Rundgang durch Hostomel: Eine Wunde unter vielen

„Das ist die Geschichte, auf der ich stehe“: Ein Spaziergang mit dem ukrainischen Schriftsteller Oleksandr Mykhed durch die zerstörten Vororte Kyjiws.

Aurowracks in Winterlandschaft

Autowracks unweit des Antonow-Flughafens, in dem das ikonische zerstörte Flugzeug „Mriya“ stand Foto: Elisabeth Bauer

KYJIW taz | Falls Explosionen zu hören sind, ist das okay“, sagt Oleksandr Mykhed. „Hier wird das Territorium entmint – wir befinden uns im Begriff der Entrussifizierung.“ Mykhed, der an diesem Wintertag durch seine ehemalige Heimatstadt Hostomel führt, steht am Rande eines Spielplatzes: das Blech von Schaukel, Rutsche und Kinderwippe ist von Witterung gezeichnet, von Einschusslöchern und den Spuren scharfer Raketensplitter übersät.

Bis zur umfassenden russischen Invasion kuratierte der Schriftsteller Ausstellungen und arbeitete als Literaturkritiker, jetzt steht er neben einem meter­großen Einschlagloch, das den gepflasterten Weg des Spielplatzes unterbricht. Dahinter: eine gespenstische Kulisse aus ausgebrannten Häuserresten mit aufgerissenen Fassaden und klaffenden Fensterhöhlen. Skelette, deren Inneres – Trümmer und Fragmente fremder Erinnerungen – gewaltsam nach außen gestülpt zu sein scheint.

Kurz nach der Flucht ins westukrainische Tschernihiw meldete sich Mykhed freiwillig bei der lokalen Territorialverteidigung, aktuell ist er im Raum Kyjiw eingesetzt. Er trägt steingraue Funktionskleidung, Mütze und randlose Brille, unter der seine konzentrierten Augen manchmal blau hervorstechen – während er zu beschreiben versucht, was sprachlich eigentlich nicht fassbar erscheint.

„Dieser Krieg lehrt uns, dass immer noch größerer Schmerz bevorsteht“, notiert er Anfang April in einem auf den Seiten des PEN-Clubs Ukraine veröffentlichten Kriegstagebuch. „Wie viel Trauer kann das menschliche Herz ertragen? – Der Schmerz von Butscha ist wie kein anderer. Er ist ein zerrissenes Stück Fleisch. Aber aus dem Herzen gerissen.“

Jetzt sagt er: „Ich fühle mich – trotz allem – immer noch fähig zu versuchen, angemessene Worte zu finden, um über jene Erfahrungen zu sprechen, die wir in diesen schrecklichen Monaten – und im Laufe des achtjährigen Krieges – in der Ukraine gemacht haben.“

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Gewalt mit allen Mitteln dokumentieren

Die Gräueltaten in Hostomel, Irpin und Butscha betrachtet Mykhed zwar aus persönlicher Perspektive und Betroffenheit – er versucht aber dennoch, wissenschaftliche Distanz zu wahren. In Essays, Vorträgen oder Kriegschroniken teilt er nicht nur seine eigene Verlustgeschichte, sondern dokumentiert auch die Geschichten anderer. Persönliche Geschichten seien für die Dokumentation der Gewalt durch die russischen Besatzer unerlässlich, sagt er. „Wir müssen sie mit allen uns zur Verfügung stehenden Instrumenten dokumentieren.“

Sein persönliches Schicksal sieht so aus: In einem modernen Teil von Hostomel – umgeben von den für diese Gegend typischen Kiefernwäldern – werden Oleksandr Mykhed und seine Frau Olena im Morgengrauen des 24. Februars von Explo­sionsgeräuschen geweckt; um 8 Uhr ziehen, ganz in der Nähe ihres Hauses, mehrere Wellen an Hubschraubern über den Himmel.

„Wir hörten das Dröhnen der Hubschrauber, rochen den Rauch der Explosionen“, erinnert sich Mykhed. Sie entscheiden sich zu fliehen – doch seine Eltern, die im nur zehn Minuten entfernten Butscha wohnen, kann er nicht überzeugen: „Ich habe nicht die richtigen Worte gefunden.“ Vom Fenster aus sehen sie, wie die russischen Truppen Butscha einnehmen: Drei Wochen stehen sie die russische Besatzung durch.

„Butscha ist eine offene Wunde. Eine unter vielen anderen – Mariupol, Isjum, Cherson – aber jene, die am besten dokumentiert und untersucht wurde“, so Mykhed. Deshalb sei es so wichtig, weiter über sie zu sprechen – um ein Verständnis für das Ausmaß der russischen Gräueltaten, ihre Systematik zu bekommen, die in den besetzten Gebieten fortgeführt wird. „Auf persönlicher Ebene wird Butscha immer jener Schatten bleiben, der sich auf meine Familie gelegt hat.“

Der Schriftsteller Mykhed spricht

Mykhed vor Häuserruinen in Hostomel Foto: Tymofii Zagrebelny

Hostomel liegt in Trümmern

Jetzt steht Mykhed vor den Überresten seines Hauses – und versucht zu erklären, warum die russischen Truppen gerade in dieser Gegend zu wüten begannen: „Sie erwarteten, arme Dörfer zu sehen, aber das sind teils reiche Ortschaften und Häuser. Was sie nicht mitnehmen konnten, zerstörten sie.“ Nicht viel mehr als ein verrußter Krater ist von dem Penthouse übrig, in dem er vier Jahre lang mit Frau und Hund ein friedliches Leben führte.

„Alles ist in Blut – alles ist Erinnerung“, sagt der Mann, der sich nicht nur als Autor oder Soldat, sondern ebenso als ehemaliger Anwohner durch jene Topografien russischer Verbrechen bewegt. Wie die Nachbarstadt Irpin wurde auch Hostomel aus der Luft angegriffen und liegt – nach der Befreiung durch die ukrainische Armee Anfang April – zur Hälfte in Trümmern.

Mykhed treibt die Brutalität um, mit der Russland einen Krieg nicht nur gegen das ukrainische Volk, sondern genauso gegen kulturelle Symbole führt. „Die ukrainische Sprache reagierte sofort: Sie erinnert sich an die Ereignisse, beschreibt sie – und schafft so eine neue Grundlage für die Erinnerung“, sagt er.

In der neuen ukrainischen Realität beschäftigt den Autor die Frage, wie der Krieg die Sprache beeinflusst – und immer neue bedeutungsschwere, kämpferische oder subversive Zeichen und Bilder hervorbringt.

„Es ist eine neue Realität mit vielen neuen Symbolen“, hebt er in seiner Online-Vorlesung über „Die Sprache des Krieges“ im Rahmen seiner kürzlich angetretenen virtuellen Residenz an der Fakultät für Sprachen des Mittelalters und der Moderne an der Oxford-University hervor. Diese Veränderungen seien nötig, „um darüber sprechen zu können, was den ukrainischen Menschen tatsächlich passiert – was Russland uns tatsächlich antut“.

Maria als Meme-Ikone

Deutlich hervor tritt die militärische Seite des neuen ukrainischen Alltagsdiskurses: So wurde etwa die Waffe Bayraktar als vereinendes Symbol aktiviert. Genauso St. Javelin: Maria als Beschützerin der Ukraine, ausgestattet mit dem Panzerabwehrsystem Javelin, ist zur Meme-Ikone avanciert. „Eine Waffe, die der Ukraine sehr geholfen hat“, sagt Mykhed.

Die Spendeninitiative unter gleichem Namen habe viel Geld aktivieren können. „Unser Verteidigungsminister trägt sie auf seinem T-Shirt, sie ziert urbane Wandgemälde.“ Auch für die von den russischen Streitkräften aktiv verwendete iranische Luftdrohne Geran 2 (Geranium 2) hat das Ukrainische eigene Namen gefunden: „Scooter“ oder „fliegende Balalaika“ wird sie genannt.

Zu den Überlebensstrategien, die in der ukrainischen Kriegsrealität bereits hervorgetreten sind, gehört auch die Errichtung ikonischer Pyramiden aus aufgehäuften Sandsäcken und Zellophan: Seit Beginn des umfassenden Krieges prägen sie anstelle von Statuen den Stadtplätzen sonderbare, universelle Zeichen auf. Eingepackt wird, was akut bedroht, geehrt wird, was – für immer oder zeitweise – verloren ist.

Sein Schreiben sieht Mykhed im Kontext einer umfassenden Dokumentations- und Erinnerungsarbeit, die auch (aber nicht nur) von Ukrai­ne­r:in­nen geleistet werden sollte. Schließlich müssen sowohl persönliche als auch kollektive Traumata verarbeitet – und die russischen Verbrechen vor ein Tribunal gebracht werden.

„Essays geben mir die Möglichkeit, in einer Kunstform zu sprechen: Das ist wie ein Dokumentarfilm, den man im Kopf eines Lesers zeigen könnte. Andererseits gibt mir das Nonfiction-Genre die Freiheit, nicht nur über Fakten, sondern auch über Gefühle zu sprechen.“

Worte stoßen an Grenzen

Doch oft stelle bereits die Frage „Wie geht es?“ (Jak ty?) eine unüberbrückbare Barriere dar. Mykhed beschreibt, was viele Ukrai­ne­r:in­nen im westeuropäischen Exil derzeit empfinden: „Wenn wir uns im Rahmen sogenannter intellektueller Diskurse befinden, ist es manchmal unmöglich, sich ausdrücken.“ Es liege viel Unausgesprochenes zwischen den Zeilen: unsagbarer Schmerz, Wut, Rachegefühle. Manchmal stießen Worte eben doch an Grenzen.

Tagebücher, Chroniken, Essays, Sachbücher: Das alles seien Instrumente, um die Basis für ein kollektives Gedächtnis zu legen. „Je mehr Beweise wir sammeln, desto größer ist die Hoffnung, dass der Russismus niemals siegen – und das russisch-sowjetische Imperium endgültig auseinanderbrechen wird.“

Es sei ihre tägliche Pflicht, ihr Schicksal, Zeugenschaft abzulegen: „Klar, dass das Jahrzehnte dauern wird.“ Andererseits seien Ukrainer viel interessanter, als nur „Zeugen“ zu sein: „Wir haben eine reiche Geschichte und Kultur, einen großartigen Humor – und verdienen es, auch außerhalb des russisch-ukrainischen Krieges und seines Diskurses im Rampenlicht zu stehen.“

Oleksandr Mykheds letztes Buch, das auf Deutsch den Titel „Dein Blut wird die Kohle tränkenträgt (ibidem Verlag) und den Krieg in der Ostukraine beschreibt, stand 2020 auf der BBC-Longlist für das Buch des Jahres und wurde mit dem Yurii-Shevelov-Preis ausgezeichnet.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.