Internetzensur in Russland und China: Die listige Räuberin

Putin schottet das Internet ab, um den Krieg so zu erzählen, wie er will. In China kann man derweil sehen, dass man sich an Zensur auch gewöhnen kann.

Menschen warten auf die U-Bahn und schauen auf ihr Handy

Seit Langem träumt Wladimir Putin von einem abgeschotteten Netz Foto: Sergei Bobylev/imago

Russland macht zu. Nicht erst jetzt natürlich. Das fing schon früher an. Schon vor dem Krieg, im vergangenen Mai, stand das Land auf Platz 150 von 180 im Index der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen. Auf der eingefärbten Weltkarte, die dazu veröffentlicht wird, ist Russland rot wie ein Hummer, das steht für „schwierige Lage“. Nicht ganz so tiefrot wie China, Syrien oder Eritrea. Aber eben schon sehr rot.

Krieg macht alles schlimmer, und auch im Internet geht es um Macht. Neben der ganz unmittelbaren Bedrohung und dem Leid, das Putin den Ukrai­ne­r*in­nen gerade zufügt, mag die Abschottung des russischen Internets wie ein Nebenschauplatz erscheinen. Aber sie ist ein wesentlicher Teil der Kriegsführung und der Macht, die für Putin besonders von Interesse ist. Es geht um die Deutungshoheit darüber, wie dieser Krieg, seine Gegenwart und seine Geschichte erzählt wird: in Bildern, Sätzen, durch Stimmen.

Am 4. März 2022 verabschiedete das russische Parlament ein Gesetz, das „Falschaussagen“ über das russische Militär mit bis zu 15 Jahren Haft ahnden kann. Am gleichen Tag kappte die staatliche Zensurbehörde Roskomnadsor den Zugang zu Facebook und Twitter. Und zwei Tage darauf berichtete das unabhängige Medienprojekt „Nexta“, dass Russland plane, sich bis Mitte März völlig vom globalen Internet abzuschotten.

Währenddessen konnte man auf Twitter lesen, wie Menschen davon erzählten, Familie und Freun­d*in­nen an Putins Version der Wahrheit verloren zu haben, und wie dieser Verlust sie schmerzte. Weil auch diese Menschen Opfer des Kriegs werden. Weil eine Trennung vom globalen Internet auch eine Trennung von der Welt bedeutet. Weil Putin zu einem Klumpen zusammendrückt, was zuvor noch etwas weiter war – oder zumindest die Chance hatte, weiter zu werden.

China, dunkelrot eingefärbt

Ich habe niemals jemanden auf diese Weise verloren, dabei habe ich Familie und Freun­d*in­nen im dunkelrot eingefärbten China, das aktuell auf Platz 177 von 180 im Index der Pressefreiheit geführt wird. Ich erinnere mich auch an keinen einschneidenden Moment, in dem auf einmal alles anders war. Da kam kein Diktator mit einer Axt, hackte unter den Augen der restlichen Welt Kabel durch und meine Welt entzwei.

Da steht vielleicht eher ein Sternekoch in der Küche, seit Jahren, meistens leise, aber mit einer Selbstverständlichkeit, als gehörte er zum Inventar. Er schneidet langsam mit einem scharfen Messer meine Welt in Scheiben, und wenig später stopfe ich sie mir persönlich in den Mund.

In China ist Zensur einfach da, und es ist gar nicht so schwer, sie im Alltag wie Hintergrundmusik laufen zu lassen. In den Neunzigern und frühen Zweitausendern wusste ich nichts von ihr oder über sie. Das war okay, ich war schließlich ein Kind. Als Google sich 2010 aus China zurückziehen musste, war ich stolz zu wissen, wie man Schriftzeichen in die chinesische Suchmaschine Baidu tippt. Und seit die ganze Familie Smart­phones hat, bin ich froh mit ihnen über WeChat per Video telefonieren zu können. Hauptsache wir sehen uns. Wenn es dafür eine andere App braucht, ist das eben so. Wir sind durch das Internet viel näher zusammengerückt, während Zensur in China zugleich immer mehr zugenommen hat.

Es geht uns ja gut. Das ist eine oft unterschätzte Eigenschaft von Zensur – dass sie für viele ein aushaltbarer Umstand sein kann. Dass man sich an sie gewöhnt. Wenn du zuerst in einer anderen Welt gelebt hast, dann tut es höllisch weh, wenn jemand sie dir plötzlich mit aller Gewalt entreißt. Aber es gibt auch Szenarien, in denen viele Menschen sich mit ihr arrangieren können. Das klingt hart, das ist schlimm, aber es ist auch einfach pragmatisch.

Wunderschöne Landschaften in Xinjiang

Gut leben mit Zensur geht dann, wenn gut leben zunächst einmal bedeutet, dass man ein Dach über dem Kopf hat und genug zu Essen. Dass man es besser hat als noch die Eltern oder man selbst, als man ein Kind war. Meine Großmutter ist in einer Hütte ohne Heizung, Strom und Toilette aufgewachsen. Eine ihrer Töchter wurde als Jugendliche zehn Jahre aufs Land verschickt, und statt einer Ausbildung blieb ihr danach nur die Heirat.

Vom Rückspiegel des Autos meines Cousins baumelt seit Jahren ein goldgerahmtes Mao-Porträt. Früher hat er manchmal gesagt: „Wir haben Mao auch vieles zu verdanken“, jetzt teilt er häufiger Gifs mit flatternder Nationalflagge und Lob­preisungen der Kommunistischen Partei. Als ich liebe Grüße aus Taiwan sendete, schrieb er mir, dass China doch viel besser sei. Ich habe keine ­Ahnung, ob er das wirklich glaubt oder ob er nur denkt, es in unseren Chatverlauf schreiben zu müssen. Solche Fragezeichen tun weh, auch wenn sie dem Körper keinen unmittelbaren Schaden zufügen.

Das Versprechen des Internets war mal eine größere und zugleich erreichbarere Welt – doch wenn man es abschottet, bleibt oft nur ein perfektes Gewächshaus für Nationalismus. Das gilt für den digitalen Raum genauso wie für den analogen. Doch selbst ein abgeschotteter digitaler Raum kann noch immer einer voller Möglichkeiten sein.

Im chinesischen Internet kann man eigentlich alles: Essen bestellen und Fußballtickets kaufen, Aktienkurse checken, shoppen, mit Freun­d*in­nen chatten, lustige Filter über das eigene Gesicht und das seines Kindes legen, Restaurantbewertungen schreiben, Katzenvideos gucken und Nachrichten schauen. Obwohl Medien staatlich kontrolliert werden, kann man wissen, was in der Welt geschieht. Man kann ein Porträt über Olaf Scholz lesen und Analysen zum neuen IPCC-Bericht.

Bilder von den Friedensdemos gibt es nicht

Man erfährt auch, dass Krieg ist in der Ukrai­ne – allmählich, nachdem staatliche Medien und politische Führung lange von einer „Militäroperation“ geredet haben, in Anlehnung an das russische Framing. Aber man bekommt eben nur jene Erzählungen über die Welt, die der Kommunistischen Partei zusagen, die sie für unbedenklich hält. Bilder von den vielen Friedensdemos zeigt das Fernsehen nicht.

Ohne VPN-Zugang lässt sich keine Verbindung zur New York Times herstellen oder zu Instagram, Facebook, Twitter – die Liste ist noch viel länger. Internetfirmen stellen schon seit Jahren Leute ein, die nur für die Zensur der von Use­r*in­nen hochgeladenen Inhalte zuständig sind. CCTV zeigt ständig wunderschöne Landschaften und lächelnde Minderheiten in Trachten statt der Internierungslager in Xinjiang.

Bevor man Menschen an die Zensur verliert, weil sie an eine zurechtkuratierte Version der Wahrheit glauben, noch davor verliert man etwas anderes an die Angst. Was genau das ist, weiß ich nicht. Vielleicht ist es Freiheit. Also nicht die, die hierzulande in Maskenpflicht- und Tempolimit­debatten verhandelt wird. Ich meine die andere Freiheit. Die, über deren Verletzung man kein großes Aufsehen erregen will, mit der man sich eben irgendwie arrangiert.

Die, deren Einschränkung oft Schweigen zurücklässt. Das wird dann glattgestrichen wie eine Tischdecke in jeder guten Familie, die mit aller Kraft versucht, ein wenig Privates vor dem Politischen zu schützen. Die sich entscheidet nicht von Politik zu sprechen, weil sie weiß, dass manches sonst unwiederbringlich kaputt geht. Denn Zensur ist eine listige Räuberin. Sie raubt nicht nur die Worte anderer, die du nicht mehr lesen und hören kannst, sondern auch solche, die dir selbst auf der Zunge oder dem Herzen liegen.

Die Dinge bleiben im Hals stecken

„Die ganze Welt ist gleich“, hat mein Cousin mal gesagt, als wir über absurde Immobi­lien­preise sprachen. Überall gleich ist auch, dass Menschen zu oft still sind und schlucken, bis ihnen die Dinge im Halse stecken bleiben und sie schlimmstenfalls an ihnen ersticken. Anders ist aber, dass es hier leicht ist sich zu informieren und zumindest im Verhältnis eher ungefährlich sich zu versammeln, zu protestieren, Kritik an der Regierung zu üben – auch wenn manche lautstark das Gegenteil behaupten. Leicht ist auch, anderen gewaschene Gehirne und Feigheit vorzuwerfen, wenn man selbst keine Konsequenzen zu befürchten hat.

Manchmal fühlt es sich an, als würde der Westen nur auf die nächsten Dis­si­den­t*in­nen warten, die sich dann als möglichst tragische Hel­d*in­nen in Szene setzen lassen. Wäre es nicht hilfreicher sich zu fragen, wie man den Kampf gegen Zensur als globale Aufgabe begreift? Wie wir die Orte, an denen man tatsächlich kaum noch etwas sagen darf, nicht sich selbst überlassen, besonders jetzt, während Nationalismus weltweit erstarkt und viele Länder sich mit den innenpolitischen Folgen der Pandemie beschäftigen müssen?

Das ist nicht leicht, sicher, und die Wege, von außen Einfluss zu nehmen werden enger, wenn Jour­na­lis­t*in­nen ausreisen und aus einem World Wide Web nationale Netzwerke werden. Aber man sollte es versuchen. Man muss.

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Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Ihr erster Roman 'Wovon wir träumen' erschien 2022 bei Piper. Zuletzt wurden ihre Kurzgeschichten in Das Wetter Buch für Text und Musik und Delfi Zeitschrift für Neue Literatur veröffentlicht.

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