Eine Frau liegt in einem Pflegebett

Nicht mehr essen, nicht mehr trinken. Aber nicht alleine sein Illustration: Katja Gendikova

Sterbefasten als Ausweg:Ein letztes Loslassen

Die Mutter ist krank und ohne Aussicht auf Heilung. Sie hört auf zu essen und zu trinken. Die Tochter begleitet sie und führt Tagebuch.

Ein Artikel von

8.11.2020, 16:21  Uhr

Die Finger zeigten ihre Krankheit zuerst. Manchmal konnte Gisela Kujawa, zu dieser Zeit 76 Jahre alt, ein Glas nicht mehr halten, sie konnte nicht mehr schreiben und musste die Handarbeiten, die sie gerne machte, liegen lassen. Nach einer Odyssee durch Arztpraxen, verschiedenen Diagnosen und einer schweren Wirbelsäulenoperation war drei Jahre später klar: Sie hat Amyotrophe Lateralsklerose (ALS).

Da konnte Gisela Kujawa ihre Arme und Hände schon nicht mehr bewegen, schlaff hingen sie an den gelähmten Schultern. ALS ist eine unheilbare Krankheit, bei der die Verbindung des Nervensystems zu den Muskeln allmählich zerstört wird. Lähmungen am ganzen Körper, auch der Schluck- und Atemmuskulatur, sind die Folge.

Die 79-jährige Rentnerin aus Hannover, die gerne eigenständig lebte, als geschiedene Frau ihre beiden Töchter alleine erzogen und als Büroangestellte gearbeitet hatte, war verzweifelt. In den letzten Monaten ihres Lebens wollte sie nicht als schwerer Pflegefall einem aussichtslosen Leiden ausgeliefert sein. Da fragte sie ihre Tochter, ob es einen Weg gebe, wie sie bald sterben könne. Mutter und Tochter sprachen über Sterbefasten, Gisela Kujawa hatte schon davon gehört. Wenig später entschied sie sich für diesen Weg.

„Unsere Mutter lebte immer selbstständig, sie wollte nicht ins Heim und sie sagte immer, sie wolle uns nicht belasten“, berichtet Tochter Maren Kujawa, ein Jahr, nachdem ihre Mutter gestorben ist. Die 59-jährige ist Pastorin und arbeitet als Seelsorgerin in einem Kinder- und Jugendhospiz südlich von Bremen. Den Weg der Mutter dokumentierte sie auf deren Wunsch. Weil sie mich kennt, gab sie mir das sorgfältig geführte Tagebuch zu lesen. Mit der ausdrücklichen Erlaubnis, daraus zu zitieren. Es entspreche dem Wunsch ihrer Mutter, dass über Sterbefasten informiert werde. Denn für sie waren bei ihrer Entscheidung genaue Informationen, auch aus Fallgeschichten, wesentlich.

Die Quellen der Geschichte über den Sterbeweg von Gisela Kujawa sind ein langes, persönliches Gespräch, die Dokumentation ihrer Tochter und zwei ausführliche Telefonate mit ihr ein Jahr nach dem Tod der Mutter.

„Du gehörst zu uns, auch wenn es dir schlecht geht“, habe Maren Kujawa der Mutter mehrfach versichert. Sie sitzt am Esstisch, zwischen der hellgrauen Küchenzeile und der gemütlichen Couchgarnitur, die am bodentiefen Fenster steht. Sie und ihre Familie seien bereit gewesen, ihrer Mutter alle Unterstützung zukommen zu lassen, die sie angesichts von Alter und Krankheit gebraucht habe. Ihre Mutter habe nicht ins Pflegeheim gewollt. Sie hatte ihre eigene Mutter neun Jahre lang im Pflegeheim begleitet und gewusst, wie das Leben dort sei.

Maren Kujawa zu ihrer Mutter

„Du gehörst zu uns, auch wenn es dir schlecht geht“

Beim Sterbefasten hört man aus eigenem Entschluss auf, Nahrung zu sich zu nehmen, man trinkt auch nichts mehr. Angesichts einer oder mehrerer unheilbarer Krankheiten nimmt man so Einfluss auf den Zeitpunkt des Todes. Man möchte sein körperliches und seelisches Leiden vermindern und leitet den Sterbeprozess ein. Weil das Wort „fasten“ oft in gesundheitlichen und religiösen Zusammenhängen verwendet wird, werden auch die neutral klingenden Abkürzungen FVNF – „Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit“ – oder FVET – „Freiwilliger Verzicht auf Essen und Trinken“ – gebraucht. Dieser Verzicht fällt in der letzten Lebensphase oft nicht schwer, weil viele alte, kranke Menschen keinen Appetit oder Durst mehr haben. Wer sich auf den Weg des Sterbefastens begibt, stirbt innerhalb einer oder mehrerer Wochen, je nach Art der Erkrankungen, der körperlichen Verfassung und der Einschränkungen bei der Flüssigkeitszufuhr.

Das überraschend liberale Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe vom Februar 2020 belebte die ethischen Debatten um ein menschenwürdiges Sterben. Der Raum für unterschiedliche Gedanken und Gefühle, Haltungen und Handlungen im Grenzbereich zwischen Leben und Tod ist geöffnet. Es gebe ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“, das sich aus der Menschenwürde und dem Persönlichkeitsrecht ableite, entschieden die Verfassungsrichter*innen. Jeder könne „entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit“ entscheiden, seinem Leben ein Ende zu setzen. „Dieses Recht schließt die Freiheit ein, (...) hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und diese in Anspruch zu nehmen“, führte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle aus. Damit kippte das Bundesverfassungsgericht den erst 2015 neu eingeführten Paragrafen 217 des Strafgesetzbuchs.

Unstrittig war stets, dass die aktive Sterbehilfe, bei der ein tödliches Medikament verabreicht wird, unter Strafe steht. Auch die passive Sterbehilfe, bei der lebensverlängernde Maßnahmen verringert oder eingestellt werden, stand nicht zur Verhandlung. Sie war und bleibt straffrei. Die Karlsruher Richter*innen entschieden über den assistierten Suizid. Ein tödliches Medikament wird dabei überlassen, aber nicht verabreicht. Der assistierte Suizid war im Prinzip straffrei, aber nicht, wenn er „geschäftsmäßig“, das heißt organisiert und auf Wiederholung angelegt war. Das galt auch dann, wenn kein Geld damit verdient wurde. Sterbehilfevereine, einige Palliativmediziner und betroffene, schwerkranke Menschen hatten gegen den Paragrafen 217 geklagt. Sie siegten. Seitdem können Ärzte ohne Angst vor straf- oder standesrechtlichen Folgen wieder ans Bett ihrer sterbewilligen Patienten kommen. Auch die Sterbehilfevereine können wieder tätig sein.

Dem natürlichen Sterbevorgang ähnlich

Ist Sterbefasten überhaupt berührt von diesem Urteil? Bis vor Kurzem noch war es eine der ganz wenigen sozial akzeptierten Möglichkeiten, aus eigenem Entschluss aus dem Leben zu scheiden. Vor allem, weil Sterbefasten dem natürlichen Sterbevorgang sehr ähnlich ist und die Entscheidung nach Beginn noch einige Tage umkehrbar. Sogar wenn man aufgehört hat zu trinken, kann man noch zurückkehren zu den Lebenden. Das gilt bis zur letzten Ausscheidung von Urin. Danach sind die Nieren unheilbar geschädigt, und ein weiteres Leben wäre nur mit Dialyse möglich. Leisten Angehörige, Pfleger*innen und Ärzt*innen beim Sterbefasten also passive Sterbehilfe, bei der alle medizinischen Behandlungen abgebrochen und eine künstliche Versorgung mit Nahrung und Flüssigkeit abgelehnt werden?

Wenn sich ein Mensch angesichts einer schweren lebensbedrohlichen Krankheit für Sterbefasten entscheide, sei der Freiwillige Verzicht auf Essen und Trinken (FVET) nicht als Suizid zu bewerten. Das ist die Position der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). Sterbefasten entspreche aber auch nicht einem Therapieverzicht, denn Essen und Trinken sei bei Menschen, die essen und trinken könnten, kein Teil der Therapie. FVET sei als eine Handlung eigener Kategorie zu werten. Für diese 2019 veröffentlichte Position arbeitete die DGP mit Expert*innen aus Medizin, Pflege, Ethik und Recht zusammen. „Der Entschluss einer entscheidungsfähigen Patient*in durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken aus dem Leben zu scheiden, ist Ausdruck von Selbstbestimmung und (…) als Sterbewunsch wahrzunehmen und zu respektieren“ heißt es dort.

Gisela Kujawa

„Ich bin erleichtert. Es gibt eine Lösung“

Die beiden großen Kirchen betonen stets, dass kein alter, kranker Mensch sich von der auf Effizienz getrimmten Gesellschaft, von Angehörigen oder durch Mängel bei der Pflege zum baldigen Sterben gedrängt fühlen dürfe. „Als Christen sind wir den Menschen nahe und geben sie nicht auf, auch wenn keine Aussicht auf medizinischen Erfolg besteht“, schrieb Bischof Franz-Josef Bode, Vorsitzender der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz, die zuständig ist für Analyse und Entwicklung der Seelsorge, der christlichen Form von psychologischer Beratung, in Gemeinden und in Einrichtungen, zum Beispiel in Krankenhäusern.

Die katholische Kirche möchte „Hilfe beim Sterben, aber nicht Hilfe zum Sterben geben.“ Sterbefasten liegt für sie in einer Grauzone, eine offizielle Stellungnahme dazu gibt es nicht. Anders die evangelischen Kirchen: So sagte Andrea Peschke, die Beauftragte für Hospiz- und Palliativarbeit der Landeskirche Hannovers, der größten Landeskirche innerhalb der EKD 2018: „Natürlich muss über das Sterbefasten diskutiert werden. Aber zur Menschenwürde gehört es auch, selbst zu entscheiden, wann ich aufhöre zu essen und zu trinken.“

Nicht länger leben, nicht länger leiden

Im Sommer 2019 las Gisela Kujawa das Buch „Umgang mit Sterbefasten“, veröffentlicht von der Trauer- und Sterbebegleiterin Christiane zur Nieden und ihrem Mann Hans-Christoph zur Nieden, Arzt für Allgemein- und Palliativmedizin im Ruhestand. Dort werden verschiedene Fälle von Sterbefasten vorgestellt, sowohl von Menschen, für die Sterbefasten ein guter Weg war als auch von solchen, die es abbrachen. Kujawa war bei ihrer Lektüre vor allem von einer Frau beeindruckt, so berichtet es ihre Tochter Maren im Tagebuch und erzählt davon auch später im Gespräch. Edith, 88, mit vielen schmerzhaften neurologischen Krankheiten, mit Herzproblemen und zunehmender Erblindung, wollte nicht länger leben und leiden. In den letzten Tagen mit ihrer Tochter, die sie liebevoll begleitete, erzählte Edith ihre ganze Lebensgeschichte, räumte auf, kündigte ihre Wohnung und sämtliche Versicherungen. Edith betonte in Videos, die ihre Tochter aufnahm, dass alle Ärzte sie für austherapiert hielten. Sterbefasten sei für sie kein Suizid, sondern ihre freie Therapiewahl. Diese Einstellung überzeugte Gisela Kujawa. Sie fasste ihren Entschluss, sprach ihn auch im Beisein ihrer Ärztin aus. „Seid Ihr bereit, diesen Weg mitzugehen?“, fragte sie ihre beiden Töchter.

„Ich bin erleichtert und entlastet. Es gibt eine Lösung. Das Schwere dieses Weges ist viel weniger schwer als das, was mich sonst zu erwarten hätte“, schrieb Gisela Kujawa am 1. Juli 2019 in ihr Tagebuch, da hatte sie gerade ihre Entscheidung getroffen. Am 20. Juli schrieb ihre Tochter Maren: „Ich besuche sie in Hannover. Wir bereiten die Liste für die Trauerfeier vor. Wir reden über die Begleitung während des Fastens. Wir reden darüber, was noch organisiert werden muss.“ Mit Verwunderung lese ich über die Stimmung von Mutter und Tochter: „Wir freuen uns miteinander, genießen das Reden und Sein. Mutti sagt, dass es ihr gut geht und sie sich, obwohl es absurd klingt, darauf freut, dass es nun bald beginnt.“

Gisela Kujawa und ihre Töchter hatten gemeinsam entschieden, dass Anfang August das Sterbefasten beginnen solle. Die Hausärztin stellte Rezepte aus, Morphium gegen Schmerzen, ein anderes Medikament gegen Unruhe und Angst, und ein Abführmittel. Sie stellte auch einen Antrag auf Aufnahme ins Hospiz, Gisela Kujawa kam auf die Warteliste. Während ihres Sterbefastens wollte sie im Hospiz sein, gepflegt von Fachkräften, begleitet und unterstützt von ihren Angehörigen. Auch ihre Töchter erhofften sich durch das Hospiz Entlastung. Doch es kam anders.

Mit dem Sterbefasten kann – wenn die Voraussetzungen stimmen – eine intensive, oft als wertvoll erlebte Zeit für den Sterbewilligen, dessen Familie und Freunde beginnen. „Es sollte gut vorbereitet sein“, sagt Sterbebegleiterin und Buchautorin Christiane zur Nieden am Telefon. Seit sie vor zehn Jahren ihre Mutter beim Sterbefasten begleitet hat, widmet sie sich diesem Thema. „Mir ist wichtig: Wenn einer gehen will, dass er gehen darf“, sagt die 67-jährige. Aber sie betont, „nur mit Kommunikation und Kontakt“ sei es „ein schönes Sterben“ und stellt bedauernd fest: „Immer mehr Menschen sind heute einsam.“ Zusammen mit ihrem Mann bietet sie Beratung per Telefon und E-Mail für Sterbewillige und deren Angehörige an. Zwischen 30 und 50 Anrufe kämen pro Woche, berichtet sie. Auch Maren Kujawa schrieb und telefonierte mit Christiane zur Nieden und bekam von ihr hilfreiche Informationen für die Sterbebegleitung bei ihrer Mutter.

„Es war Aufbruchsstimmung“, erzählt Maren Kujawa ein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter. Als diese ihre Entscheidung getroffen hatte, wollte sie möglichst bald anfangen. Schon zu Hause, noch ohne Bett im Hospiz, das sie ja vermutlich bald bekäme.

Ein Blick aus dem Fenster

Zu Hause auf den Tod warten, in Frieden Illustration: Katja Gendikova

Am 29. Juli fuhr Maren Kujawa mit gepacktem Koffer nach Hannover in die Eineinhalb-Zimmer-Wohnung ihrer Mutter. Als sie dort ankam, hatte diese mit dem Mittagessen ihre letzte Mahlzeit bereits zu sich genommen. Maren Kujawa schrieb ins Tagebuch: „Meine Mutter ist erleichtert und freudig gestimmt. Später erzählt sie, sie hätte keinen Tag hier mehr länger alleine leben können. Sie ist gut gelaunt, es ist nett, wir reden, erzählen, planen, lachen, gehen die Pflegemittel durch.“

Am zweiten Tag notierte sie: „Mutti morgens superaktiv. Im Laufe des heißen Tages zunehmend schlapper.“ Ihre Mutter nahm Abführmittel, um die bei jedem Fasten entstehende Verstopfung zu vermeiden. Vom Hospiz kam die Nachricht, dass Gisela Kujawa doch nicht so schnell einen Platz bekommen könne. Darauf nahm Maren Kujawa Kontakt zur Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung auf und bestellte vorsorglich einen fahrbaren Toilettenstuhl. Abends notierte sie: „So viele Telefongespräche, viel Kraft von meiner Schwester und mir.“ Ihre Schwester, die in der Nähe wohnte, kochte und sie aß dort nun regelmäßig zu Abend.

Auch über die oft unruhigen Nächte gibt die Dokumentation der Tochter Auskunft. In der Nacht zum dritten Tag brauchte Gisela Kujawa um halb drei Uhr Hilfe bei ihrem Gang zur Toilette. Danach schlief sie nur noch schlecht ein. Morgens half ihre Tochter beim Duschen. Danach schaute sie Frühstücksfernsehen und nahm wieder Abführmittel. Sie erzählte Tochter Maren, wie anstrengend die letzten Wochen für sie gewesen seien, wie unverstanden sie sich auch von manchen Menschen gefühlt habe. Deren Drängen, sie solle doch weiter Therapien versuchen, habe sie belastet. Aber es habe auch echte Hilfen gegeben, besonders die der Nachbarin.

Doch nicht ins Hospiz

Am Nachmittag dieses dritten Tages kamen zwei Mitarbeiter*innen des Hospizes, um Gisela Kujawa kennenzulernen und einige Fragen zu klären. Beim Abschied stellten sie in Aussicht, sie könne in der nächsten Woche ins Hospiz kommen. Danach fühlten sich Mutter und Tochter erschöpft. „Mutti legt sich mit einem feuchten Waschlappen zum Nuckeln ins Zimmer. Sie hat sehr wenig getrunken, ein bisschen Bauchweh, Schwäche und geht früh ins Bett“ notierte Maren Kujawa. Beide Frauen ahnten, dass es nicht klappen könnte mit dem Hospiz. Ein Bett erst in der nächsten Woche – das liegt sehr weit weg, wenn man nur noch wenige Tage zu leben hat. Gisela Kujawa weinte. Ihrer Tochter gestand sie schließlich, dass vor allem deshalb ins Hospiz wollte, um sie und die anderen Angehörigen nicht zu sehr zu belasten. Maren Kujawa beruhigte sie: Sie habe sich doch frei genommen, sie habe Zeit und wolle diese Zeit auch mit ihr verbringen, sie sei ja nur noch so kurz. Beide weinten.

Am vierten Tag, am 1. August, hörte Gisela Kujawa auf zu trinken. Morgens hatte sie ein Kloßgefühl im Hals und spuckte Schleim aus. Sie schaute das Morgenmagazin, nahm wieder einen mit Zitronenwasser getränkten Waschlappenzipfel zum Nuckeln. So blieben ihre Lippen und die Mundhöhle feucht. Die empfindliche Haut von Lippen und Gaumen gut zu pflegen, ist wichtig. Trotz des Hitzesommers hatte Gisela Kujawa keinen Durst. Am Nachmittag fingen ihre Hände und Finger an zu kribbeln, ihre Zehen fühlten sich steif an. Sie hatte Schmerzen und konnte nicht mehr ruhig liegen. Tochter Maren massierte ihren ganzen Körper, nahm danach Kontakt zur Hausärztin auf und zur Sterbebegleiterin zur Nieden. Auf deren Rat hin gab sie ihrer Mutter abends eine Tablette Morphium gegen die Schmerzen. Die Nacht war ruhig, Gisela Kujawa schlief bis zum nächsten Morgen.

Abgang Trump, Auftritt Joe Biden. Ein Portrait des mutmaßlich neuen US-Präsidenten lesen Sie in der taz am wochenende vom 7./8. November 2020. Außerdem: Eine Frau ist unheilbar krank, sie entscheidet sich für Sterbefasten. Ihre Tochter begleitet sie in der letzten Lebensphase. Eine Geschichte vom Loslassen. Und: Träumen wir uns in Lockdown-Zeiten weit weg. Mit der guten alten Fototapete. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Sterbefasten ist dem natürlichen Sterben sehr ähnlich. Der Körper stellt die Funktionen seiner Organe nach und nach ein, deshalb braucht er dafür keine Energie in Form von Nahrung mehr. Auch Herz und Lunge werden in den letzten Tagen so schwach, dass Flüssigkeit nicht mehr verarbeitet werden kann. Es bilden sich Ansammlungen von Wasser im Gewebe der Beine, des Bauches und auch der Lunge. Bei manchen Sterbenden fängt der Atem deshalb an zu rasseln. Mit dem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit trocknet der Körper langsam aus. Das Gehirn bekommt zu wenig Sauerstoff, bei manchen Menschen bildet es dann körpereigene Opiate, die Schmerzen lindern und die Stimmung aufhellen können. Wie stark die Schmerzen, Unruhezustände, Ängste und der Durst beim Sterben sind, ist individuell. Menschen sterben wie sie leben – verschieden.

Gisela Kujawa wog noch 45 Kilo. So steht es im Tagebuch beim siebten Tag des Sterbefastens. Am Morgen wollte sie Kaffeeduft riechen, danach schlief sie wieder. Besuch wollte sie nur noch von Angehörigen und von zwei Nachbarinnen, der Kontakt zu anderen Menschen wurde zu anstrengend. Als eine dieser Nachbarinnen sah, wie schmal Gisela Kujawa mittlerweile war, sagte sie beim Abschied an der Tür zu Maren Kujawa: „So ist sie, ihre Mutter. Was sie will, zieht sie durch“. Sterbefasten, so erkannte sie intuitiv, ist nur für Menschen geeignet, die gewohnt sind, selbst Entscheidungen zu treffen und diese auch durchzuhalten.

Wesentlich sei, dass „eine entscheidungsfähige Person aufgrund unerträglichen anhaltenden Leidens freiwillig und bewusst (…) aus freiem Willen handelt“, erklärt dazu die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin. Damit sind Bedingungen formuliert, die längst nicht alle Menschen, die sterben möchten, erfüllen können. Bei psychischen Grunderkrankungen, zum Beispiel bei Magersucht oder Depressionen, ist dies nicht der Fall. Auch für Menschen, die an Demenz leiden, ist es keine Option.

Ein weiteres Auschlusskriterium: zu jung sein. Der Körper hat auch im mittleren Alter noch einen hohen Grundumsatz an Energie. Beim Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit tritt deshalb quälender Mangel auf. Nur wer 75 und älter ist und ernsthaft erkrankt, hat einen so geschwächten Körper, dass der Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit zum baldigen Tod führt. Auch von einer einsamen Entscheidung für Sterbefasten ist klar abzuraten, Unterstützung und Begleitung durch Angehörige und medizinische Palliativteams ist wesentlich.

Das Pflegebett ist leer

Am Ende des Weges Illustration: Katja Gendikova

Die Abende gestaltete Maren Kujawa mit einem Ritual. Sie schlug Klangschalen an und brachte damit den dünnen Körper ihrer Mutter in Schwingungen, sie massierte sie und las Karten und Briefe von Menschen vor, die zum Abschied geschrieben hatten. Am Ende jedes Tages sangen und beteten Mutter und Tochter gemeinsam. „Meine Mutter war nie eine Schmusemama gewesen. Jetzt war da eine neue Innigkeit, die wir so noch nie hatten“, erinnert sie sich heute. „Die Pflege war ein Liebesdienst. Ich habe es gerne gemacht. Ich möchte diese Zeit nicht missen“.

Aber diese Zeit hielt auch viele Herausforderungen bereit, besonders in der zweiten Woche. Da waren Nächte voller Unruhe und Tage, in denen Maren Kujawa müde und erschöpft war. Sie war unsicher mit der Dosierung der starken Medikamente. Wie viel sollte sie ihrer Mutter bei Schmerzen, Unruhe und Angst geben? Zwar hatte sie Erfahrung mit Pflege, aber solche Entscheidungen waren neu. Deshalb war der Kontakt zur Haus- und Palliativärztin, zur Sterbebegleiterin und zur Krankenschwester der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung wichtig.

Der elfte Tag des Sterbefastens: Gisela Kujawa fehlte die Kraft zu sitzen, sie wollte fast nur noch liegen. Tochter Maren schrieb auf: „Der Umgang mit ihr ist schön. Sie fragte heute nach dem Datum und wird so weich und redet ganz leise und heiser. Ihre Hörgeräte möchte sie nicht mehr und auch das Gebiss hat sie seit heute Mittag nicht mehr im Mund. Ich lege feuchte Waschlappen auf Stirn, Arme und ein Bein und das tut ihr gut. Heute war ein schöner Tag mit ihr. Sie fühlt sich mit den Waschlappen als ob Wasser um sie kreist, das mag sie.“ Die Nacht war wieder unruhig. Um halb drei legte Maren Kujawa, die sonst im Wohnzimmer schlief, ihre Matratze neben das Bett ihrer Mutter und beruhigte sie mit ihrer Nähe.

ist Illustratorin in Berlin. Sie hat schon mehrmals zum Thema Tod gezeichnet.

Auch in Pflegeheimen gibt es Sterbefasten. Allerdings vermeidet man dort diesen Begriff und spricht von „Freiwilligem Verzicht auf Essen und Trinken“. Alte Menschen, die schon lange ein Pflegefall sind, treffen möglicherweise nur zum Teil eine bewusste Entscheidung. Aber sie haben keinen Hunger und Durst mehr, sie pressen die Lippen aufeinander und drehen ihren Kopf weg. Üblicherweise folgt im Heim dann eine „ethische Fallbesprechung“, bei der Arzt, Heimleitung, Pfleger und Angehörige sich beraten.

Die Heimleitungen reagieren unterschiedlich. Manche haben Angst vor Beanstandungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen. Eine Ernährung gegen den Willen der Heimbewohner*in wäre jedoch eine Körperverletzung und damit strafbar. Die Träger der Heime, oft die Kirchen, setzen sich mit der Thematik zunehmend auseinander. So kam der Ethikrat katholischer Träger von Pflegeeinrichtungen im Bistum Trier vor über zwei Jahren zum Schluss, es sei „ungeachtet berechtigter moralischer Bedenken Pflicht der Einrichtung, den Sterbenden nicht sich selbst zu überlassen, sondern Hilfe zu leisten.“

In der Nacht zum dreizehnten Tag fiel Gisela Kujawa nachts aus dem Bett. Mit großer Anstrengung hievte ihre Tochter die kraftlos gewordene Mutter wieder zurück. Aber die blieb weiter unruhig. Nach einigen Stunden gab Maren Kujawa ihr eineinhalb Tabletten des starken Beruhigungsmittels Tavor. So konnten Mutter und Tochter noch etwas schlafen. Am Tag danach schrieb Maren Kujawa: „Sie ist unruhig, will, dass ich sie ausziehe, aber sie ist ausgezogen, nachts hatte sie auch wieder gesagt, alles zieht raus.“

Um die Mittagszeit, so das Tagebuch, bewegte Gisela Kujawa unruhig ihre Arme und Beine und sprach mit nur noch schwer verständlicher Stimme. Maren Kujawa verstand einmal „Arsch voll“ und fragte, ob sie mal den Arsch voll bekommen habe. Ihre Mutter nickte. „Ich frage: Oma? sie verneint. Ich frage: Opa? und sie bejaht“. Sie gab ihr eine halbe Beruhigungstablette und legte sich neben sie. Später lächelte ihre Mutter und sagte mehrmals „Alles geht weg, aus Armen, Beinen.“ Aber es tue nicht weh. Abends aber kamen die Schmerzen zurück. Gisela Kujawa kommunizierte nur noch über Nicken und Schütteln ihres Kopfes. Ihre Tochter rief den ambulanten Palliativdienst. Eine Krankenschwester half Maren Kujawa eine Spritze mit niedrig dosiertem Morphium aufzuziehen. Jederzeit könne es nun geschehen, sagte die Krankenschwester. Es gehe nur noch um das letzte Loslassen.

Am vierzehnten Tag, an einem Sonntag, fand der Weg von Gisela Kujawa sein Ende. Um zehn Uhr morgens kam ihre Enkelin, spielte an ihrem Bett Gitarre. Bis zum frühen Nachmittag kam Enkel, Schwiegersohn und beide Töchter ans Bett und verabschiedeten sich. Danach feierte eine Pastorin mit der ganzen Familie ein Abschiedsritual.

Gisela Kujawa erhielt den Segen. Am frühen Abend des 11. August 2019 starb sie. Tochter Maren schrieb ins Tagebuch: „Die Sonne kommt durch die Wolken (…) Wir halten sie an der Hand und am Kopf. Es ist wie ein friedliches Ausatmen.“

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