was in Matschuchy vor sich geht. Dritter Protagonist ist Swyryd, Kommunalverwalter der Sowjets, der die Situation zu seinem persönlichen Vorteil ausnutzen will.

Hunger als Akteur

Der Hunger selbst wird zum Akteur bei Pyankova, immer wieder wird er personalisiert („Der Hunger tritt uns in den Staub, dreht uns auf den Bauch und vergewaltigt uns, vergewaltigt uns alle der Reihe nach und fragt ständig: ‚Na, und? Magst du das? Na? Ist das gut! Warum stöhnst du dann nicht? Los, stöhn für mich!‘ “).

Auch die titelgebenden „roten Ameisen“ ziehen sich durch das Werk, sie stehen ­sinnbildlich für den Stalin-­Apparat, der sich die ukrainischen Bauern und das ganze Land einverleiben will: „Die roten Ameisen […] leeren unsere Kammern, unsere Truhen, unsere Taschen, nehmen uns unsere Mutter und Kinder, merzen uns aus, tilgen uns aus dieser Welt.“ Pyankova arbeitet viel mit Reihungen und Aufzählungen, oft entstehen dabei Bewusstseinsströme, die einen ins Innenleben der Figuren ziehen.

Seit dem 24. Februar dieses Jahres sei der Holodomor wieder ein größeres Thema, erzählt Pyankova: „Der Holodomor war nie vergessen in der Ukraine, doch der derzeitige Krieg macht diesen Genozid wieder relevanter. Er erinnert uns daran, dass vor 90 Jahren schon etwas Ähnliches passiert ist. Und die Furcht wächst, dass so etwas wieder passieren kann. Denn auch Putin setzt Hunger als Waffe ein.“

Insgesamt geht man von 6 bis 7 Millionen Todesopfern im Holodomor aus, 3 bis 3,5 ­Millionen Menschen in der Ukraine, etwa 1,7 Millionen in Kasachstan, weitere Hunderttausende im Nordkaukasus, an der Wolga und in Westsibirien. In der Sowjetunion existierte nie eine Erinnerungskultur bezüglich dieses Verbrechens. Gerade löscht Russland die Erinnerung einmal mehr aus: In Mariu­pol bauten russische Truppen vor Kurzem ein Holodomor-Denkmal ab.

Aufarbeitung ist dringend nötig

Tanya Pyankova weiß, dass die Leseerfahrung ihres Buches eine bittere sein kann: „Fast in jeder ukrainischen Familie gab es Holodomor-Schicksale, jede hat ihre eigene Geschichte. Für einige ist es sicher schmerzhaft, darüber zu lesen und zu sprechen.“

Doch die Aufarbeitung sei dringend nötig, gerade jetzt, da sich eine neuerliche Katastrophe ereigne. „Wir müssen unseren Kindern die Wahrheit über diesen Genozid erzählen. Sie müssen wissen, was damals passiert ist. Sie müssen auch wissen, was heute passiert.“

Verantwortung und Schuld sind auch in „Das Zeitalter der roten Ameisen“ gegen Ende die zentralen Themen. Als Solja im Sanatorium gewahr wird, was um sie herum geschieht, und sie sich mit der Mitpatientin Arina unterhält, sagt diese zu ihr: „Wir sind alle verantwortlich. Sogar, dass wir hier jetzt sauber, gesund und im Warmen zusammen süßen Tee trinken, ist ein Verbrechen – ein Verbrechen gegenüber diesen Müttern, deren Kinder jetzt gerade Hungers sterben oder morgen sterben werden.“

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