Letzter Wunsch: Pearl Jam

Weil er inzwischen im Rollstuhl sitzt, sollte Roland Mandel keinen Zugang zur Waldbühne be­kommen. Bei dem Bau aus Nazi-Zeiten wiegt der Denkmalschutz schwerer als die Menschenrechte

Die riesige Waldbühne mit den vielen Plätzen in Berlin in einem Luftbild - ein winzig kleines Areal ist den Rollstuhfahern vorbehalten

So viele Plätze in der Berliner Waldbühne – 22.000! Und nur 12 für Roll­stuhl­fa­he­r:in­nen (hier gelb eingefärbt)   Foto: Johannes Eisele/ddp [M]

Von Manuela Heim

Roland Mandel hat sich 2019 ein Ticket für Pearl Jam gekauft. Nach zwei coronabedingten Verschiebungen soll das am 21. Juni stattfinden, auf der Waldbühne im Westen Berlins. Mandel sitzt inzwischen im Rollstuhl und hat vermutlich nur noch den Sommer zu leben. Dass er trotz Ticket keinen Zugang zur Waldbühne bekommen sollte, ist nicht nur von persönlicher Dramatik, sondern auch ein Armutszeugnis für die Inklusion im Kulturbereich.

Mehr als 22.000 Menschen passen in die Waldbühne in Charlottenburg-Wilmersdorf, im Rollstuhl dürfen davon nur 12 sitzen. Wenn diese Plätze auf einem speziellen Podest ausgebucht sind, wird Roll­stuhl­fah­re­r:in­nen der Zugang verwehrt.

„Auf die Idee wären wir erst gar nicht gekommen“, sagt Sandra Dragendorf, die Frau von Roland Mandel. Er selbst kann kaum noch sprechen, nur mit Mühe mit einem Tablet kommunizieren. Der Lehrer aus Lüneburg bekam vor nicht einmal einem Jahr die Diagnose: Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Bei dieser unheilbaren Erkrankung des Nervensystems werden die motorischen Nervenzellen binnen kurzer Zeit so schwer geschädigt, dass die Betroffenen oft nur noch wenige Monate oder Jahre zu leben haben.

„Roland hat nicht mehr viel, nur noch den Sommer“, sagt seine Frau. Den 18. Geburtstag seiner älteren Tochter will er noch erleben. Und das Pearl-Jam-Konzert. „Egal, wie schlecht es ihm geht, er hat gesagt, wir fahren“, sagt Dragendorf. Kompliziert genug war es, die Anreise mit der Bahn und vor allem die Unterbringung in einem rohlstuhlgerechten Zimmer mit Pflegebett zu organisieren. Dass Roland Mandel aber gar nicht in die Waldbühne reinkommen könnte, wurde erst nach einer Nachfrage beim Konzertveranstalter klar.

Und dann beginnt ein Kampf der Freun­d:in­nen von Roland Mandel, viele davon auch langjährige Pearl-Jam-Fans, um dieses letzte Konzerterlebnis. Sie schreiben an den Veranstalter und den Pächter der Waldbühne und die Behindertenbeauftragte Berlins und die Kulturverwaltung. Auch die taz schreibt diese und noch mehr Stellen an. Denn eigentlich muss jede große Versammlungsstätte in Berlin mindestens 1 Prozent Rollstuhlplätze vorhalten. Bei der Waldbühne wären das also mindestens 220 Plätze – und nicht 12. Statt Antworten auf diese Diskrepanz und eine Lösung für den Konzertbesuch von Roland Mandel mündet diese Recherche zunächst nur in einem Hin- und Herschieben der Verantwortung.

Der Betreiber der Waldbühne ist – nach einer Ausschreibung des Senats im Jahr 2008 – die CTS Eventim, ein börsennotiertes Veranstaltungsunternehmen mit Sitz in München. Eine Sprecherin verweist darauf, dass sie ja nicht der Veranstalter des Pearl-Jam-Konzerts sei, sondern die MCT Agentur. Die könnten vielleicht etwas für Roland Mandel tun, aber mehr als die ausgewiesenen Rollstuhlplätze könnten sie auch nicht verkaufen. Mehr Rollstuhlplätze wären aus Sicherheitsgründen in dem denkmalgeschützten Altbau aus der Nazizeit nicht möglich. Für die baulichen Gegebenheiten sei man auch nicht verantwortlich, sondern der Eigentümer. Man sei aber „immer wieder in Gesprächen, um die Lage zu verbessern“. Über konkrete Vorhaben und mögliche Hinderungsgründe wusste die Sprecherin wenig zu berichten und verwies lediglich auf die Hürden des Denkmalschutzes.

Die Geschichte ist ein Armutszeugnis für die Inklusion im Kulturbereich

Für die „Verordnung über den Betrieb von baulichen Anlagen“, die die 1-Prozent-Regelung für Versammlungsstätten enthält, ist die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zuständig. „Die Probleme in der Waldbühne sind schon länger bekannt“, heißt es von dort, und dass die Waldbühne unter Bestandsschutz steht und die Anzahl der Rollstuhlplätze erst bei einem Umbau oder einer Sanierung angepasst werden müssten. Zuständig sei das Land Berlin in Vertretung durch die Senatsverwaltung für Inneres und Sport als Eigentümer des Olympiaparks und damit auch der Waldbühne.

Aus der Sportverwaltung wiederum heißt es: „Bereits seit einigen Jahren ist beabsichtigt, die geplante Treppensanierung der Waldbühne mit Maßnahmen zur Verbesserung der Barrierefreiheit, zu welchen auch die Erhöhung der Anzahl der Rollstuhlplätze gehört, zu verbinden.“ Es liege am Denkmalschutz, dass dies so lang dauere, man hoffe aber, 2023 mit einem Umbau zu beginnen. Bereits sei aber klar: „Die Schaffung von 1 Prozent Rollstuhlplätze lässt sich aufgrund der Struktur der baulichen Anlage nicht erreichen.“

Beim Landesdenkmalamt ist das Thema Waldbühne dagegen offenbar noch gar nicht untergekommen, eine Sprecherin verweist auf die Untere Denkmalbehörde des Bezirks. Dort ist niemand erreichbar.

Vor wenigen Jahren fühlte sich auch die Senatsverwaltung für Kultur noch für die Waldbühne zuständig – auf eine Kleine Anfrage im Jahr 2018 antwortete sie, dass man bei Bedarf zusätzliche Bereiche der Waldbühne als Rollstuhlplätze ausweisen könne. Heute heißt es auf taz-Anfrage vom Pressesprecher: „Für die Barrierefreiheit der Berliner Kulturstätten fühlen wir uns nicht zuständig.“ Dies sei Sache der Eigentümer und anderer Verwaltungen. Dass die Waldbühne Landeseigentum ist, scheint ihm nicht bekannt.

Für die Landesbehinder­tenbeauftragte ist das Thema Waldbühne dagegen seit Jahren ein Aufreger. ­Immer wieder gebe es deshalb Bür­ger*in­nen­beschwerden, berichtet Christine Braunert-Rümenapf. Nicht nur die viel zu wenigen Rollstuhlplätze seien hier und in anderen Kulturstätten ein großes Problem. Auch dass man sich seinen Platz nicht aussuchen kann, nicht in der Gruppe begleitender Freun­d*in­nen sitzen könne und der Ticketkauf für Rollstuhlplätze zum Teil nur über Vorverkaufsstellen möglich sei, sei unerträglich.

Diese Geschichte, das sagt auch die Landesbehindertenbeauftragte, ist einmal mehr ein Beweis, wie sehr die Inklusion in dieser Stadt an dem Gefühl der Nichtzuständigkeit krankt. „Es reichen eben nicht die Sonntagsreden, in denen alle betonen, wie wichtig ihnen doch die inklusive Stadt ist“, sagt Braunert-Rümenapf.

Ein Mann im Rollstuhl, es ist Roland Mandel, er hat sich 2019 ein Ticket für Pearl Jam gekauft und kann nun endlich auch ins Konzert

Roland Mandel will unbedingt zum Pearl-Jam-Konzert   Foto: privat

Aber was ist nun mit Roland Mandels Konzertbesuch?! Der Konzertveranstalter MCT Agentur lehnt auf mehrfache Anfrage einen Zugang wegen sicherheitsrechtlichen Vorgaben ab und verweist darauf, dass je­de*r Ti­cket­käu­fe­r*in des mehrfach verschobenen Konzerts bei Verhinderung kostenfrei stornieren könne.

Nach Tagen der Intervention gibt es aber für den letzten Konzertwunsch eines schwer­kranken Menschen eine positive Wendung: Der Waldbühnen-Betreiber Eventim verspricht „vor Ort eine gute ­Lösung in Ihrem Interesse“, nachdem offenbar die Kulturverwaltung doch noch Druck gemacht hatte.

Bei Roland Mandels Freun­d:in­nen rollen Tränen der Freude. Aber die Empörung darüber, dass man als Rollstuhlfahrer so sehr um einen Konzertbesuch kämpfen muss, die bleibt.