Ausstellung „Guter Stoff“ in Lübeck: Vernetzte Gesellschaften

Die Ausstellung „Guter Stoff“ erzählt von der Rolle der Hanse beim weltweiten Handel mit Textilien – und dem, was heute daraus geworden ist.

Zwei Männer betrachten und befühlen im im Europäischenn Hansemuseum Lübeck Stoffproben

Guter Stoff, der sich auch mal anfassen lässt: Im „Zukunftslabor“ der Lübecker Ausstellung Foto: Olaf Malzahn

Stoff umgibt uns, ein Leben lang. Nicht nur als Kleidung, die wir auf der Haut tragen, sondern auch in Gestalt von Heimtextilien und Gebrauchsstoffen: Bettwäsche, Decken und Handtücher, aber auch Teppiche oder Vorhänge.

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das in diesem Sinne Stoffe herstellt. Sie sind aus unserem Alltag nicht wegzudenken, wahrscheinlich gibt es deshalb gerade gleich zwei dem Stoff gewidmete Ausstellungen – in zwei Hansestädten.

„100% Baumwolle“ erzählt im Bremer Überseemuseum die Kulturgeschichte dieser Pflanze, zeigt Baumwolle als Motor der Sklaverei auf den Plantagen wie als Treiber der Industrialisierung. Das Europäische Hansemuseum in Lübeck spannt mit der Ausstellung „Guter Stoff“ derweil einen weiten Bogen von der Konsumrevolution des Mittelalters bis zur heutigen Textilindustrie. Da sie auf die Hansezeit konzentriert ist, bleibt der Baumwollhandel ausgeblendet – beide Ausstellungen ergänzen einander insofern aufs beste.

„Guter Stoff“ in Lübeck wirbt mit witzig montierten Foto-Motiven und auch die Kuratorinnen Franziska Evers und Angela Huang arbeiten gerne mit erhellend-irritierenden Kontrasten. So können Be­su­che­r:in­nen beim Reinkommen Fäden aus farbigen Garnspulen miteinander verknüpfen: „Guter Stoff“ will auch bewusst machen, wie sehr Textilien als wichtige Alltagsprodukte Gesellschaften vernetzen.

Guter Stoff. Textile Welten von der Hansezeit bis heute: bis 23. 4. 2023, Lübeck, Hansemuseum

Huang hat selbst über „Textilien des Hanseraums als spätmittelalterliche Fernhandelsware“ promoviert. „Guter Stoff“ nun spiegelt Aspekte ihrer Forschungen und verwebt sie mit aktuellen Debatten: über nachhaltigen Konsum und die rasch wechselnden Takte der Fast und Ultrafast Fashion. So sind die Räume „bekleidet“ mit bedruckten Textilbahnen aus recycelten PET-Flaschen, die nach Ausstellungsende weiterverwendet werden sollen.

Das kostbarste Exponat ist eine Kindertunika aus der Hansezeit in der ersten Station „Konsum + Mode“: fein eingefasst mit Seidenstreifen, die Knöpfe mit Seide überzogen. „Der hansische Handel verbindet textile Produktionsstätten von Flandern bis an die Wolga“, erläutert Angela Huang. Wir sehen: Die Menschen des Mittelalters kleideten sich bunt, zeigten ihren Wohlstand. Zugleich versuchten die Hansestädte, die Zahl besonders aufwendiger Kleidungsstücke und kostbarer Stoffe zu begrenzen.

Stoff ist für uns so selbstverständlich, dass wir meist nicht wissen, woher er kommt und wie er entstanden ist. Die zweite Station „Produktion“ veranschaulicht, dass jedes Stück Stoff zahlreiche Arbeitsschritte durchläuft. Schade, dass in diesem Teil der Ausstellung zwar zwei Webstühle stehen, aber Spindeln, Spinnräder oder Garnwinden fehlen. Dabei gab es gleich im benachbarten Burgtor noch bis 2016 eine bekannte Weberei. Womöglich weben die Be­su­che­r:in­nen im Workshop „Vom Schaf bis zum Hemd“ selbst ein Stück „guten Stoff“?

Kleidung wird zur Mode, Stoff schafft Wohlstand und führt zu gesteigertem Konsum. Textilien sind die vom Wert her führende Handelsware im Mittelalter, besonders bedeutsam ist die Herstellung von Wolltuch und damit der Tuchhandel. Neben Textil-Funden zeigt die „Handel“-Station dann auch Tuchsiegel aus ganz Nordeuropa. Das digital animierte „lebendige Buch“ steht dabei im Zentrum: Es zeigt die Verkehrsströme im nordwesteuropäischen Raum und die komplexen Handelsbeziehungen von Brügge, London, Bergen über Lübeck bis Nowgorod.

Wie Menschen zur Hansezeit Textilien nutzten und heute damit umgehen, thematisiert die vierte Station „Nachhaltigkeit“: Auf wessen Kosten wird Stoff produziert? Welchen Einfluss hatte die Hanse auf den Textilhandel – und wer hat ihn heute? Den erhaltenden Umgang mit Stoff belegen einige Exponate aus Privatbesitz: das Kinderkleid von 1929, das erst zur Bluse und dann zum Taufkleid umgearbeitet und 70 Jahre nach dem Kauf noch getragen wird, oder den gut erhaltenen Mantel, der 1945 aus einem Kaschmirplaid gearbeitet wurde – wer sich damals etwas schneidern lassen wollte, musste den Stoff selbst mitbringen.

Konsum und Verschwendung

Das „Zukunftslabor“, die fünfte und letzte Station, interessiert sich für die Frage, was überhaupt „guter Stoff“ ist, was seine Qualität ausmacht. Touchscreens machen begreiflich, dass wir entscheiden können: wie hoch unser Textilienbedarf ist, ob wir fair produzierte Kleidung zu kaufen und die Wegwerfgesellschaft zu begrenzen bereit sind. Textilien sind beides, Objekte des Konsums wie der Verschwendung. Allein 95 Kleidungsstücke besitzt je­de:r Deutsche. 90 Prozent unserer Kleidung werden importiert.

Guter Stoff ist gut verarbeitet, fühlt sich gut an, lässt sich gut tragen, schützt und „umhüllt jedes Glied, ohne es zu zwängen, und die reichlichen Falten des Stoffes wiederholten, wie ein tausendfaches Echo, die reizenden Bewegungen“, schreibt Goethe in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Material, Zuschnitt und Farbwahl verraten, wie wir uns sehen und gesehen werden wollen.

„Guter Stoff“ informiert und sensibilisiert über Stoffe, erzählt in fünf Stationen von deren Produktion, Handel und Konsum. Wer den Stellenwert der Stoffe für die mittelalterliche Gesellschaft erfasst, schaut neu auf den gegenwärtigen Umgang mit Stoff. Vielleicht ja zum Guten.

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