HSV vor der Relegation gegen Hertha: Mehr Sicherheit trotz Risiko

Dank offensivem Fußball hat es der Hamburger SV in die Bundesliga-Relegation geschafft. Doch nach enttäuschenden Jahren ist das Gebilde noch wackelig.

Jubelnde HSV-Profis nach einem Torerfolg

Eine neue Idenität? Der HSV überzeugte zuletzt mit mutigen Auftritten Foto: Daniel Naupold/dpa

HAMBURG taz | Nach Monaten der verbalen Zurückhaltung, des Versteckens hinter den branchenüblichen Floskeln, formuliert Tim Walter nun plötzlich mutig bis verwegen, und man muss zugeben, dass diese Facette etwas Mitreißendes, Frisches hat. Er hat seine Art, Fußball spielen zu lassen, jetzt rhetorisch unterfüttert – weil die Resultate es hergeben: „Der HSV hat eine Identität kreiert, die in den vergangenen Wochen wohlwollend aufgenommen worden ist. Der HSV steht wieder für etwas. Und das ist wunderschön.“

In den Tagen vor dem Relegationshinspiel bei Hertha BSC hat Walter einige Male vom „neuen HSV“ gesprochen. Mutig, voller Elan, anpassungsfähig und wehrhaft sei seine Mannschaft. Natürlich nimmt der 46 Jahre alte Fußballlehrer den Mund ganz schön voll. Es wäre sicher passender, vom neuen HSV zu sprechen, wenn es nicht um den möglichen Aufstieg nach vier Jahren Zweitklassigkeit ginge, sondern um eine Bilanz der ersten Jahre des HSV in der Bundesliga nach der Versetzung, und zwar mit den Mitteln, die der neuen Vereinsphilosophie entsprechen: Ausbildung eigener Spieler, weil viel weniger Geld vorhanden ist. Das ist in Ansätzen zu erkennen. Nur ist das ganze Gebilde noch so anfällig, dass alle Skeptiker genug Anlass haben, Walter für einen Schwätzer zu halten, der seinen Klub starkredet, bevor wirklich etwas erreicht ist.

Dennoch ist nachvollziehbar, warum Walter gerade so auf die Pauke haut. Zum einen will er das Momentum der vergangenen Wochen nutzen und verlängern; schließlich hat der HSV seit dem 29. Spieltag sieben Punkte aufgeholt, fünfmal gewonnen und ist auf Rang drei der Abschlusstabelle geklettert, während die Hertha selbst mit „Retter“ Felix Magath nur Sechzehnter geworden ist.

„Wir sind gut drauf und freuen uns einfach auf diese Spiele“, sagt Walter. Zum anderen hat er wirklich etwas erreicht. Er war im Sommer 2021 gekommen, um der Mannschaft mehr Widerstandskraft zu verleihen, neudeutsch: Resilienz. Ob unter Hannes Wolf, mit Dieter Hecking oder bei Daniel Thioune: Immer war der HSV im letzten Drittel der Saison eingeknickt, hatte sich durch unfassbare Stolpereien, Nervenschwächen, Abwehrböcke oder allem zusammen um die Früchte der Arbeit gebracht – und war in allen Spielzeiten der zweiten Liga Vierter geworden.

Hoch riskant und unterhaltsam

Das ganze kulminierte am letzten Spieltag der Saison 2019/2020, als das Heimspiel gegen den SV Sandhausen 1:5 endete und der HSV die Relegation verschenkte. Der Klub galt als hoffnungsloser Fall. Zuletzt war aus Häme manchmal Mitleid geworden, und kein Trainer der vergangenen Jahre kam mit weniger Vorschlusslorbeeren als Walter. Seine Besetzung wirkte eher wie: Einer muss es ja machen. Mitgebracht hatte Tim Walter einen Fußball, den er schon bei Bayerns Amateuren, Holstein Kiel und dem VfB Stuttgart hat spielen lassen: Walterball. Hoch riskant, spektakulär, unterhaltsam. Ballbesitz und Gegenpressing sind die hervorstechenden Eigenschaften. Lange Bälle und schlappe Passivität verpönt.

Im Rückblick muss man sagen, dass Walter seinem Stil weitgehend treu geblieben ist. Dabei hat er viel Kritik einstecken müssen, weil die Absicherung in der Hinrunde oft fehlte, es häufig Unentschieden hagelte, obwohl der HSV gerade zu Hause oft überlegen agierte. Dass die Hamburger am Ende nun die wenigsten Gegentore der ersten und zweiten Bundesliga haben, somit die beste Defensive stellen – es gibt Walter recht. Und auch der Fakt, in Vor- und Rückrunde fast gleichermaßen gepunktet zu haben, verheißt etwas, das es in Hamburg nie gab: Stetigkeit.

Trotzdem sind Walter und Sportvorstand Jonas Boldt in die Kritik geraten. Als es im Anschluss an das 0:1 in Kiel am 29. Spieltag nach der nächsten Enttäuschung im Volkspark aussah, machte die Unzufriedenheit von Vorstand Thomas Wüstefeld und HSV-Präsident Marcell Jansen die Runde. Offenbar ging es da aber mehr um den allgemeinen Zustand mit zu vielen hoch bezahlten Direktorenposten als um die sportliche Situation. Klar ist allerdings, dass sich bei ausbleibendem Erfolg niemand sicher fühlen kann beim HSV.

Vergangenes kann Walter gut wegschieben. „Unser Mut ist unser Ass im Ärmel“, sagt der Trainer, der immer wirkt, als wolle er gar nicht gemocht werden. Dass es nun gegen die HSV-Ikone Magath geht, hat Walter verbal ziemlich geschickt verpackt und ist dabei sein Lieblingswort auch losgeworden: „Wir kennen uns gut, sind uns aber auf dem Platz noch nicht begegnet. Er hat mir in Sachen Erfahrung viel voraus. Aber wir sind mutig und sprühen vor Elan. Außerdem spielt nicht Walter gegen Magath, sondern der HSV gegen Hertha BSC.“ Am mangelnden Selbstvertrauen dürften die Hamburger mit diesem Trainer nicht scheitern.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.