Stochastische Schönheit

Komponieren als konstruierte Wucht: Das Musikfest Berlin feiert den Avantgardepionier Iannis Xenakis, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag begangen hätte, mit mehreren Konzerten

Gezeichnet vom Widerstandskampf im Zweiten Weltkrieg: der griechische Komponist Iannis Xenakis Foto: Philippe Gras/imago

Von Tim Caspar Boehme

Er ist ein großer Solitär des 20. Jahrhunderts. Der griechische Komponist Iannis Xenakis, 1922 in Rumänien geboren und 2001 in Frankreich gestorben, hat sich einen Namen in der Nachkriegsmoderne gemacht, ohne einer der damals vorherrschenden Schulen anzugehören. Er gab vielmehr selbst Impulse für spätere musikalische Entwicklungen. Das Musikfest Berlin feiert ihn in seiner aktuellen Ausgabe seit Sonntag mit einem eigenen Schwerpunkt.

Xenakis, ein studierter Ingenieur, kämpfte im Zweiten Weltkrieg gegen die Nazis und wurde so schwer im Gesicht verletzt, dass er auf einem Auge blind war und eine heftige Narbe davontrug. Nach dem Krieg emigrierte er nach Paris. Bevor Xenakis mit musikalischen Konstruktionen bekannt wurde, entwarf er als Assistent des Architekten Le Corbusier verschiedene Bauten, darunter den Philips-Pavillon der Brüsseler Weltausstellung 1958.

Seine musikalische Ausbildung begann er parallel, studierte unter anderem beim französischen Komponisten Olivier Messiaen. Dieser war ein Pionier der seriellen Musik, die den Reihengedanken der Zwölftonmusik Arnold Schönbergs aufgriff und auf weitere Parameter ausdehnte. Mit dem Verfahren wurden so Tonhöhe, -dauer oder die Lautstärke neu organisiert, was dem Komponieren zusätzliche Möglichkeiten eröffnen sollte.

Xenakis war ein früher Kritiker dieser Strömung, die ihm zu limitiert erschien. Mit naturwissenschaftlich scharfem Blick dachte er die Töne vielmehr als Kontinuum des Frequenzspektrums, die nicht auf die zwölf üblichen Intervalle beschränkt zu sein brauchen. Auch ließ er sich von der mathematischen Stochastik inspirieren, um eigene kompositorische Ansätze zu erkunden. Sehr zum Missfallen von Großteilen der „etablierten“ Avantgarde, die den eigensinnigen Außenseiter zunächst ausgrenzte.

Man kann Xenakis, wie der Moderne insgesamt, vielleicht vorwerfen, dass seine Musik es durch die Emanzipation der Dissonanz an Wohlklang vermissen lasse. Was man Xenakis jedoch nicht vorhalten kann, ist, dass seine Kompositionen nach nüchternem Zahlenwerk klingen. Musik verlangt, ob improvisierter Jazz oder strenge Vielstimmigkeit, stets nach einer rationalen Organisation, und Xenakis entfaltet in seinen Werken ausgerechnet mit avancierten mathematischen Verfahren eine Wucht, die man als entregelt erleben kann.

Einen Vorgeschmack auf diese gebündelte Kraft gab es am Sonntag im Kammermusiksaal beim Konzert mit dem Ensemblekollektiv Berlin unter der Leitung des Komponisten Enno Poppe. Da erklang Xenakis’ „Jalons“ für 15 Instrumente. Elementare Klangflächen reiben darin schroff aneinander, Glissandi reißen an den Tönen, wandern durch die verschiedenen Instrumentengruppen. Eine geballte Viertelstunde beherrschen diese „Pflöcke“, so die Übersetzung des Titels, den Luftraum.

Neben Xenakis war mit der Italienerin Clara Iannotta eine jüngere Kollegin im Programm, die mit anderen Mitteln, aber ähnlich unmittelbar zu Werke geht. In ihrem „a stir among the stars, a making way“ lassen sich die einzelnen Instrumente kaum mehr zuordnen, amalgamieren zu einer fremdartig schillernden, sich permanent wandelnden Fläche. Weniger klang-, dafür umso mehr rhythmusbetont die Australierin Liza Lim, deren „Machine for Contacting the Dead“, das seine deutsche Erstaufführung erfuhr, dazu den ergänzenden Gegenpol bildete.

Xenakis entfaltet eine Wucht, die wie entregelt wirkt

Ganz anders das massive Orchester von „Aïs“ nach Texten von Homer und Sappho, das das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Vladimir Jurowski am Dienstag stemmte. Prasselndes Schlagzeug, vorn eigens als Solist Dirk Rothbrust, den entscheidenden Part hat allerdings der Bariton Georg Nigl, der von höchstem Falsett bis in tiefstes Bassknarren extreme Lagenwechsel absolviert. Von den Worten ist nichts zu verstehen, Nigls Schreien, durchsetzt von „Indianerrufen“, teilt sich gleichwohl mühelos jenseits der Bedeutung mit.

Den Kammermusiker Xenakis kann man noch einmal heute im Kammermusiksaal erleben, wenn das JACK Quartet seine Komposition „Tetras“ spielt, wieder kombiniert mit einem Werk von Liza Lim, den „String Crea­tures“. Den geräuschhaften Ansatz repräsentiert an dem Abend der deutsche Komponist Helmut Lachenmann.

Für den vollen Orchesterklang hingegen bietet sich, ebenfalls heute, die Möglichkeit mit den Berliner Philharmonikern und ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko. Diese führen Xenakis’ Orchesterstück „Empreintes“ auf, in guter Gesellschaft von Bernd Alois Zimmermanns „Sinfonie in einem Satz“ und der konzertant aufgeführten Oper „Il prigionero“ des Italieners Luigi Dallapiccola.

Man muss übrigens nicht zwischen den beiden Konzerten wählen, da die Berliner Philharmoniker ihr Programm noch einmal am Freitag und Sonnabend spielen. Und am Sonntag gibt es mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter Robin Ticciati dann etwas völlig anderes: den New Yorker Reduktionisten Morton Feldman, Igor Strawinskys Violinkonzert und eine Tondichtung von Jean Sibelius.

Musikfest Berlin, bis 19. 9., Philharmonie u.a., www.berlinerfestspiele.de