piwik no script img

„Wir müssen eine Ära der Renaturierung einläuten“

Muss für den Ausbau der Erneuerbaren der Artenschutz weichen? Im Gegenteil, sagt Kai Niebert, Präsident des Naturschutzrings – und erklärt das am Beispiel des Rotmilans, des Wappentiers der Windkraftgegner

Es sind nicht die Windräder. Was dem Rotmilan vor allem zu schaffen macht, ist die intensive Landwirtschaft, sagt Kai Niebert: „Die Vögel finden nichts mehr zu fressen“ Foto: Paul Langrock

Interview Hanna Gersmann

taz am wochenende: Herr Niebert, wie viel ist ein Rotmilan wert?

Kai Niebert: Er ist unbezahlbar, genauer: Das intakte Ökosystem ist es.

Echt, so teuer? Deutschland will aber schnell weg von Öl, Gas, Kohle – nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine erst recht.

Natürlich, das ist eine Zäsur. Und für die eneuerbaren Energien gilt jetzt: „What ever it takes“, was notwendig ist, muss getan werden. Das heißt aber nicht, alle anderen Gefahren aus dem Blick zu verlieren. Ein Ökosystem ist wie ein Jenga-Spiel. Da hat man einen Turm aus Holzklötzen. Ziehe ich den falschen Stein raus, bricht alles zusammen. Schon heute sind Menschen auf der Flucht, weil Ökosysteme nicht mehr intakt und Böden unfruchtbar geworden sind. Darum darf eine Art nicht in Bedrängnis geraten. Darum gibt es Schutzmechanismen …

… darum muss, wer ein Windrad aufstellen will, derzeit sicherstellen, dass kein einziger Rotmilan, kein Schreiadler, kein Großer Abendsegler damit kollidiert. Der Ausbau der Ökoenergien kommt so nicht voran.

Der Rotmilan ist nicht das Problem der Energiewende!

Was denn dann?

Es gibt keine Flächen für Windräder, weil es willkürliche Abstandsregeln zu Wohngebieten gibt, zu Radaranlagen, zu Bundeswehrflächen. Hier brauchen wir eine Lösung – und zwar spätestens seit Putins Krieg heute und nicht erst morgen.

Der Rotmilan spielt gar keine Rolle?

Doch. Auch. Sollte der Rotmilan hierzulande seltener werden, wird er womöglich aussterben, denn mehr als die Hälfte der Spezies brütet in Deutschland. Also müssen wir dafür sorgen, dass die Populationen stabil genug sind, dass das Ökosystem es verkraftet, wenn einer mit einem Windrad kollidiert. Nur ist das gar nicht die größte Gefahr für den Rotmilan.

Sondern, weil sie von Autos überfahren werden?

Ja. Greifvögel wie der Rotmilan sterben, weil sie von einem Auto oder auch einem Zug erfasst werden. An manchen Streckenabschnitten der Bahn sind es bis zu 61 Greife im Jahr. Und mindestens 18 Millionen Vögel sterben jedes Jahr, weil sie gegen Glasgebäude fliegen. Was Vögeln aber vor allem zu schaffen macht, ist die intensive Landwirtschaft. Sie finden auf den Äckern nichts mehr zu fressen.

Das heißt?

Wir sollten das Problem da lösen, wo es entsteht: zum Beispiel in der Landwirtschaft. Und nicht dort, wo es sich zusätzlich verschärfen könnte: am Windrad. Schaffen wir es, dass der Rotmilan wieder mehr Platz hat, wird die Energiewende leichter. Sie scheitert nicht am Naturschutz. Sie gelingt nur mit Naturschutz. Im Europäischen Artenschutzrecht steht nicht, dass nie ein Vogel sterben darf. Da ist geregelt, dass der günstige Erhaltungszustand sichergestellt werden muss. Nur wo eine Art aussterben könnte, greifen die strengen Schutzmechanismen.

Bis sich der Rotmilan wieder wohlfühlt, ist es längst 2030, da sollen die meisten Windräder schon stehen.

Wir hätten schon vor 15 Jahren anfangen müssen, durch die Blockaden in Bundes- und Landespolitik haben wir viel Zeit verloren. Doch jetzt ist keine Zeit mehr, um erst mal große Evaluationsprogramme zu machen, wie sich der Bestand der Rotmilane erholt. Jetzt müssen wir das parallel machen, ein Monitoring hochfahren und den Ausbau der Windkraft beschleunigen und dann nachsteuern.

Aber das hieße, EU-Recht zu ignorieren. Das schreibt vor, bei bedrohten Vogelarten jedes einzelne Tier zu betrachten.

Das wäre schon dann anders, wenn Deutschland zehn Prozent der land- und forstwirtschaftlich genutzten Fläche für den Naturschutz freistellt. Dort würde weniger intensiv gewirtschaftet, keine Chemie gespritzt, riesige Äcker mit Monokulturen würden ersetzt durch kleinere Felder. Es gäbe mehr Wiesen. Rotmilan und andere fänden dort Futter, Ruhe. Der Erhaltungszustand wird sich verbessern.

Foto: F.: Jürgen Heinrich/imago
Kai Niebert

Der Naturschützer

Kai Niebert, 42, ist Professor für „Didaktik der Naturwissenschaften und der Nachhaltigkeit“ an der Universität Zürich und seit 2015 Präsident des Deutschen Naturschutzrings (DNR), des Dachverbands der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzorganisationen, die rund 11 Millionen Menschen erreichen. Er ist regelmäßig als Politikberater gefragt, war Mitglied der Kohlekommission der Regierung und saß auch in der Zukunftskommission Landwirtschaft.

Das macht ihm Angst

„Dass wir nicht schnell genug sein werden, um die Artenkrise und die Klimakrise gemeinsam zu lösen.“

Das macht ihm Hoffnung

„Dass nun allen klar ist, dass wir mit klug ausgebauten erneuerbaren Energien nicht nur das Klima schützen, sondern uns auch unabhängig von fossilen Autokraten machen können.“

Das sagen Sie so.

Wir wissen mittlerweile recht gut, was dem Rotmilan hilft. Sobald diese Rückzugsräume geschaffen sind, kann der gute Erhaltungszustand per Regelannahme festgestellt werden. So nennen es Juristen, wenn ein allgemeiner Erfahrungssatz zur Anwendung kommt. Das lässt sich im Bundesnaturschutzgesetz regeln. Ist die Erhaltung gesichert, wäre nicht mehr jedes Individuum zu schützen. Das würde vieles deutlich vereinfachen.

Heute braucht es schon mal sieben Jahre, bis ein Windrad steht – und künftig?

Wir lösen damit nicht das Problem von Windanlagenbauern und Behörden, die derzeit Fachkräfte suchen. Aber die Zeit von der Einreichung der vollständigen Planungsunterlagen bis zur Genehmigung sollte nicht mehr länger als ein halbes Jahr dauern.

Aber so bekommen Sie Ärger mit der eigenen Seite, weil Sie Klagerechte von Umweltverbänden aushebeln…

… Nein, ich hebele nichts aus, ich schaffe Klagegründe beiseite. Naturschützer stehen nicht gerne im Gerichtssaal, sondern lieber im Grünen. Es geht doch darum, den Zustand der Natur zu verbessern. Während es bei der Klimakrise in Deutschland noch fünf vor zwölf ist, ist die Uhr beim Artensterben längst abgelaufen. Da sind die planetaren Belastungsgrenzen überschritten. Wir müssen ein Zeitalter der Renaturierung einläuten.

Sie riskieren in jedem Fall, dass wegen Ökoauflagen wütende Bauern wieder mit ihren Traktoren nach Berlin fahren.

Wenn die Gesellschaft sich für mehr Naturschutz entscheidet, dann müssen die Landwirte natürlich unterstützt werden. Die Kosten für die zehn Prozent Fläche, in der Natur wieder mehr Raum bekommen soll, liegen bei etwa einer Milliarde Euro pro Jahr. Das hat die Zukunftskommission Landwirtschaft, die noch Kanzlerin Angela Merkel eingesetzt hat, schon grob überschlagen und für gutgeheißen. Damit könnten geringere Erträge ausgeglichen und dabei geholfen werden, dass Landwirte neue Geschäftsmodelle entwickeln. Im Tourismus zum Beispiel. Viele suchen doch Erholung auf dem Land.

Wie wird das Land dann aussehen?

Bis 2030 muss die Fläche, auf denen Windräder stehen, verdreifacht werden. An manchen Orten werden die Anlagen deutlich unkomplizierter gebaut werden, weil es kein Problem mehr ist, wenn dort zufällig ein Rotmilan vorbeizieht. Es wird Regionen geben, in denen Windräder stehen, aber abgestellt werden, wenn zum Beispiel Zugvögel im Spätherbst gen Süden, Anfang Frühling wieder nach Norden ziehen. Dafür gibt es längst Technik. Und wo sich Rotmilane konzentrieren, wird es Tabuzonen geben. Das werden aber nicht viele sein.

Wie machen Bür­ge­r:in­nen ihren Frieden mit Windrädern?

Im besten Fall gründet das Dorf oder die Kleinstadt eine Genossenschaft. Natürlich werden wir aber auch Energieunternehmen haben, die irgendwo Windparks hinsetzen. Dann müssen Gewinne in die Region zurückfließen. Machen wir uns nichts vor, derzeit findet ein Großteil der Klagen gegen Windräder nicht wegen Artenschutz statt.

Viele wollen das Windrad einfach nicht hinter dem Haus. Natur, unverbauter Blick – das genießen Umweltschützer auch.

„Wenn Deutschland zehn Prozent der landwirt- schaftlichen Fläche für Naturschutz freistellt, fänden Rotmilan und andere Futter und Ruhe“

Wir kommen mit dem Bewahren nicht weiter. Wir müssen unser Bild von Landschaft verändern. Das hat sich ja immer verändert. Den Rotmilan würde es hier sonst auch nicht geben. Der braucht die offene Flur, die gab es aber erst als Mitteleuropa im Mittelalter abgeholzt wurde. Wir leben ja nicht in einer Naturlandschaft, sondern in einer Kulturlandschaft. Sie verändert sich stetig. Sie muss es. 80 Prozent der Menschen in Deutschland haben auch gar kein Problem mit der Windenergie.

In Umfragen.

In diesen Umfragen zeigt sich, dass besonders dort, wo schon Windenergieanlagen stehen, die Zustimmung höher ist. Gegen Windanlagen ist nur eine sehr kleine Minderheit in Deutschland. Davon ist es nur ein Bruchteil, der lautstark auf die Straßen geht. Da gibt es – wenn man soziologisch drauf guckt – große Schnittmengen mit jenen, die gegen alles sind, was von oben kommt. Die sind gegen Windkraft, gegen Corona-Maßnahmen, Klimaschutz. Da muss sich eine Gesellschaft überlegen, wie sie sich vor den Karren spannen lassen will.

Wer muss was tun?

Klimaminister Robert Habeck muss von der Energiewirtschaft das Geld besorgen, damit Naturschutzministerin Steffi Lemke den Artenschutz stärken kann. Und Agrarminister Cem Özdemir muss dafür sorgen, dass dieser auf zehn Prozent der Agrarfläche umgesetzt wird. Außerdem brauchen wir bundesweite Regeln. Derzeit muss der Rotmilan erst Landesgrenzen und -gesetze lernen, wenn er etwa durch die Eifel fliegt, weil er in Nordrhein-Westfalen anders geschützt ist als in Rheinland-Pfalz. Die Zeit des „Ja, aber“ ist vorbei. Olaf Scholz muss eine Energiewende-Ministerpräsidentenkonferenz einberufen und einheitliche Regeln für den Ausbau der Windenergie in ganz Deutschland durchsetzen.

Energiekonzerne zahlen für den Rotmilan?

Es wäre ein perfekter Interessenausgleich. Wir könnten gemeinsam sagen: Du willst den Naturschutz stärken, Du die Energiewende – machen wir beides zusammen groß. In Ländern wie Niedersachsen vernehme ich große Bereitschaft, das so zu machen. Auf Bundesebene wird noch diskutiert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen