Comiczeichner Luz über Vernon Subutex: „Fast selbstmörderische Züge“

Ex-„Charlie Hebdo“-Zeichner Luz hat Virginie Despentes' Subutex-Trilogie zu einem Comic verarbeitet. Die Romane waren für ihn wie eine Katharsis.

Ein Comic mit vier Bildern: ein Mann steht in einem Plattenladen und spricht mit sich selbst. Er möchte eine Job für ein paar Wochen oder Jahre.

Rockmusik ist wichtig in „Vernon Subutex“ Foto: Abbildung: Reprodukt

Der französische Comiczeichner Luz alias Rénald Luzier war einer der wichtigsten Zeichner des Satiremagazins „Charlie Hebdo“. Bei dem Anschlag auf die Redaktion am 7. Januar 2015 hat er viele seiner Freunde verloren. In dem Antihelden aus der auch in Deutschland erfolgreichen Romantrilogie „Das Leben des Vernon Subutex“ von Virginie Despentes erkennt er sich selbst ein Stück weit wieder. Ein Gespräch über das Verarbeiten der Romanvorlage im Comic und die heilende Wirkung des Zeichnens.

taz am wochenende: Luz, was war Ihr erster Eindruck beim Lesen der „Vernon Subutex“-Romane?

Luz: Als man mich gefragt hat, ob ich die Adaption übernehmen will, kannte ich nur den ersten der drei Romane. Ich war von dem Buch völlig überwältigt. Da sprach jemand aus einer weit entfernten Vergangenheit zu mir und erzählte, was aus meinen Freunden geworden war. Ich hatte das Gefühl, all diese Figuren zu kennen. Aber je mehr mich dieses Buch einnahm, desto weniger wollte ich es adaptieren, denn mir ging das alles zu nah. Ich las dann die beiden anderen Teile und musste einsehen, dass diese Geschichte wie für mich gemacht ist.

Was hat Sie an dieser Geschichte so fasziniert?

Luz: „Vernon Subutex 1“ (nach dem Roman von Virginie Despentes). Aus dem Französischen von Claudia Steinitz und Lilian Pithan. Reprodukt Verlag, Berlin 2022. 304 Seiten, 39 Euro

Es geht darum, was diese Figuren erleben. Ich will hier nicht zu viel verraten, aber der zweite Band hat mich in seiner Schönheit überwältigt, während der dritte Band ziemlich hart ist. Er ist gewaltig, im wahrsten Sinne des Wortes. Diese Bücher waren wie eine Katharsis. Diese Geschichte handelt von allem, was ich mit mir herumtrage. Was in meinem Kopf ist und mich immer wieder aufwühlt.

Das müssen Sie erklären.

Der Roman handelt von all jenen, die in diese riesige Stadt geworfen werden. Paris ist eine Stadt, die von dir verlangt, ständig über dich hinauszuwachsen, wenn du nicht eingehen willst wie eine Pflanze. Als ich aus der Provinz nach Paris kam, ging es mir ähnlich. Deshalb hatte ich das Gefühl, dass ich all die Figuren aus dem Roman kenne. Ich bin denen auf der Straße, im Café oder im Supermarkt begegnet. Auf einer anderen Ebene handelt der Roman von einem, der versucht, allein zurechtzukommen. Dieses Gefühl hat mich an die Zeit nach dem Anschlag erinnert, der inzwischen mein ganzes Leben überschattet. Ich hatte damals das Gefühl, ganz allein in dieser riesigen Stadt zu sein. Mir war, als hätte ich all meine Freunde verloren. Ich konnte mich gut in Vernon Subutex hineinversetzen. Auch er hat das Gefühl, all seine Freunde verloren zu haben, und sucht nach einer Gemeinschaft.

Ist der Comic auch eine Art Hommage an Ihre ermordeten Freunde?

Nein, keine Hommage. Die Toten sind tot, ich kann ihnen nichts mehr sagen. Aber es gibt die Überlebenden und Hinterbliebenen, die mit den Ereignissen klarkommen müssen. Für sie ist diese Geschichte eine Art Echo. Insbesondere zu Beginn, weil sie uns mit der Einsamkeit der Figuren konfrontiert. Wir sehen, wie verloren sie sind. Sie drehen sich aufgekratzt um sich selbst – wie Fliegen, die um ein Stück Fleisch schwirren. So ging es vielen nach den Anschlägen, und so geht es auch heute noch vielen Menschen.

Vernon ist ein Einzelgänger, den seine ganzen Verluste nicht zu kümmern scheinen.

Das stimmt. Während alle anderen um ihn herum mit der Vergangenheit und ihren materiellen Verlusten kämpfen, ist ihm das tatsächlich völlig egal. Das nimmt fast selbstmörderische Züge an. Aber er ist an einem Punkt, an dem es auch nichts mehr gibt, für das er sich zusammenreißen müsste. Ohne jede Einschränkung akzeptiert er seine Situation, während all seine Freunde damit hadern, dass es früher besser war. Das hat mich echt gepackt. Wie kommt man trotz aller Rückschläge voran? Wie lässt man die Vergangenheit hinter sich, ohne sie auszulöschen? Vernons Mut zum Fatalismus hat bei mir etwas ausgelöst. Er hört einfach auf, sich aufzureiben, und gibt sich der Idee hin, dass es schon irgendwie weitergehen wird. Das hätte ich nach dem Attentat auch gern gekonnt.

Hatten Sie beim Lesen direkt Bilder im Kopf?

Luz (Rénald Luzier), geboren 1972 in Tours, arbeitete von 1992 bis 2015 für die Satirezeitung „Charlie Hebdo“. Im Comicband „Katharsis“ verarbeitet er den Terroranschlag in den Redaktionsräumen, bei dem er aus purem Glück nicht anwesend war.

Recht schnell, ja. Eines der ersten Bilder war eines der alten Dame, die Vernon im Park trifft. Es ist ein ganz unscheinbares Bild im Comic, aber es hat sich mir aufgedrängt. Inzwischen denke ich, mein ganzes Leben besteht aus unauslöschlichen Bildern, die sich mir aufdrängen. Alles was ich tun muss, ist ihnen zu folgen. Es gibt deshalb viele kleine Details, die mir wichtig waren. In ihnen zeigt sich nicht nur meine Persönlichkeit, sondern in ihnen liegt auch die Seele dieses Comics.

Nicht in der Musik?

Beides ist miteinander verbunden. Ich habe für Vernon viel Zeit damit verbracht, noch einmal meine alten Platten zu hören. Nach den Anschlägen war die Musik aus meinem Leben verschwunden, ich konnte keine Musik mehr hören. Beim Zeichnen habe ich wieder zu meinen Platten gegriffen und den Groove gefunden, der lebendig macht. Irgendwann saß ich nur noch in meiner Wohnung, habe Musik gehört und gezeichnet. Ich wollte von niemandem gestört werden. Und jetzt, nach fast 700 Seiten, ist die Musik wieder fester Teil von meinem Leben. So habe ich dank Vernon wieder zur Musik gefunden, und aus dieser Arbeit wurde eine sehr persönliche Reise.

Jetzt erscheint der erste von zwei Bänden. Der knallt einen ganz schön auf die Bretter.

Ja, er ist hart in dem Sinne, als dass man den Figuren wirklich auf den Grund geht. Man kratzt Schutzschicht um Schutzschicht ab, um zu schauen, was da eigentlich noch an Menschlichkeit ist. Virginies Romane zeigen, dass der Menschlichkeit etwas zutiefst Absurdes innewohnt. Denn was uns am Leben hält, wenn wir am Boden liegen, ist das Wissen darum, dass selbst die schlimmsten Dinge irgendwann vorbei sind. Und in dem Moment, in dem wir das begreifen, sagen wir uns, na los, weiter gehts.

Wie muss ich mir die Zusammenarbeit mit Virginie Despentes vorstellen?

Ich bin zu Beginn zu ihr gefahren und wir haben uns unterhalten. Dann hat sie mir ihr Paris gezeigt, eine Stadt, die ich so nicht kannte. Wir waren im Parc des Buttes-Chaumont und sie zeigte mir die Ecken, wo die Obdachlosen leben, wo sich die Jugendlichen treffen, wo die muslimischen und die jüdischen Familien sind. So entdeckte ich völlig neue Seiten an einer Stadt, von der ich lange dachte, sie zu kennen.

Wie haben Sie die hagere Figur Vernon Subutex entworfen?

Ich wollte, dass er wie der Plattenhändler aus meiner Heimatstadt Tours aussieht. Dem hab ich es zu verdanken, Bands wie Jefferson Airplane entdeckt zu haben. Er war ein dürrer Eigenbrötler, der immer nach Qualm roch. Seinen kalten Zigarettenrauch sollte man meinem Vernon ansehen. Ich wollte einen sympathischen Typen, der ganz in seiner eigenen Welt lebt und für seine Kunden da ist. Solche Typen sind inzwischen selten.

Wer ist Vernon Subutex für Sie?

Vernon ist ein sehr pragmatischer Typ, für ihn geht es immer weiter, egal was passiert. Das habe ich mir von ihm abgeschaut. Egal, was in meinem Leben passiert ist, ich darf weiter Musik hören, Spaß haben und lachen. Mit ihm habe ich gelernt, mich selbst wiederzufinden. Mich mit mir und der Welt zu versöhnen. Als ich nach den Anschlägen die sozialen Medien verließ, hatte ich in meinem letzten Post geschrieben: „Wir gehen im Nebel, aber wenigstens gehen wir.“ Vernon ist einer, der immer weitergeht. Wie eine Giacometti-Figur läuft er beschwingt und sorgenfrei in die Zukunft. Er läuft, egal was kommt.

Der Fantasie haben Sie beim Zeichnen hingegen freien Lauf gelassen. Ihr Comic besticht durch seine grafische Vielfalt.

Wer den Comic öffnet, sollte das Gefühl bekommen, einen Plattenladen zu betreten. Jede Seite sollte wie ein Plattencover wirken und hat deshalb ihr eigenes Konzept, sodass man immer wieder Neues entdecken kann. Ich habe mir aber keine festen Regeln gegeben, sondern wollte die erzählerische Explosion, die ich beim Lesen der Romane empfand, im Comic nachbilden.

Sie spielen auch viel mit der Panelstruktur.

Mir war klar, dass diese Geschichte keinen strengen Rhythmus verträgt. Die Musik hat den Rhythmus der Bilder vorgegeben. Mit der Musik mussten die Panels explodieren, durchgeschüttelt werden und eine eigene Anordnung finden. Es gibt Panelfolgen, die an die schnellen Riffs der Ramones erinnern, und dann wieder ruhigere Seiten, die die meditative Wirkung der Doors spiegeln. Mal gibt es direkt einen auf die Zwölf, dann wieder ist alles genau ausbalanciert und nahezu hypnotisch. Wie bei einem Konzert. Insgesamt braucht man jetzt um die drei Stunden, um den ersten Band zu lesen. Das entspricht einem guten Konzertabend.

Sie haben Jahre mit dieser Trilogie verbracht. Was ist das Besondere an diesen Romanen?

Mir gefällt an der Trilogie, dass sie nicht nur von Musik und Freundschaft, sondern auch von der Freiheit handelt. Die Figuren werden nicht in Klischees gepresst, sondern sind offen für jede Form der Begegnung. Vernon schläft mit Marcia, die früher ein Kerl war und immer noch einen Schwanz hat. Das wird aber nicht weiter hervorgehoben, sondern es ist einfach so. Alles an dieser Trilogie ist fluide. Sie handelt von Musik, geht aber weit darüber hinaus. Sie handelt von den Menschen, ohne sich um Geschlechter, Glauben oder Ideologie zu scheren. Diese Geschichte ist Teil einer offenen Welt, in der alles möglich und alles normal ist. Die einzige Frage, die sie aufwirft, ist die nach dem Zusammenhalt: Wie können wir gemeinsam leben, ohne mit uns allein zu sein?

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