Über Fußballliebe und Boykott: Katar und die rote Linie

Warum unser Kolumnist erstmals in seinem Leben eine Fußball-WM verpassen wird. Und warum das kein Tugendterror ist.

Bauarbeiter im Lusail-STadion von Katar

Ein Arbeiter im Januar 2019 auf der Baustelle des Lusail-Stadions, eines der Austragungsstätten der WM Foto: Niklas Larsson/imago

Meine erste WM endete mit einem Schreikrampf. Ich war drei Monate alt, als 1982 Deutschland im WM-Halbfinale auf Frankreich traf. Mein Vater, Franzose, sah sich das Spiel zusammen mit meinem Onkel an, der Deutscher ist. Die Stimmung schaukelte sich angesichts des Spielverlaufs etwas hoch, sie sind beide nicht von zurückhaltendem Naturell, und explodierte, als dann Toni Schumacher den durchgebrochenen Patrick Battiston niederstreckte.

Die beiden Herren begannen wild in den Röhrenfernseher hineinzuemotionalisieren, das wiederum erschreckte mich, der ich bis dahin friedlich und vom bisherigen Getöse unbeeindruckt in meinem Bettchen geschlafen hatte, in einer Weise, dass ich mich zu einem Schrei veranlasst sah, der die Weintrauben auf dem Häppchenteller platzen ließ. Bis zum Ende der Partie war ich nicht mehr zu beruhigen, und seither hat es fast kein Fußballspiel mehr gegeben, das mich emotional unangetastet ließ.

So begann das mit dem Fußball und mir, und seither habe ich mit stetig wachsendem Interesse jede WM verfolgt. Und nicht nur verfolgt, sondern auch darüber geschrieben, dadurch Freundschaften geknüpft, Ideen entwickelt, ein ganzes Fußballleben darum gebaut. Natürlich gab es wie in jeder Liebe stürmischere Phasen und Flauten, Augenblicke der heiter-gelassenen Ruhe und des zweifelnden Unwohlseins, aber trotzdem habe ich mich in einer Intensität mit diesem Sport beschäftigt, die den meisten Menschen – vorsichtig gesagt – schrullig vorkommen musste.

Bis jetzt. Diese WM ist die erste seit meiner Geburt, auf die ich vollständig verzichten werde. Mindestens 6.500 Ar­bei­te­r*in­nen sind gestorben auf den Baustellen, schreibt der Guardian. Das sind halb so viele Menschen wie die Stadt, in der ich zur Schule ging. 6.500 Menschen. Ich habe viel auf dem Bau gejobbt, deswegen drängt mir meine Fantasie all die Gefahren auf, die auf schlecht gesicherten Baustellen lauern: vom Gerüst stürzen, von herabfallenden Steinen erschlagen oder von einer defekten Stromleitung zu Tode geschockt werden. 6.500 Tote und eine Regierung, die verhindern will, dass von ihnen erzählt wird.

Es gibt kein Recht darauf, dass allen alles egal ist

Fußball zu gucken war nie ein unschuldiges Vergnügen. Die Bälle und Schuhe, die von Kindern zusammengenäht werden, die Diktaturen und Konzerne, die durch ihr Sponsoring das Unrecht, das sie anrichten, reinzuwaschen versuchen, die Korruption und Tyrannenkumpanei der Fifa, über all das hat man immer schon hinwegsehen müssen. Es gibt viele Texte, die darauf jetzt hinweisen und argumentieren, es sei doppelmoralisch, ausgerechnet bei Katar darauf hinzuweisen.

Zynisch sind diese Texte. Nicht deswegen, weil sie auf die moralischen Verwerfungen vergangener Veranstaltungen hinweisen. Sondern weil in ihnen nicht steht, wo die Linie ist, die zu überschreiten die Ver­fas­se­r*in­nen nicht bereit wären. Und weil sie so tun, als gäbe es durch Texte wie meinen jetzt einen moralischen Druck, sich schlecht zu fühlen, und das sei dann schon so eine Art Tugendterror.

Niemand zwingt sie, an die Toten zu denken oder die gefolterten Gefangenen, an die Menschen, die gequält werden, weil sie nicht heterosexuell oder nicht männlich sind, an die faktische Sklaverei im Land und all dies. Aber es gibt kein Recht darauf, dass alle wegsehen. Es gibt kein Recht darauf, dass allen alles egal ist.

Ich denke nicht, dass alle, die diese WM sehen, moralisch verkommen sind. Es gibt viele Motive, die WM zu verfolgen. Ich teile diese Motive nicht, das ist alles. Meine Linie ist überschritten. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.