Suizidprävention in Deutschland: Dringender Nachholbedarf

Während über Suizidhilfe heftig debattiert wird, findet der Ruf nach mehr Suizidprävention kaum Gehör. Verbände fordern gesetzliche Regelungen.

Weihnachtsbaum auf einem Hocker

Einsamkeit, gerade zur Weihnachtszeit, ist vor allem für ältere Menschen belastend Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

HAMBURG taz | Alle Jahre wieder veröffentlicht das Statistische Bundesamt eine traurige Bilanz – Zahlen zu gemeldeten Selbsttötungen. 2020 nahmen sich 9.206 Menschen in Deutschland das Leben, 2019 wurden 9.041 Suizide registriert; die Statistik für 2021 wird in den nächsten Wochen folgen.

Jährlich über 9.000 Suizide hierzulande seien „mehr Todesfälle als durch Verkehrsunfälle, Mord und illegale Drogen zusammen“, erklärte Birgit Wagner, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie in Berlin, anlässlich des Welttages der Suizidprävention am 10. September. Wagner gehört zum Leitungsteam des Nationalen Suizidpräventionsprogramms (NaSPro), das 2002 auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) ins Leben gerufen worden war.

„Wissenschaftler*innen gehen davon aus“, schreibt die DGS auf ihrer Webseite www.suizidprophylaxe.de, „dass sehr viele Menschen, die durch einen Suizid sterben, zu diesem Zeitpunkt an einer psychischen Erkrankung litten“. Allerdings sei Suizidalität ein komplexes Phänomen, für das es nicht nur eine einzige Ursache gebe. Auch Faktoren wie Lebenskrisen oder körperliche Erkrankungen könnten dazu führen, dass Menschen erwägen, ihr Leben zu beenden.

Die DGS benennt „typische Warnsignale“, die darauf hindeuten können, dass es Menschen nicht gut geht und sie womöglich Suizidgedanken entwickeln – zum Beispiel: sozialer Rückzug, Vernachlässigung von Ernährung und Körperpflege, Schenkungen und Testamentabfassungen, auch direktes oder indirektes Ansprechen von Suizidgedanken.

„Risikofaktoren für die Entstehung suizidalen Verhaltens“ seien neben psychischen Erkrankungen und körperlichen Leiden wie chronischen Schmerzen auch „stark belastende Lebensereignisse“, etwa Trennungen und Jobverlust, ebenso Umzüge und Flucht. Auffällig ist zudem, dass rund 75 Prozent der Menschen, die sich 2020 hierzulande selbst töteten, männlich waren; das durchschnittliche Alter der Sui­zi­den­t*in­nen lag laut offizieller Statistik bei 58,5 Jahren (Männer) und 59,3 Jahren (Frauen).

Das Eckpunktepapier

Unter dem Motto „Aktiv werden und Hoffnung schaffen“ machen sich NaSPro und DGS für eine „gesetzliche Verankerung der Suizidprävention“ stark. Gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und dem Deutschen Hospiz- und Palliativverband (DHPV) haben sie ein Eckpunktepapier (pdf) entwickelt, dessen Forderungen rund 40 Verbände, Fachgesellschaften und Institutionen unterstützen, von A wie Angehörige um Suizid e. V. (Selbsthilfeorganisation AGUS) über B wie Bundesärztekammer (BÄK) bis Z wie Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP).

Das an die Par­la­men­ta­rie­r*in­nen des Bundestages adressierte Papier betont, Suizidprävention sei eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe in verschiedenen Bereichen wie Schule, Ausbildung, Arbeitsplatz, Medien, Familien“. Notwendig sei eine „auskömmliche Finanzierung“ aller suizidpräventiven Strukturen. Eingerichtet werden müsse eine bundesweite Informations- und Koordinationsstelle, die Beratungen anbiete und auch alle Hilfsangebote zur Suizidprävention in Deutschland verzeichne; zudem sei es geboten, regionale Netzwerke zu finanzieren.

Ein rechtlicher Anspruch auf kostenfreie Beratung für Menschen, die Suizidgedanken haben, müsse garantiert werden – auch wenn Betroffene keine medizinische Diagnose vorweisen könnten. Notwendig seien außerdem Angebote für Angehörige von suizidalen Menschen und für Hinterbliebene nach Selbsttötung eines Angehörigen.

Wichtig sei, Suizidalität und Suizidprävention als „Pflichtthema“ in Aus-, Fort- und Weiterbildung im Sozial- und Gesundheitswesen zu verankern; wissenschaftliche Forschung zur Thematik müsse gefördert und die Finanzierung des nationalen Suizidpräventionsprogramms sichergestellt werden.

Ein Gesetz zur Suizidprävention müsse „noch vor einer gesetzlichen Regelung zur Beihilfe zum Suizid verabschiedet werden“, forderte bereits im Juni die DGS-Vorsitzende Ute Lewitzka, Fachärztin für Psychi­atrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Dresden; ähnlich äußerte sich auch Professor Winfried Hardinghaus, Palliativmediziner in Berlin und Vorsitzender des DHPV.

Auch im Bundestag wird bald über Suizidprävention geredet

Das Thema Selbsttötungen wird bald wieder auf der Agenda des Bundestages stehen, am 28. November veranstaltet der Rechtsausschuss eine 5-stündige öffentliche Anhörung mit Ex­per­t*in­nen und Ver­tre­te­r*in­nen von Verbänden. Im Fokus stehen drei konkurrierende Gesetzentwürfe, die professionelle Hilfe zur Selbsttötung regeln und legitimieren wollen – vorausgesetzt, es werden definierte Bedingungen und Prozeduren eingehalten, zum Beispiel der Nachweis bestimmter fachärztlicher Untersuchungen und Beratungsgespräche für Menschen, die Suizidhilfe in Anspruch nehmen wollen.

Ein Gesetzentwurf, der Suizidprävention regeln und ausbauen will, liegt im Parlament hingegen noch immer nicht vor. Es gibt aber einen Antrag, der Forderungen der Fachgesellschaften berücksichtigt und in der öffentlichen Anhörung ebenfalls erörtert wird. Das fraktionsübergreifende Papier (pdf-Datei), federführend eingebracht von Lars Castellucci (SPD), Ansgar Heveling (CDU) und Kirsten Kappert-Gonther (Grüne), fordert die rot-grün-gelbe Bundesregierung auf, einen „Gesetzentwurf zur Stärkung der Suizidprävention“ vorzulegen.

Unter anderem soll laut Antrag von Castellucci und Kol­le­g*in­nen ein bundesweiter „Suizidpräventionsdienst“ mit geschultem Personal aufgebaut werden, den Menschen mit Suizidgedanken und ihre Angehörigen kontaktieren können – und zwar „rund um die Uhr online und unter einer bundeseinheitlichen Telefonnummer“.

Das gewünschte Gesetz soll den „Schwerpunkt auf die Förderung der seelischen Gesundheit in den Alltagswelten“ legen und „Angebote zur Bewältigung beruflicher oder familiärer Krisen“ fördern. Beratungs- und Unterstützungsangebote müssten ausgebaut werden, wozu auch die „Möglichkeit der aufsuchenden Psychotherapie in Alten- und Pflegeheimen“ gehöre, heißt es in dem Antrag. Der Zugang zu Suizidmitteln sei hingegen „zu reduzieren und mit geeigneten Schutzkonzepten zu versehen“, notwendig sei es auch, Empfehlungen für „suizidpräventive bauliche Maßnahmen beispielsweise an Brücken oder auf Hochhäusern“ zu entwickeln.

Die An­trag­stel­le­r*in­nen weisen darauf hin, dass nicht jeder Suizidgedanke als Krankheitssymptom definiert werden könne, sondern hier auch gesellschaftliche und psychosoziale Faktoren „eine wesentliche Rolle“ spielen. Wer Suizidalität vorbeugen wolle, müsse die Lebensbedingungen verbessern – auch „durch Armutsbekämpfung und durch soziale Unterstützung sowie durch Maßnahmen gegen Vereinsamung“.

Mit Blick auf die geplante Regulierung von Hilfen zur Selbsttötung betont der Antrag: „Der assistierte Suizid darf nicht als Ausgleich anderer Versorgungsdefizite dienen. Diesen Effekt gilt es zu verhindern.“ Angesprochen wird in der Antragsbegründung auch, dass „Staaten, in denen Suizidassistenz seit Jahren durchgeführt wird“, namentlich die Schweiz, die Niederlande und Belgien, höhere Suizidraten aufweisen würden als Deutschland. Zur heiklen Frage, ob und wie Menschen durch Suizidhilfe-Angebote angesprochen und beeinflusst werden, bestehe „weiterer Forschungsbedarf“.

Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222) oder www.telefonseelsorge.de besuchen.

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