Berliner Grünen-Spitze im taz-Interview: „Wir haben als Grüne die Konzepte“

Susanne Mertens und Philmon Ghirmai leiten als Duo den Berliner Grünen-Landesverband. Über den Anspruch „alle mitzunehmen“ in dieser Stadt.

Portrait von Susanne Mertens und Philmon Ghirmai

Wollen An­sprech­part­ne­r*in­nen der Stadtgesellschaft sein: Philmon Ghirmai und Susanne Mertens Foto: Doro Zinn

taz: Frau Mertens, Herr Ghirmai, wie ist denn eigentlich gerade die Stimmungslage bei Ihnen im Grünen-Landesverband?

Susanne Mertens: Ich nehme eine gute Stimmung wahr. Ich nehme Aufbruchstimmung wahr – dass jetzt genau die Zeit ist, etwas zu bewegen. Klimaschutz, Energiewende, das sind jetzt die Themen, die nach vorne getrieben werden müssen – nicht nur in Berlin, sondern bundesweit.

Wir hätten jetzt eher gedacht, dass es da aktuell ein paar Bauchschmerzen gibt – immerhin geht ein grüner Wirtschaftsminister gerade fossile Energien bei zweifelhaften Geschäftspartnern einkaufen, der Wehretat wird erheblich erhöht, und man diskutiert über längere Laufzeiten von Atomkraftwerken …

Mertens: Wir haben als Grüne die Konzepte, wir haben jetzt die Chance, alle mitzunehmen, und das ist die große Herausforderung und unsere Aufgabe: die grünen Kernthemen Klimaschutz und Energiewende nach vorne zu bringen.

Der promovierte Historiker Philmon Ghirmai war Vorstandssprecher der Grünen in Neukölln und ist jetzt gemeinsam mit Mertens Landesvorsitzender der Berliner Grünen. Die studierte Betriebswirtin Susanne Mertens war viele Jahre Kreisvorsitzende der Grünen in Steglitz-Zehlendorf und Fraktionsvorsitzende sowie schulpolitische Sprecherin der Grünen im Bezirk.

Meinen Sie, dass die Grünen-Basis das auch so positiv interpretiert wie Sie?

Philmon Ghirmai: Niemand nimmt die aktuelle Situation leicht. Und natürlich ist es für uns Grüne keine Selbstverständlichkeit, Rüstungsgüter in ein Kriegsgebiet zu exportieren. Zugleich hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung. Diese Diskussionen führen wir parteiintern sehr ernsthaft und offen. Und zur Energiepolitik: Ja, auch deren sicherheitspolitische Dimension ist nun noch deutlicher geworden. Damit steigt der Druck, unabhängiger zu werden von fossilen Energieträgern – ob das jetzt Windkraft oder Solardächer sind. Umso mehr müssen wir Berlin-Brandenburg als Metropolregion zusammendenken, wenn wir zu einer stärkeren Unabhängigkeit bei der Energieversorgung kommen wollen.

Gehen wir mal in die Berliner Landespolitik: Die Besetzung der Kommission, die einen Gesetzentwurf für die Enteignung großer Wohnkonzerne erarbeiten soll, steht nun weitgehend fest. Was hoffen die Grünen eigentlich zu erreichen?

Ghirmai: Wir wollen dem Volksentscheid gerecht werden.

Was heißt das für Sie?

Ghirmai: Wir wollen der komplexen Sachlage gerecht werden. Dieser Artikel 15 im Grundgesetz wurde noch nie angewendet. Damit gehen verfassungsrechtliche Fragen einher, die kann man nicht nur mit Gutachten klären. Es kann aber nicht nur um das Ob gehen, sondern es muss auch über das Wie gesprochen werden. Dazu gehören etwa auch immobilienwirtschaftliche und finanzpolitische Aspekte. Wir wünschen uns eine produktive Diskussion und dass der Senat am Ende eine Grundlage hat, um über ein Gesetz zu entscheiden.

In der Linken gibt es vermehrt Stimmen, die sagen: Wenn die Ziele der Initiative nicht durchkommen, wenn das Parlament am Ende kein Enteignen-Gesetz verabschiedet, dann ist die Koalition vorbei. Wie beurteilen Sie das?

Mertens: Das ist jetzt der Blick in die Glaskugel. Das primäre Ziel ist, dass die Kommission sich sachorientiert dem Thema widmet und sich jeder in der Kommission gut abgebildet fühlt.

Die Grünen haben es bisher nicht geschafft, klar zu sagen, ob sie nun für oder gegen Enteignungen sind – richtig?

Mertens: Also, wenn wir sagen, wir wollen eine Kommission, die sich dem Thema sachorientiert zuwendet, dann ist es nicht vorteilhaft, das Ergebnis vorwegzunehmen. Der Auftrag muss jetzt sein an die Kommission: Bitte, füllt diesen Auftrag mit Leben.

Ghirmai: Wir sind beim Enteignen-Thema als Grüne klar positioniert! Und in der Koalition gab es bei dieser Frage eine klare Einigung auf das weitere Vorgehen.

Das stimmt – aber Sie als Landesvorsitzende könnten ja unabhängig von der Koalition eine eigene Position haben. Erwartet das die Grünen-Basis nicht auch von Ihnen?

Ghirmai: Ja, aber Alleingänge bringen jetzt nichts für die Sache. Und darüber hinaus sind wir intern durchaus in sehr guten Gesprächen.

Mit Bettina Jarasch verantworten die Grünen in dieser Koalition das wichtige Ressort für Verkehr und Umwelt. Konnte Jarasch schon Akzente setzen?

Ghirmai: Ich habe schon den Eindruck, dass wir etwa bei der Verkehrswende schon einen Schritt vorangekommen sind.

Wo denn konkret?

Ghirmai: Die Mobilitätswende ist ein Thema, das dezentral und mit den Bezirken vorangebracht werden muss. Insofern sind wir sehr optimistisch, weil wir seit den Wahlen im Herbst auch ungewöhnlich viele grüne Stadt­rä­t*in­nen stellen, die auf Bezirksebene dieses Thema verantworten.

Das ist jetzt aber nicht unbedingt das Verdienst von Bettina Jarasch.

Ghirmai: Ich will sagen: Wir haben als Grüne für die Mobilitätswende nicht nur Bettina Jarasch. In der Senatsverwaltung kann bei ihr viel zusammenlaufen: Sie ist für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und der Fahrradschnellwege zuständig, die Bezirke etwa für Themen wie Kiezblocks oder den Ausbau des Fahrradnetzes in den Nebenstraßen. Bettina Jarasch sorgt dafür, dass das in Zukunft besser koordiniert wird und man zügiger in die Umsetzung kommt, etwa beim Ausbau des Radwegenetzes. Das ist auch ein großes Versprechen, das wir erfüllen müssen. Denn die Leute wollen ja die Verkehrswende.

100 Tage ist die rot-grün-rote Koalition am Donnerstag im Amt. Eine erste Bilanz zur Arbeit der Berliner Landesregierung wollen die Grünen am Samstag, 2. April, auf einem Parteitag ziehen – wegen der Pandemie bleibt die Aussprache im virtuellen Raum, es soll einen Livestream geben.

Gesundheit Außerdem wird ein Leitantrag des Landesvorstands für ein „grünes Gesundheitsnetzwerk für Berlin“ diskutiert. Die definierten Ziele: niedrigschwelligere Zugänge zu medizinischer Versorgung, gerade auch für ältere Menschen, Kinder aus benachteiligten Familien und für Menschen mit Beeinträchtigungen. Auch der klimagerechte Umbau der Stadt im Dienste des Gesundheitsschutzes wird thematisiert: Im „Hitzejahr 2018“, heißt es in dem Antrag, seien „allein in Berlin fast 500 Menschen mehr hitzebedingt verstorben als in durchschnittlichen Vergleichsjahren.“ (akl)

Die Leute“, sagen Sie: Wenn dem so wäre, dann wären die ersten E-Autos, die Tesla seit vergangener Woche in Grünheide ausliefert, keine SUVs. Dann wären das Kleinwagen für jene ohne guten ÖPNV-Anschluss.

Mertens: Ich glaube, das sind jetzt sehr viele Themenkomplexe auf einmal.

Warum? Die Mobilitätswende setzt eine Verhaltensänderung voraus. Die ist aber im praktischen Handeln – beim Tesla-Beispiel: das Käuferverhalten – oft nicht zu erkennen.

Mertens: Ich glaube, worüber große Einigkeit herrscht, ist, dass die Mobilitätswende vollzogen werden muss. Die Stadt läuft mit Autos zu, das muss man gar nicht mehr erklären. Diese Einigkeit habe ich zumindest im Wahlkampf erlebt. Wir sind auch gewählt, weil die Menschen von uns erwarten, dass wir die Lösungen liefern. Konsens sehe ich auch darüber, dass CO2 reduziert werden muss, aber die Alternativen zum Auto auch klar dargestellt werden müssen: Dass ich trotzdem individuell mobil bleibe.

Wie sehr hat es Sie geärgert, als sich die Regierende Franziska Giffey im Februar öffentlich dafür aussprach, den Ausbau der U7 zum BER zu priorisieren – obwohl Verkehr das Ressort von Jarasch ist?

Ghirmai: Wir haben bei der Mobilität ja schon in der letzten Wahlperiode viel auf den Weg gebracht, und ich lese das Wahlergebnis auch als eine Bestätigung dieser Politik. Da geht es auch nicht nur ums Fahrrad: Wir haben einen unfassbar guten Nahverkehrsplan beschlossen, der letzte Senat hat Verkehrsverträge vereinbart, über die Milliardeninvestitionen in den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs fließen. Um unser Ziel einer autoarmen, teilweise autofreien Stadt zu erreichen, müssen wir allen Ber­li­ne­r*in­nen auch wirklich ein Angebot machen, das ihnen den Umstieg auf den öffentlichen Nahverkehr ermöglicht. Wir haben Ideen zur Verkehrswende, die anderen Parteien eben auch – das gehört dazu.

Die Frage zielte mehr darauf, wie sehr es bei den Grünen Unmut darüber gibt, dass Frau Giffey nun in der öffentlichen Wahrnehmung mit dem U-Bahn-Ausbau verbunden wird.

Mertens: Es geht nicht um einen Wettlauf. Es geht nur zusammen und gemeinsam. Und dazu gehören Ideen. Die kann man aufnehmen, die kann man verwerfen. Wir haben dazu in der Koalition einen Weg vereinbart, und den gehen wir jetzt.

Ghirmai: Unsere Leute interessieren sich für Ergebnisse, nicht für Ankündigungen.

Die Mobilitätswende drängt, und sie kostet viel Geld. Nun muss das Land auch noch Zehntausende Geflüchtete versorgen. Wird am Ende nicht genug Geld für alles da sein?

Ghirmai: Es gibt ja Verkehrsverträge, die geschlossen worden sind.

Die muss man aber auch bezahlen.

Philmon Ghirmai

„Unsere Leute interessieren sich für Ergebnisse, nicht für Ankündigungen.“

Ghirmai: Der Einzelplan liegt gerade beim Parlament …

Es geht ja auch nicht um den gerade im Parlament diskutierten Haushalt, sondern um die Finanzen der nächsten Jahre.

Ghirmai: Wir haben eine globale Klimakrise. Das war kein Wahlkampf-Gag der Grünen, das ist bittere Realität. Das heißt, wir müssen Berlin klimaneutral umbauen. Dafür müssen wir massiv investieren, vor allem in die Verkehrs- und in die Wärmewende. Deswegen stellt sich die Frage gar nicht, ob das Sachen sind, die wir einsparen können, um etwas anderes zu finanzieren. Ganz im Gegenteil: Mobilitätswende und Energiewende, das muss stattfinden.

Dürfen für mehr Klimaschutz die Mieten teurer werden? Energetische Sanierung gibt es ja nicht für umsonst.

Ghirmai: Das muss so ausgestaltet sein, dass die Menschen natürlich trotzdem ihre Wohnung behalten können. Das ist für uns Grüne gar keine Frage: Dass wir eine soziale Mie­ter*n­nen­par­tei sind, ist zumindest in Berlin urgrünes Selbstverständnis. Wir sind da sehr klar positioniert – auch was den Schutz der BestandsmieterInnen angeht. Wir sagen nicht, dass die Lösung nur in Bauen, Bauen, Bauen besteht. Wir sagen sehr klar: Die soziale Frage löst sich im Bestand.

Was dieses Selbstverständnis angeht: Sie sind nun gut dreieinhalb Monate im Amt – wo wollen Sie hin mit dem Landesverband, der in letzter Zeit enorm gewachsen ist?

Mertens: Wir wollen Berlin zu einer sozialen, klimaneutralen Zukunftshauptstadt machen. Wir Grüne haben den Anspruch, in dieser Stadt alle mitzunehmen und weiterhin vorne mitzuspielen. Da ist es wichtig, Strukturen zu schaffen, um die Beteiligung der Mitglieder zu gewährleisten und trotzdem operativ zu bleiben. Auch nach außen hin wollen wir die An­sprech­part­ne­r*in­nen für die Stadtgesellschaft sein. Im Wahlkampf haben wir erlebt: Wir Grüne sind das schon für viele, und wir werden auch gesehen als diejenigen, die sich um die Lösung der Probleme kümmern.

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