Das Vermächtnis einer Journalistin: Wer, wenn nicht wir …

Anna Politkowskaja geht in einem Buch von 2004 dem Phänomen Putin nach. Fazit: Seinem inhumanen System können nur die Russen etwas entgegensetzen.

Porträt der Journalistin Anna Politkowskaja

Die Journalistin Anna Politkowskaja Foto: imago

Anna Politkowskaja, Journalistin der Nowaja Gaseta, hat 2004 ein Buch geschrieben, „Putins Russland“. Es wurde sofort auf Englisch veröffentlicht und schnell in viele andere europäische Sprachen übersetzt. Darin zeichnete Politkowskaja ein umfassendes Porträt Putins. Es war eine Warnung an die Welt, aber Politkowskaja wurde nicht gehört. Zwei Jahre später, am 7. Oktober 2006, Wladimir Putins Geburtstag, wurde sie in Moskau vor ihrer Wohnung erschossen. Und heute ist all das, wovor sie gewarnt hat, genau so eingetreten – Tragödien, Blutvergießen und ein Krieg, den Putin führt. Hier einige Auszüge aus dem Buch:

Ich habe viel nachgedacht. Warum hat mich Wladimir Putin so wütend gemacht? Warum geht er mir so gegen den Strich, dass ich sogar ein Buch geschrieben habe? Obwohl – ich bin nicht seine Gegnerin oder politische Konkurrentin, sondern nur eine von vielen Bürger*innen, die in Russland leben. Einfach eine 45-jährige Moskauerin, die die Sowjetunion in all ihrer kommunistischen Fäulnis während der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts miterlebt hat – und dahin möchte ich nicht wieder zurück.

Ich habe mein Manuskript am 6. Mai abgeschlossen – mit Bedacht. Morgen wird alles vorbei sein. Die Anfechtung der Wahlergebnisse – es waren eh keine Wunder zu erwarten. Die Opposition hat allem zugestimmt und den Kopf eingezogen. Und so ist morgen der Tag der Amtseinführung von Putin-2, der mit einer wahnsinnigen Anzahl von Stimmen seiner Landsleute gewählt wurde – mehr als 70 Prozent. Selbst wenn man 20 Prozent wegen Fälschungen abzieht, wird das für die Präsidentschaft in Russland immer noch satt reichen.

Es sind nur noch wenige Stunden bis zum 7. Mai 2004. Und Putin, ein typischer Oberstleutnant des sowjetischen KGB, mit dem engen und engstirnigen Weltbild eines Oberstleutnants sowie dem unscheinbaren Aussehen eben desselben – Putin, der es nicht einmal bis zum Oberst gebracht und Manieren eines sowjetischen Geheimpolizisten hat, der daran gewöhnt ist, seine eigenen Kameraden professionell auszuspionieren, und zudem auch noch rachsüchtig ist (zur Amtseinführung wurde kein einziger Oppositioneller eingeladen, keine Partei, die sogar fast im Gleichschritt mit Putin marschiert); ein Putin, so klein und ein typischer Akaki Akakiewitsch à la Tschechow – dieser Mensch wird sich wieder auf den Thron setzen. Den großen russischen Thron.

Am 9. Mai 2022 jährt sich zum 77. Mal der Sieg der Roten Armee im „Großen Vaterländischen Krieg“ über Nazi-Deutschland. Diesen Tag beging schon die Sowjetunion, und Russland feiert das Kriegsende heutzutage mit einer großen Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau. Doch was hat der Kreml in diesem Jahr zu feiern? Seit 24. Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Kampf tobt aber auch an der Heimatfront: Opfer sind vor allem die unabhängigen Medien, die versuchen der staatlichen Propaganda etwas entgegenzusetzen. Mit allen Mitteln wird versucht diese Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Auch eine der letzten Bastionen des unabhängigen Journalismus, die Novaya Gazeta, ist von diesen Repressionen betroffen. Das Team der Novaya Gazeta Europe hat das Land verlassen, um die Arbeit fortsetzen zu können und denjenigen eine Stimme zu geben, die den Krieg niemals akzeptieren und nie unterstützen werden.

Angesichts von Zerstörung, Flucht, Elend, Tod und wachsendem Hass braucht es ein Zeichen der Solidarität. Auf Initiative der taz Panter Stiftung bringen wir zum Jahrestag Texte der Novaya Gazeta Europe heraus auf Deutsch, Russisch und Ukrainisch. Die Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Alle Texte erscheinen in der taz vom 9. Mai 2022 und online hier.

Leonid Breschnew war nicht gut für uns, Juri Andropow war blutig, jedoch mit einem Hauch von Demokratie. Konstantin Tschernenko war dumm. Michail Gorbatschow gefiel niemandem. Boris Jelzin war gezwungen, sich von Zeit zu Zeit taufen zu lassen – aus Angst vor den Folgen seiner Entscheidungen …

Sowjetische Rache

Und hier jetzt das Ergebnis. Am 7. Mai also wird die Wache der 25. Staffel Spalier stehen, wenn der Geleitzug aus VIP-Leuten vorbeikommt und dieser „Akaki Akakiewitsch Putin“ über die roten Teppiche der Kreml-Thronsäle schreiten wird.

So, als ob er dort in der Tat der Hausherr sei. Überall wird das Zarengold blitzen, Diener werden demütig lächeln, Mitstreiter – eine Auswahl niedriger Dienstränge des KGB, die ihre Posten erst unter Putin erhalten haben, werden Haltung annehmen. (…)

Mit der Ankunft und der Stärkung Putins ist die sowjetische Rache offensichtlich geworden. Diese verdankt sich nicht nur unserer Schlamperei und Apathie, weil uns die schier endlosen Revolutionen haben müde werden lassen. Das alles geschah unter dem Jubel des Westens. Allen voran Silvio Berlusconi – ein regelrechter Liebhaber und Putins wichtigster Anwalt in Europa. Genauso Tony Blair, Gerhard Schröder, Jacques Chirac, nicht zu vergessen George W. Bush aus Übersee. Niemand stand unserem KGB-Mann im Kreml im Weg. Weder der Westen noch eine ernst zu nehmende Opposition innerhalb Russlands. (…)

Ein kurzer Exkurs: Es geht nicht um Putin, sondern um uns, die russische Öffentlichkeit. Putinisten, das sind Leute, die ihn fördern und an seiner zweiten Inthronisierung interessiert sind. Leute, die sich jetzt in der Präsidialverwaltung konzentrieren, die in Wahrheit das Land regiert. Das tut weder die Regierung (sie exekutiert den Willen des Präsidenten) noch das Parlament (es nickt die Gesetze ab, die der Präsident will).

Zynische Verhöhnung

Sie alle verfolgen die Reaktionen in der Öffentlichkeit sehr genau. Es stimmt nicht, dass ihnen das egal ist. Und dass das so ist, bedeutet einiges. Die Verantwortlichen für das, was passiert, sind wir. Vor allem wir und nicht Putin. Unsere „küchengesprächsartigen“ Reak­tio­nen auf Putin und seine zynische Verhöhnung Russlands waren ein Freibrief für alles, was er in den vergangenen vier Jahren mit dem Land getan hat. Die soziale Apathie der Gesellschaft ist grenzenlos. Und sie gibt Putin auch für die kommenden vier Jahre freie Hand.

Wir haben auf seine Aktionen und Reden nicht nur mit Trägheit, sondern mit Angst reagiert. Wir haben den in den Machtstrukturen verwurzelten Tschekisten unsere Angst gezeigt. Und das hat nur ihren Wunsch verstärkt, uns wie Vieh zu behandeln. Der KGB respektiert nur die Starken – die Schwachen verschlingt er.

Sollten wir das nicht wissen? Und doch haben wir unsere Schwäche offenbart und wurden gefressen. Angst vor einem sowjetischen Tschekisten ist wie Honig. Für ihn gibt es kein besseres Geschenk, als zu spüren, wie der Menge die Knie zittern, die sich seinem Willen unterwerfen muss. (…)

Putin hat mehrfach öffentlich demonstriert, dass er im Grunde nicht versteht, was eine Diskussion ist – besonders eine politische. Denn Diskus­sio­nen zwischen denen, die unten, und denen, die oben sind, sollte es nicht geben. Sollte sich der Untergebene das dennoch erlauben, ist er ein Feind.

Tyrann und Despot

Putin verhält sich nicht absichtlich so, nicht weil er von Geburt an ein Tyrann und Despot ist – er wurde einfach so erzogen. Er denkt in Kategorien, die ihm der KGB eingebläut hat, und er hält dieses System für ideal. Das hat er mehr als einmal öffentlich gesagt. Und deshalb fordert Putin, sobald ihm jemand widerspricht, diese Hysterie zu stoppen. (Daher auch die Ablehnung von Debatten vor der Wahl – das ist nicht sein Ding, er ist dazu nicht fähig und weiß nicht, wie man einen Dialog führt.

Die tschetschnische Hauptstadt Grosny im Januar 2000

Die tschetschenische Hauptstadt Grosny im Januar 2000 Foto: reuters

Er monologisiert – gemäß dem militärischen Modell: Solange ich ein Unterling war, musste ich schweigen. Als ich aufstieg, sprach ich in Monologen. Und alle Untergebenen sind gezwungen, so zu tun, als seien sie einverstanden. Das ist eine Art ideologische Schikane, die manchmal in physische Vernichtung und Eliminierung übergeht.) (…)

Warum geht mir Putin gegen den Strich? Weil die Zeit verrinnt. Im Sommer sind bereits fünf Jahre vergangen, dass der zweite Tschetschenienkrieg angefangen hat und Putin erstmals Präsident werden konnte. Und es will kein Ende nehmen.

ALLE Morde an Kindern, die seit 1999 während der Angriffe und der Säuberungen stattgefunden haben, wurden nicht aufgeklärt und nicht von den Strafverfolgungsbehörden untersucht. Die Kindermörder haben nicht auf der Anklagebank Platz genommen. Putin hat das nie gefordert, obwohl er gern den großen Freund aller Kinder gibt. (…)

Leichen unschuldig Getöteter

Warum geht mir Putin gegen den Strich? Deswegen. Wegen dieser Primitivität, die schlimmer als Diebstahl ist. Wegen des Zynismus. Wegen des Rassismus. Wegen des endlosen Krieges. Wegen der Lügen. Wegen der Leichen unschuldig Getöteter, die seine ganze erste Amtszeit begleitet haben. Leichen, die nicht hätten sein dürfen.

Putin hat versehentlich eine große Machtfülle in die Hand bekommen und er hat sie genutzt, mit katastrophalen Folgen für Russland. Ich mag ihn nicht, weil er keine Menschen mag. Er erträgt uns nicht. Er verachtet uns. Er glaubt, dass wir für ihn ein Mittel zum Zweck seien, mehr nicht.

Ein Mittel, um seine persönlichen machtpolitischen Ziele zu erreichen. Mit uns kann er alles machen, spielen, wie es ihm gefällt. Man kann uns vernichten, wie es ihm beliebt. Wir sind nichts. Er jedoch ist jetzt der König und Gott, den wir anbeten und fürchten müssen.

Führer mit einer solchen Weltanschauung gab es bereits in Russland. Das führte zu Tragödien und großem Blutvergießen. Zu Bürgerkriegen. Ich will das nicht. (…)

Politische Winter

Es ist unmöglich, sich damit abzufinden, dass der politische Winter in Russland wieder mehrere Jahrzehnte andauern soll. Ich möchte so gerne leben. Ich möchte so gerne, dass unsere Kinder frei sind. Und dass auch die Enkel in Freiheit geboren werden. Deshalb will ich so gerne, dass es alsbald wieder taut. Aber nur wir können das Thermometer von Minus- auf Plusgrade anheben. Niemand sonst.

Auf ein Tauwetter aus dem Kreml zu warten, wie noch unter Michail Gorbatschow, ist dumm und unrealistisch. Auch der Westen wird uns nicht helfen, er reagiert verhalten auf Putins „Anti-Terror-Rezepte“. Dem Westen kommt das sehr zupass – Wodka, Kaviar, Gas, Öl, Bären, Menschen einer besonderen Art … Der russische Markt mit exotischen Dingen findet an seinem gewohnten Platz statt. Mehr brauchen Europa und die Welt von fast einem Siebtel der Erde nicht.

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Wegen des Krieges und der Zensur musste die russische Zeitung Novaya Gazeta ihre Veröffentlichungen einstellen – zum ersten Mal seit 1995.

Am 7. April wurde der Chefredakteur der Zeitung, der Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, in Moskau attackiert. Die Angreifer wurden gefasst, aber die russischen Behörden werden sie nicht juristisch belangen. Der Journalistenberuf ist in Russland praktisch verboten, die russische Gesellschaft durch Hass und Denunziantentum vergiftet. Wir, das Team der Novaya Gazeta Europe, haben das Land verlassen, um unsere Arbeit fortsetzen zu können und denjenigen eine Stimme zu geben, die den Krieg niemals akzeptieren und nie unterstützen werden. Wir wissen, dass es Millionen von uns gibt, auf beiden Seiten der Grenze, die jetzt wieder durch Europa geht. Menschen, die sich auf Russisch gegen den Krieg aussprechen – das sind unsere Leser und Autoren.

Die pro-europäischen und pro-ukrainischen Russen, die in ihrer Heimat mit der ständigen Angst vor Verhaftungen leben, oder im Exil außerhalb Russlands leben, ohne Arbeit und Zuhause – sie haben jetzt ein bisschen Zeit, zu jammern und zu klagen. Alle unsere Gedanken sind bei den Ukrainern. Wir wissen um die moralische Verpflichtung, die wir gegenüber den Menschen in der Ukraine haben.

Als Bürger des Aggressorlandes müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, um den Krieg zu stoppen. Die russische Gesellschaft ist noch zu schwach, um Putin durch Massenproteste aufzuhalten.

Aber es ist unsere journalistische Pflicht, so vielen Russen wie möglich wahrheitsgemäße Informationen über diese Katastrophe zu liefern, die der russische Präsident Wladimir Putin über die Ukraine, Russland und ganz Europa gebracht hat. Die Novaya Gazeta ist zuallererst die Idee von einer Zeitung, die nicht von der russischen Zensur kontrolliert wird und die Wahrheit schreibt. Diese Idee darf nicht zerstört werden.

Kirill Martinow, Chefredakteur der Novaya Gazeta Europe

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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