Hamburger Archiv-Schätze gehoben: Jazz aus der Bomb Factory

Wilde Zeiten in Hamburg-Ottensen: Der NDR veröffentlicht neue alte Konzertmitschnitte aus der „Fabrik“. Hörbar wird die Geschichte gelebter Gegenkultur.

Der Pianist McCoy Tyner im Profil

Ausgegraben: Pianist McCoy Tyner war mit seinem Trio und dem Trompeter Freddie Hubbard 1986 zu Gast Foto: Jörg Becker/NDR

HAMBURG taz | Pressekonferenzen in Ballsälen sind selten geworden. Zumal, wenn es darum geht, Neuigkeiten im Genre Jazz zu verkünden. Doch Joachim Becker hat offenbar gute Verbindungen zum schicken Hotel „Atlantic“ an der Alster. Also sitzt der Chef der Plattenfirma Jazzline über teurem Parkett unter Kronleuchtern und berichtet mit rheinischem Zungenschlag von seiner Begeisterung für eine norddeutsche Konzert-Location: „Alle von mir betreuten Künstler sagen das – wenn Hamburg, dann Fabrik.“

Becker kümmert sich auf seinem Label um Jazzgrößen wie Randy Brecker, doch in einer neuen Reihe geht es um längst Verstorbene. Konzerte von Arrangeur Gil Evans und Pianist McCoy Tyner machen den Anfang bei „Live at Fabrik“. Gemeinsam mit NDR Kultur hat Becker das Archiv des Senders durchforstet und veröffentlicht nun erstmals Konzertmitschnitte aus den Achtziger- und Neunzigerjahren.

1986 existierte das Kulturzentrum Fabrik im Hamburger Stadtteil Ottensen schon 15 Jahre und hatte sich international als Liveclub etabliert. Die „Bomb Factory“, wie US-Bands die ehemalige preußische Munitionsfabrik nannten, war einfach lässiger als vergleichbar große Jazz-Locations.

In der Musikhalle saß man und musste sich benehmen – an der Barnerstraße durfte man rauchen und Bier aus Gläsern trinken. Noch beim nachmittäglichen Soundcheck rasten Kinder auf ihren Rollschuhen durch den Zuschauerraum, neben der Bühne wurde getöpfert.

Balladen zu Gläserklirren

„Das war ein Schuppen – und zugleich ein Tempel.“ Stefan Gerdes’ Augen leuchten, wenn er von seinen ersten Konzerten in der Fabrik berichtet. Der Journalist, seit 20 Jahren Jazz-Redakteur beim NDR, erinnert sich daran, wie er als Teenager Anfang der Achtziger von Nordfriesland nach Hamburg trampte, um den Klarinettisten Michel Portal zu sehen.

Damals durfte man in der Fabrik auf drei Ebenen stehen, weit über 1.000 Zu­schaue­r*in­nen passten hinein. „Ich kenne das aus noch aus WGs in Einraumwohnungen – da hört man vorne immer, was hinten passiert“, so Gerdes. So manch sensibler Pianist fühlte sich beim Intonieren einer sensiblen Ballade durch Gläserklirren gestört.

„Live at Fabrik“: die Konzerte von McCoy Tyner/Freddie Hubbard Quartet (2CD/3LP/Download) und dem Gil Evans Orchestra (2CD/3LP/Download) sind seit 8. April erhältlich bei Jazzline/Broken Silence.

Ein Problem, das Gil Evans’ Band im Oktober 1986 nicht gehabt haben dürfte. Der kanadische Pianist und Komponist war zwei Jahre vor seinem Tod mit einer veritablen Allstar-Band zum jährlichen Jazz-Festival an die Elbe gereist. Evans leitete eine 16-köpfige Bigband, darunter Saxophonist Bill Evans und Gitarrist Hiram Bullock, dem es verblüffend gut gelang, sein Vorbild Jimi Hendrix zu emulieren. Nun wird der dreistündige Mitschnitt des Gil Evans Orchestra veröffentlicht.

Kaum jemand habe so gut zur ursprünglichen Idee der Fabrik gepasst wie Evans, heißt es in den beigelegten Liner Notes. Evans wirkte mit langen Haaren und Stirnband wie „einer der Geisterbeschwörer aus den Künstler-Kommunen, die das alternative Amerika der 70er- und 80er-Jahre so stark geprägt haben“.

Auf „Live at Fabrik“ beschwört Evans’ Band vor allem enorme Lautstärke herbei. Die Bigband rast durch ein elektrifiziertes Set mit mehreren Hendrix-Covern und beeindruckt mit instrumentaler Virtuosität. Zuweilen strengt der brachiale Fusion-Jazzrock mit überlangen Soli und gestrig wirkenden Synthesizer-Effekten an – das dürfte vor Ort besser gewirkt haben.

Vinyl-Sammler*innen werden sich über die aufwendige Machart mit dreifachem Gatefoldcover freuen. Hier verteilen sich die acht Songs gleich auf sechs LP-Seiten. Joachim Becker räumt mit der Legende auf, dass eine LP umso besser klingt, je weniger Musik man pro Seite darauf presst: „Das ist Esoterik. Ein guter Toningenieur bekommt auch 28 Minuten ohne Qualitätsverlust auf eine LP-Seite.“

Noch etliche Perlen im Archiv

Ohne Verluste ging es nicht zu, während Becker und Gerdes die mehr als 700 Mitschnitte auf analogen Bändern im NDR-Archiv sichteten. Digital ließen sich diverse Aufnahmefehler korrigieren, doch fehlte es oft an den nötigen Rechten, um die Konzerte kommerziell verfügbar zu machen.

Eine Lizenz für Konzerte des 1991 verstorbenen Trompeters Miles Davis? Unmöglich. Doch Becker macht Hoffnung, dass zumindest sagenumwobene Auftritte von Saxofonist Maceo Parker und Keyboarder Joe Zawinul aus den Nullerjahren bald veröffentlicht werden können. Im Herbst folgen zunächst Mitschnitte von Eddie Harris und den Brecker-Brüdern.

In den Archiven dürften noch etliche Audio-Perlen lagern – auch wenn sie heute ohne politische Bedeutung sind. War die Fabrik einst Inkubator einer alternativen linken Bewegung? Zumindest ist die Kinder- und Jugendarbeit in dem ehemaligen Arbeiterviertel Altona bis heute wichtig. Und neben Rappern und Electro-Poppern treten noch immer Liedermacher wie Frederik Vahle und Hans Söllner unter dem markanten Glasdach auf. Seltener gibt’s in der Fabrik des Jahres 2022 auch Jazz zu hören. Immerhin: Am 5. Mai spielt die NDR Bigband.

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