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DasFahrradstetsvoran

Christian Ströbele hat nie in der taz gearbeitet, aber ohne ihn gäbe es die Zeitung nicht (mehr). Er wird dort unvergessen bleiben. Acht Nachrufe, die von Herzen kommen

Der Herzliche

„Der Hund hat schöne Augen“, sagte Christian Ströbele zu einem Punk an der Markthalle in Kreuzberg. Seine Bemerkung mitten im Trubel des Straßenwahlkampfs hat mich beeindruckt. Sie kam von Herzen, war nicht anbiedernd, sondern ehrlich.

Mit diesem Blick für andere begegnete er nach seinem ersten gewonnenen Direktmandat 2002 allen, die ihn unterstützt hatten. In der Dankesfeier bedankte er sich namentlich bei seinen Hel­fe­r*in­nen mit einer roten Rose. Das könnte auch die bildmächtige Idee eines Marketingexperten sein. Aber Christian kannte alle mit Namen – vom Parteimitglied bis zu den Plakatekleber*innen. Es waren bestimmt hundert Leute! Das war für uns, die gesehen wurden, sehr anrührend und sicher die Grundlage seines Erfolges.

Christian war ein früher und loyaler Weggefährte der taz. Nach der erkämpften Genossenschaftsgründung war er der Garant, dass es keine verhärteten Fronten geben würde und dass der Aufbau der Genossenschaft trotz aller Fights im Vorfeld funktionieren konnte. Er hat uns alle beieinandergehalten, das hat mich schwer beeindruckt und mir auch Mut gemacht, dass wir das überhaupt schaffen können.

Er selbst hat oft im Wind gestanden und ist nicht umgefallen, das nötigte mir immer Respekt ab. Wie er in aussichtslosen Situationen nicht starrsinnig an etwas festhielt, sondern sich daranmachte, trotzdem Dinge möglich zu machen, war im Wortsinne für mich vorbildhaft. Bei der Gründung der taz Panter Stiftung im Wirtschaftskrisenjahr 2008 war sein fachlicher Rat für uns existenziell wichtig, aber sein Zuspruch, mutig zu bleiben, für mich noch wichtiger. Ich bin ihm unendlich dankbar, dass ich mit ihm zusammenarbeiten durfte.

Konny Gellenbeck, Vorstand taz Panter Stiftung und langjährige Chefin der taz-Genosssenschaft

Das Idol

Für mich als 27-Jährigen war Christian Ströbele eine dieser Figuren, die größer als das Leben selbst wirken. Genauer gesagt: die von meinen Eltern – und den Eltern meiner Freunde – größer als das Leben selbst gemacht wurde.

Für mich als gebürtigen Berliner, der in Schöneberg aufgewachsen ist und damit nur einen Katzensprung von Ströbeles Wahlbezirk Kreuzberg entfernt, war der weißhaarige Mann mit dem violetten Fahrrad eine Kultfigur. So kam es, dass meine Freunde und ich auf Demos und Kundgebungen zueinander sagten: „Guck mal, da ist der Ströbele“, ohne genau zu wissen, wofür der Mann eigentlich steht. Was wir jedoch wussten: Unsere Eltern finden den gut, hier steht ein echtes Berliner Idol.

Meine Eltern beschreiben Ströbele als „geradlinige Figur“, als „politische und moralische Instanz“ und als jemanden, der „über der Partei und über dem Tagegeschäft“ stand. „Es fehle nun noch mehr an Persönlichkeiten in der Politik, die eine innere Stabilität nach außen tragen“, kommentiert der Freund meiner Mutter Ströbeles Tod. Und: „Ströbele hätte sich vermutlich gegen den Kriegsunterstützungskurs der Grünen ausgesprochen.“

Diese Woche erfuhr ich dann, dass Ströbele nicht nur Idol und politischer Sicherheitsanker in meinem Lebensumfeld war, sondern auch der taz eng verbunden. Meine Kol­le­g:in­nen scheinen sich einig: Ohne Ströbele gäbe es die taz so nicht.

Alles um mich herum summt in einer Mischung aus Respekt, Verehrung und Trauer. Schade, denke ich, dass es zwischen mir und Ströbele stets eines Vermittlers bedurfte. Aber vielleicht ist es beruhigend zu wissen, für all jene, die als Vermittler fungierten, dass euer Anliegen Erfolg hatte. Der Schatten von Ströbele reicht bis in meine Generation.

Enno Schöningh, taz-Redakteur Klimahub

Der Demonstrant

Es war eins dieser ungeschrieben Gesetze in der Berliner Demo­landschaft: Er war einfach immer da, mal mittendrin, meist aber irgendwo am Rand stand Christian Ströbele. Immer mit seinem Fahrrad, das er vor sich herschob.

Er kam keineswegs nur, um sein Gesicht zu zeigen, sondern wurde umgehend zum Akteur, wenn es brenzlig wurde. 2009 zum Beispiel, als rund 10.000 Menschen versuchten, das damals noch gesperrte Flugfeld in Berlin-Tempelhof zu besetzen. Nach einem stundenlangen Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei zog ein trommelnder Clownstrupp am Flughafenzaun vorbei – bis die Polizei die Clowns einkesselte und abtransportierte. Ströbele ging dazwischen, bezeichnete die Polizeiaktion als „völlig unnötige Eskalation“. Die Trommler nähmen eher die Spannung aus Protesten raus, sagte Ströbele. „Wenn es sie nicht gäbe, müsste man sie erfinden.“

Das kann man auch über Ströbele sagen. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, hätte man ihn erfinden müssen. Zum Glück hatte er seine Rolle als Demobeobachter schon Jahrzehnte zuvor erfunden.

Eine ehemalige taz-Kollegin erinnert sich, wie sie mit einem kleinen Demogrüppchen vor einer Absperrung stand. Plötzlich seien Polizisten in Wannen auf sie losgebrettert, um sie einzuschüchtern. Da habe sich Ströbele vor sie gestellt und begonnen zu verhandeln. Weil einige in der Gruppe noch sehr jung waren, durften sie gehen. Ströbele habe sie beeindruckt, weil er so sehr um andere besorgt war. Das war bei der Anti-Rea­gan-Demo, 1987.

Auch außerhalb Berlins war Ströbele stets präsent, wenn Linke auf die Straße gingen. Etwa bei Protesten gegen den G8-Gipfel in Rostock, gegen Castor-Transporte in Gorleben, gegen die Nato-Tagung in Straßburg – um nur ein paar zu nennen.

So wurde der zunehmend weißhaariger aus der Menge leuchtende Ströbele nie der verschrobene Alte, der auch noch mitläuft, sondern das gern gesehene Symbol für die meist deutlich jüngeren Demons­trant:innen: Symbol dafür, dass man aufrecht durchs Leben gehen kann, auch wenn man das klassische Demoalter überschritten hat.

Gereon Asmuth, Ressortleiter taz-Regie

Der tazler

Im Januar 1978 fand in Berlin das Treffen von Tunix statt, eine Zusammenkunft der undogmatischen Linken mit TeilnehmerInnen nicht nur aus Deutschland. „Flüchten oder Standhalten“ hieß es, entweder wir gehen auf eine Insel und machen uns ein schönes Leben oder wir bleiben hier und verändern die Gesellschaft. Zu den utopischen Ideen, die auf diesem Kongress vorgestellt wurden, gehörte auch das Projekt der Gründung einer alternativen linken Tageszeitung.

Ich hatte das Glück, bei dieser Veranstaltung dabei zu sein, und ging wenig später zu einem Treffen der Berliner Tageszeitungsinitiative. In einer Fabriketage in der Neuköllner Hermannstraße saßen einige Dutzend junge Menschen im Stuhlkreis, und die, die schon länger dabei waren, schauten eher skeptisch auf die vielen neuen Gesichter, die nach Tunix hier erschienen. Es ging um die Renovierung des neu angemieteten Ladenbüros in der Charlottenburger Suarezstraße und um Organisationsstrukturen des Vereins „Freunde der alternativen Tageszeitung e. V.“. Christian Ströbele führte Regie bei allen Themen und fiel schon deswegen auf, weil er deutlich älter war als die meist Mitte-zwanzig-Jährigen.

Der taz-Verein, der Träger des Projekts werden sollte, war schon gegründet worden und blieb mehr als ein Jahrzehnt die Basis für Ströbeles Wirken, das ganz wesentlich darin bestand, die basisdemokratische taz-Kultur zu pflegen, Filibuster zu verhindern und darauf zu achten, dass mit dem wenigen Geld, das zur Verfügung stand, immer seriös umgegangen wurde.

Dass ab April 1979 die taz tatsächlich jeden Tag gedruckt wurde, hatten die wenigsten erwartet, und dass sie blieb, schon gar nicht. Mit der täglichen Arbeit in der Redaktion oder im Verlag hatte Christian nichts zu tun. Auf den regelmäßigen Plena in der Wattstraße erschien er oft mit seinem Hirtenhund Bobo und sorgte mit Kuchen und Brötchen für Zusammenhalt und gute Stimmung.

Mehr als ein Jahrzehnt lief die Organisation der taz mit Ströbeles Verein überraschend gut. Die Krise begann nach dem Fall der Mauer. Subventionen wurden gestrichen, Berlin wurde teuer, und der taz-Einheitslohn reichte nicht mehr aus. Zwischen den Mitarbeitenden tobte der Streit über die Zukunft der taz. Die einen hofften auf einen Investor, die anderen wollten eine unabhängige taz erhalten, auch Christian Ströbele. Die Entscheidung fiel auf einer Mitgliederversammlung des Vereins Ende 1991 zugunsten der Übertragung der taz vom Verein an eine Genossenschaft.

Christian Ströbele sorgte dafür, dass ihm wichtige Essentials, wie die Mitbestimmungsrechte der Mitarbeitenden, auch in der Satzung der neuen Genossenschaft verankert wurden. Aus dem selbstverwalteten Projekt taz wurde 1992 ein Unternehmen, dessen Organisationsstrukturen sich in 30 Jahren erfolgreich bewährt haben. Die taz ist eine Produktionsgenossenschaft mit starkem Einfluss der Mitarbeitenden innerhalb einer Konsumgenossenschaft, deren 20.000 Mitglieder das Unternehmen heute mit 20 Millionen Euro Kapital ausgestattet haben und so die wirtschaftliche und publizistische Unabhängigkeit sichern. Wäre eine solche taz-Geschichte ohne ihren Übervater Christian Ströbele möglich gewesen? Sicher nicht!

Karl-Heinz Ruch, langjähriger taz-Geschäftsführer

Der Wächter

Er war der erste Politiker, der den Whistleblower Edward Snowden in Moskau besuchte. Unerschrocken, ein Treffen unter absoluter Geheimhaltung, die Handys zuvor in einem Kühlschrank deponiert, damit der Standort auch wirklich nicht geortet werden konnte. Überwachung, Geheimdienste, staatliche Eingriffe in Bür­ge­r:in­nen­rech­te waren zeit seines Lebens ein großes Thema für Christian Ströbele. Auch auf parlamentarischer Ebene als dienstältestes Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums zur Kontrolle der Nachrichtendienste.

Die Snowden-Reise nahm Fahrt auf, als im Oktober 2013 herauskam, dass die NSA offenbar auch das Handy der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel abgehört hatte. Daraufhin schlug Ströbele vor, den Ex-NSA-Mitarbeiter Snowden als Zeugen nach Deutschland zu laden – vor einen Untersuchungsausschuss. Legendär ist die Pressekonferenz, die Ströbele am Tag nach der Rückkehr aus Moskau gab: Snowden sei bereit auszusagen, das Ganze belegt durch einen Brief des Whistleblowers. Ströbele war stellvertretendes Mitglied des NSA-Untersuchungsausschusses.

Snowden kam nicht. Die Bundesregierung verwehrte ihm Asyl in Deutschland. Aber: Die Un­ter­stüt­ze­r:in­nen­ak­ti­on „Ein Bett für Snowden“ ist auch maßgeblich dem Einsatz Ströbeles zu verdanken. Hunderte Haushalte hatten via Sticker ihre Aufnahmebereitschaft erklärt. Natürlich hatten auch wir einen solchen Aufkleber an unserer Haustür kleben. Distanz zur ­eigenen journalistischen Berichterstattung hin oder her. Wenn es darauf ankommt, ist Haltung gefragt. Insbesondere dann, wenn die politischen Umstände „äußerst dubios“ sind. Auch das ein Zitat Ströbeles.

Tanja Tricarico, Ressortleiterin taz-Inland

Der Anwalt

Ich – 16 Jahre jünger, andere Generation – kannte ihn zunächst nur von ferne als zeitgeschichtliche Figur aus linksradikalen Treffen (Hungerstreiks, Studentenstreiks, Tod von Ulrike Meinhof, Jan Carl Raspe) in den 1970er Jahren. Er spielte bei solchen Treffen stets die Hauptrolle. Das löste bei manchen seiner Berufskollegen Neid aus. Während meines Referendariats bei einem anderen Anwalt 1982 wurde mein Kumpel Benny Härlin verhaftet und von Ströbele und Sebastian Cobler gegen den Vorwurf, eine terroristische Vereinigung unterstützt zu haben, verteidigt.

Ich durfte ein bisschen helfen. Da sah ich ihn aus der professionellen Nähe vor einem Oberlandesgericht agieren und begriff, dass man das lernen muss: schneller sein als die verurteilungsentschiedenen Richter; deren Volten, mit denen sie die Verteidigung ausspielen wollen, voraussehen und vereiteln; sich durchsetzen gegen Sprech- und Antragsverbote. Ich sah ihn Beweisanträge stellen, Zeugen „zerlegen“. Die Verteidigung endete 1984 mit einer Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe, die Angeklagten wurden anschließend ins Europaparlament gewählt und damit immun. Ströbele führte die Revision mit einer ausführlichen, viele Hundert Seiten starken Schrift, und nach dem Ende der Legislatur 1989 hob der BGH das Urteil auf, das Verfahren wurde eingestellt.

1984, ich wurde Anwalt, gelangte Ströbele als Nachrücker von Otto Schily in den Bonner Bundestag. Er brauchte einen Vertreter in seiner Kanzlei und machte mich als Berufsanfänger zum Sozius. Ein Anfänger kann – nichts. Ströbele wies mich ein, ich konnte ihn fragen, soviel ich wollte. Und ich fragte viel. Und machte trotzdem viel falsch. Er war unermüdlich, half, wo er konnte, an den Wochenenden und unterwies mich, zu Mandanten, Gegnern und Gerichten wie Staatsanwälten stets deutlichen Abstand zu halten.

Seine Gewissenhaftigkeit erwies er allen Fällen, den bezahlten und den vielen nicht bezahlten, die er übernahm. Wenn er was anfing, dann machte er es gewissenhaft, gänzlich unabhängig von der Bezahlung. Er lernte durchs Machen. Er lernte das Presserecht, indem er die taz nach ihrem Erscheinen vor Gericht vertrat. Er lernte das Datenschutzrecht, indem er – unentgeltlich – Fälle für die Volkszählungsbewegung übernahm. Das sprach sich herum und brachte viele Mandanten ausbehandelter Fälle dazu, bei ihm nachzufragen. Auch das konnte er: Leute zurückweisen, die ihn überfordert hätten mit ihren Bedürfnissen.

Jony Eisenberg, Berliner Rechtsanwalt, vertritt die taz regel­mäßig

Der Abgeordnete

Christian Ströbele zog 1985 in den Bundestag ein. Doch das war gewissermaßen nur das Warm-up. Viel entscheidender war die zweite Phase. 1998, als Rot-Grün an die Macht kam. Und 2002, als er zum ersten Mal das Direktmandat in Friedrichshain-Kreuzberg gewann. Unter Rot-Grün wird Joschka Fischer Außenminister, Otto Schily, der einst gemeinsam mit Ströbele RAFler verteidigt hatte, Innenminister für die SPD, ein Hardliner. Und Ströbele wird innerhalb der Koalition ihr Gegenspieler. Es geht um große Fragen: Krieg und Frieden, Freiheit, Sicherheit und Bürgerrechte.

Besonders in Erinnerung sind vier Tage Mitte November 2001, als Bundeskanzler Gerhard Schröder nach den Terroranschlägen von 9/11 den Bundeswehreinsatz in Afghanistan mit der Vertrauensfrage verknüpft. Neben Ströbele sind sieben Grüne dagegen. Der Regierung würde damit die eigene Mehrheit fehlen, es wäre das Ende von Rot-Grün. Das will Ströbele, der kein Ideologe, sondern Pragmatiker ist, nicht. Der Druck ist groß, die Verhandlungen sind hart. Weil vier andere sich umstimmen lassen, kann Ströbele beides bekommen: seiner Überzeugung entsprechend abstimmen und die Regierung erhalten. Ströbeles Ruf wahlweise als Rebel und grünes Gewissen oder, je nach Standpunkt, als Einzelgänger und Störfaktor ist zementiert.

Als Ströbele für die Bundestagswahl 2002 keinen sicheren Listenplatz bekommt, versucht er es in Friedrichshain-Kreuzberg allein. Wochenlang zieht er mit seinem Fahrrad durch den Bezirk und verteilt Flyer, das Wahlplakat hat der Comiczeichner Gerhard Seyfried gemacht. „Ströbele wählen heißt Fischer quälen“, steht irgendwo klein darauf. Ströbele schafft das scheinbar Unmögliche: Er holt das erste Direktmandat für die Grünen und gewinnt es noch weitere drei Male. Der Mann, der Jahrzehnte lang im bürgerlichen Teil Moabits gelebt hat, wird zum „König von Kreuzberg“ – und damit in der Fraktion noch unabhängiger. Im Bundestag setzt er sich für Bürgerrechte ein und wird zum Aufklärer, unter anderem in fünf Untersuchungsausschüssen.

Zudem wird Ströbele trotz Widerstands aus der Union und den Geheimdiensten Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium, das Verfassungsschutz, BND und Co kontrolliert. Und er bleibt es so lange wie kein anderer Abgeordneter bislang. Wer in der taz aber dachte, Ströbele gebe dort eine gute Quelle ab, der wurde enttäuscht. Die Kontrolleure des PKGr dürfen nichts verraten – und Ströbele hielt sich weit­gehend daran.

Sabine am Orde, taz-Redakteurin im Parlamentsbüro

Der Legalizer

Christian Ströbele war 1969 Geschäftsführer des „Republikanischen Clubs“ in der Wielandstraße. Dort lagerten auch Demonstrations-Utensilien, etwa Megafone. Damals lebten viele junge Leute in Westberlin, die vor der Bundeswehr geflüchtet waren. Die in der „besonderen politischen Einheit Westberlin“ Lebenden unterstanden nicht der Wehrpflicht, aber die Polizei versuchte die Geflüchteten im Wege der „Amtshilfe“ zu fassen und in die BRD zurückzuexpedieren. Dagegen fanden jeden Freitag Protestdemonstratio­nen statt, bei denen Ku’damm-Geschäfte „entglast“ wurden. Die Polizei versuchte die militanten Demonstranten mit einer „Salamitaktik“ zu zerstreuen. Ströbele verteilte Megafone an potenzielle Rädelsführer. Damit ließen sich Demoblöcke in die Nebenstraßen dirigieren, die dann dem gerade angreifenden Polizeiblock in den Rücken fielen.

Ich stand an der Ecke der Wielandstraße und rauchte einen Joint, als Ströbele mit einem letzten Megafon ankam und es mir in die Hand drückte, ich gab ihm dafür meinen Joint, den er in der Hand hielt, bis jemand zu ihm sagte: „Lass mich auch mal ziehen“ – und dann mit dem Joint verschwand. Auch ich verschwand mit dem Megafon unter meinem Parka, aber ich war kein wild entschlossener Rädelsführer. Wegen der vielen „Bullen“ um mich herum benutzte ich das Ding kein einziges Mal. Später gab ich es im Republikanischen Club wieder ab.

Ströbele war für die „Freigabe von Hanf“ – sein Satz „Gebt das Hanf frei“ wurde zum Pop-Hit, er rauchte aber selbst keines, dafür trank er täglich einen Liter Milch. Im Club hatte er jedoch einen Assistenten, dem die WGs Sammelbestellungen zukommen ließen, und der brachte dann das „Turnzeug“ zu ihnen. Die meisten linken Studenten lebten damals noch in den riesigen Wohnungen rund um den Ku’damm, die von ihren reichen Mietern oder Besitzern nach dem Mauerbau 1961 verlassen worden waren. Erst in den Siebzigerjahren, als die Kommunisten doch nicht Westberlin überrannt hatten, war wieder Schluss mit diesem fröhlichen WG-Leben, woraufhin sich die Szene nach Kreuzberg und Schöneberg verlagerte, wo sie nun auch wieder wegmuss.

Helmut Höge, taz-Autor

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