Unruhen in Kasachstan: Mehr als 4.400 Festnahmen
Die Lage in Kasachstan bleibt unübersichtlich. Präsident Tokajew sorgt mit seinem Schießbefehl für Eskalation und telefoniert mit Wladimir Putin.
Die Behörden zählten bislang insgesamt mehr als 40 Tote, darunter auch Sicherheitskräfte. Befürchtet wird jedoch, dass die Zahl – vor allem der zivilen Todesopfer – viel höher sein könnte: Bereits seit Tagen wird Militär gegen Demonstranten eingesetzt, und Präsident Tokajew hat den Schießbefehl erteilt. In der Millionenstadt Almaty, die von den Unruhen besonders erschüttert wurde, sollen die so genannten Anti-Terror-Einsätze weiterhin laufen, hieß es in unabhängigen kasachischen Nachrichtenkanälen.
Kasachstans Präsident entlässt Vize-Sekretär des Sicherheitsrats
Inmitten schwerer Unruhen baut Kasachstans Präsident Kassym-Schomart Tokajew die autoritäre Staatsführung weiter um. Am Samstag entließ er den stellvertretenden Sekretär des einflussreichen Sicherheitsrates, Asamat Abdymomunow, wie das kasachische Staatsfernsehen berichtete. Tokajew hatte zuvor bereits seinem Vorgänger, dem ersten kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew, den mit großer Machtfülle ausgestatteten Vorsitz in dem Gremium entzogen – und ihn selbst übernommen. Abdymomunow war Angaben des Präsidialamtes zufolge vor mehr als sechs Jahren von Nasarbajew zum Vize-Sekretär ernannt worden.
Der 81 Jahre alte Nasarbajew – der politische Ziehvater Tokajews – galt auch nach seinem Rücktritt im Jahr 2019 als mächtigster Mann in Kasachstan. Einige Experten argumentieren, dass Tokajew die aktuelle Krise nutze, um sich mehr Einfluss zu sichern. So ersetzte der 68-Jährige auch die Geheimdienstführung durch eigene Vertraute. Ex-Geheimdienstchef Karim Massimow wurde wegen Hochverrats festgenommen, wie am Samstag bekannt wurde. In der vergangenen Woche hatte Tokajew bereits die gesamte Regierung entlassen.
Kasachstan, das an Russland und China grenzt, erlebt seit Tagen die schwersten Ausschreitungen seit Jahren. Unmut über gestiegene Treibstoffpreise an den Tankstellen schlug in vielerorts friedliche, aber teils auch gewaltsame Proteste gegen die Staatsführung um. Tokajew verhängte den Ausnahmezustand und bat ein von Russland geführtes Militärbündnis um Hilfe. Vor allem sein Schießbefehl gegen Demonstranten sorgte international für Entsetzen.
Ex-Machthaber Nursultan Nasarbajew weiterhin im Land
Kasachstans einflussreicher Ex-Langzeit-Machthaber Nursultan Nasarbajew hat seine Heimat einem Sprecher zufolge trotz der Unruhen nicht verlassen. „Der Führer der Nation hält sich in Kasachstans Hauptstadt Nur-Sultan auf“, schrieb Ajdos Ukibaj am Samstag auf Twitter. Zuvor hatte es Gerüchte gegeben, der 81-Jährige habe Kasachstan verlassen, nachdem sein Nachfolger, Präsident Kassym-Schomart Tokajew, ihm den Posten als Chef des einflussreichen Sicherheitsrats entzogen hatte. Nasarbajew stehe in direktem Kontakt zu Tokajew, schrieb Ukibaj. Der 2019 zurückgetretene Ex-Präsident gilt als der eigentlich starke Mann in der autoritär geführten Ex-Sowjetrepublik.
Der kasachische Inlandsgeheimdienst gab am Samstag bekannt, dass sein früherer Chef, Karim Massimow, wegen des Verdachts auf Hochverrat festgenommen wurde. Tokajew hatte Massimow den Posten am Donnerstag entzogen – ebenfalls im Zuge der Proteste. Der Präsident wirft den Sicherheitsorganen vor, nicht im Vorfeld auf angeblich von außen gesteuerte „Terroristen“ aufmerksam geworden zu sein, die nun an den Ausschreitungen beteiligt seien.
In der Millionenstadt Almaty im Südosten, wo die Lage besonders dramatisch und unübersichtlich ist, erhielten unterdessen nicht dringend benötigte Mitarbeiter des US-Generalkonsulats die Erlaubnis, freiwillig auszureisen, wie das US-Außenministerium mitteilte.
Putin und Tokajew beraten über „Wiederherstellung der Ordnung“
Russlands Präsident Wladimir Putin und sein kasachischer Kollege Kassym-Schomart Tokajew haben sich über die Krise in Kasachstan ausgetauscht. Die Staatschefs hätten in einem „langen“ Telefongespräch „über Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung“ gesprochen, teilte der Kreml am Samstag mit. Die russische Regierung kritisierte zudem eine Äußerung von US-Außenminister Antony Blinken im Zusammenhang mit der Entsendung von „Friedenstruppen“ nach Kasachstan als „rüpelhaft“.
Tokajew habe Putin darüber informiert, dass sich die Lage im Land „in Richtung einer Stabilisierung entwickelt“, hieß es in der Mitteilung. Der kasachische Präsident habe der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) und „insbesondere“ Russland für seine Hilfe gedankt. Das von Russland angeführte Militärbündnis OVKS hatte am Donnerstag angesichts der Krise „Friedenstruppen“ nach Kasachstan entsandt.
US-Außenminister Blinken hatte deshalb am Freitag gewarnt, dass es für Kasachstan jetzt schwierig sein werde, den russischen Einfluss zurückzudrängen. „Ich denke, eine Lehre aus der jüngsten Geschichte ist, dass es manchmal sehr schwierig ist, die Russen wieder loszuwerden, wenn sie erst einmal in deinem Haus sind“, sagte er.
Das russische Außenministerium kritisierte diese Äußerung am Samstag scharf. „US-Außenminister Antony Blinken hat versucht, einen lustigen Scherz über die tragischen Ereignisse in Kasachstan zu machen“, erklärte das Ministerium auf Facebook. „Ein rüpelhafter Versuch, aber auch nicht sein erster.“
Damit habe er „eine völlig legitime Reaktion“ der OVKS „lächerlich“ gemacht. „Wenn Antony Blinken so sehr an Geschichtslektionen interessiert ist, dann fällt einem eine ein: Wenn Amerikaner in deinem Haus sind, kann es schwierig sein, am Leben zu bleiben und nicht ausgeraubt oder vergewaltigt zu werden“, erklärte das Außenministerium und verwies auf die amerikanischen Ureinwohner, Korea, Vietnam und Syrien.
Bundesregierung stoppt Rüstungsexporte nach Kasachstan
Angesichts des gewaltsamen Konflikts in Kasachstan hat die Bundesregierung die Ausfuhr von Rüstungsgütern in das Land untersagt. Nach Information der Nachrichtenagentur AFP vom Samstag wurde ein Exportstopp verhängt. Zwar sei der Wert der Rüstungsexportgenehmigungen nach Kasachstan gering, der Exportstopp sei aber angesichts der Lage geboten, hieß es. Im vergangenen Jahr waren 25 Genehmigungen mit einem Gesamtwert von rund 2,2 Millionen Euro erteilt worden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen