Corona in den Kliniken: Ist das schon Triage?

Auf den Intensivstationen sind viele Betten belegt. Kommt jetzt die Triage, oder haben wir sie längst? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Ärzte und Pflegekräfte stehen in blauer Schutzkleidung an einem Intensivbett

Wenn Patienten nicht mehr aufgenommen und OPs verschoben werden, ist das auch eine Art Triage Foto: Jens Büttner/dpa

Was genau bedeutet Triage?

Mal ehrlich, vor der Corona­pande­mie haben die meisten von uns – sofern ohne medizinischen Hintergrund – gewiss noch nie von der Triage gehört. Und auch jetzt wird der Begriff noch häufig missverständlich verwendet. Die sogenannte Manchester-Triage gilt als Standardprozedere in deutschen Notaufnahmen. Wer am dringendsten behandelt werden muss, kommt zuerst dran. Herzinfarkt vor Beinbruch. Auch in der Katastrophenmedizin ist der Begriff Triage geläufig, bei großen Unglücksfällen etwa, wenn vor Ort priorisiert werden muss, wer zuerst und in welches Krankenhaus transportiert wird.

In der Pandemie kam die Sorge vor einer Triage schon sehr bald auf, spätestens mit den Bildern und Berichten aus Italien. Im Frühjahr 2020 wurden in Bergamo bei Dutzenden schwerkranken Pa­ti­en­t:in­nen die Geräte ausgeschaltet, um Platz für die zu machen, bei denen die Überlebenschance höher lag.

Seither begleitet die Sorge vor der Triage die Debatte. Als Beispiel wird regelmäßig der Fall zweier beatmungs­bedürf­tiger Pa­ti­en­t:in­nen skizziert, für die aber nur noch ein Behandlungsplatz verfügbar wäre. Wer entscheidet nach welchen Kriterien, wer von beiden behandelt wird? Diese Form der Triage bedeutet sowohl für die Ärz­t:in­nen und Pflegekräfte als auch für Pa­ti­en­t:in­nen und Angehörige eine große Belastung.

Nach welchen Kriterien würde entschieden, wer eine Behandlung bekommt?

Eines vorweg: Verfassungsrechtlich darf ein Menschenleben nicht gegen ein anderes abgewogen werden. Um bei Ressourcenknappheit trotzdem verantwortungsvolle Entscheidungen zu ermöglichen, haben mehrere Fachgesellschaften für Intensiv-, Notfall- und Palliativmedizin sowie die „Akademie für Ethik in der Medizin“ Leitlinien für Triage­entscheidungen in der Coronapandemie erarbeitet. Die Priorisierung solle sich demnach allein nach der klinischen Erfolgsaussicht richten und nicht etwa nach der Art der Erkrankung, dem Alter, sozialen Faktoren oder einer Behinderung. Ende November stellten die Fachgesellschaften – nach heftiger öffentlicher Diskussion – auch klar, dass der Impfstatus keine Rolle spielen dürfe.

Die Erfolgsaussicht soll anhand definierter Kriterien zur aktuellen Erkrankung, zu schweren Vorerkrankungen und dem allgemeinen Gesundheitszustand beurteilt werden. In die Betrachtung sollen ausdrücklich auch Pa­ti­en­t:in­nen einbezogen werden, bei denen die intensivmedizinische Behandlung bereits begonnen hat. Die Entscheidung soll im Ernstfall von mehreren Ver­tre­te­r:in­nen der Intensivmedizin und Pflege getroffen werden und den Pa­ti­en­t:in­nen und Angehörigen transparent kommuniziert werden.

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Wie ist die rechtliche Lage dann?

In den Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften steht: „Eine abschließende juristische Einordnung ist nicht Gegenstand dieser Empfehlungen.“ Tatsächlich ist die rechtliche Lage heikel. Vor allem die Ex-post-Triage, also etwa das Abschalten eines Beatmungsgeräts, um es einer anderen Person zur Verfügung zu stellen, könnte zur Strafverfolgung führen. Der Direktor der operativen Intensivmedizin am Universitätsklinikum Augsburg, Axel Heller, fordert daher klare gesetzliche Rahmenbedingungen. Die Leiterin der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Universitätsklinikum Dresden, Thea Koch, warnt allerdings vor einer gesetzlichen Regelung von Triage-Entscheidungen: „Das können nur die behandelnden Ärzte im Team unter sorgfältiger Abwägung des zu erwartenden Heilungserfolgs entscheiden.“ Über die bereits seit anderthalb Jahren anhängige Verfassungsbeschwerde einer Gruppe von Menschen mit Behinderungen, die eine diskriminierungsfreie Regelung der Triage durch den Gesetzgeber fordert, wurde bislang nicht entschieden.

Und wie ist die Lage derzeit?

Die Zahl der freien Intensiv- und Beatmungsbetten in Deutschland ist laut dem Divi-Intensivregister auf den niedrigsten bisher erfassten Stand gesunken. Zwar gab es zum Höhepunkt der zweiten Welle im Januar 2021 mit rund 5.700 mehr Covid-19-Erkrankte auf den Intensivstationen. Derzeit sind es rund 5.000. Aber die Kapazität in den Kliniken ist inzwischen von 12.000 Beatmungsbetten auf 9.000 gesunken. An der technischen Ausrüstung mangelt es nicht. Doch viele Pflegekräfte haben wegen des enormen Drucks der vergangenen drei Pandemiewellen den Dienst quittiert oder ihre Arbeitszeit reduziert. Und Stellen können nicht nachbesetzt werden, weil der Pflegekräftemarkt leer ist. „Die Situation ist deutlich enger als vor einem Jahr“, berichtet die Intensivmedizinerin Thea Koch über die Situation an der Uniklinik Dresden. Die Auslastung der Intensivstationen liege bei 93 bis 95 Prozent. Pa­ti­en­t:in­nen mussten verlegt werden, auch in andere Bundesländer. Von einer Triage, bei der im Notfall zu knappe Behandlungskapazitäten nach Überlebenschancen verteilt werden müssen, „sind wir aber weit entfernt“.

Manche Mediziner sprechen von einer „weichen Triage“. Was hat es damit auf sich?

Nicht nur Covid-19-Patient:innen sind von den Auswirkungen der Pandemie betroffen. Um Engpässe und damit Triage-Entscheidungen in den Intensivstationen zu vermeiden, müssen Intensivbetten freigehalten werden. „Verschiebbare Operationen finden nicht statt“, berichtet Koch. Das betreffe vor allem orthopädische und plastische Eingriffe, aber auch weniger dringliche Tumor­operationen. Das könne auch mit Nachteilen für die Pa­ti­en­t:in­nen verbunden sein, genau wie längere Transportwege. „In der Pandemie sind nicht mehr alle Qualitätsansprüche erfüllbar“, so Koch.

„Auch dringliche Operationen werden jetzt zurückgestellt, bis wieder Plätze frei sind“, berichtet der Augsburger Intensivmediziner Heller über die extrem angespannte Lage in Bayern. Das wirke sich natürlich auf den Gesundheitszustand einzelner Pa­ti­en­t:in­nen aus. „Insofern passiert das, was wir eigentlich vermeiden wollen, schon die ganze Zeit.“

Der Direktor der Klinik für Innere Medizin am Universitätsklinikum Köln, Michael Hallek, berichtet von Verzögerungen lebensrettender Versorgungen, etwa wenn man eine Stunde lang für einen Patienten während eines Herzinfarkts ein freies Intensivbett suche. „Das ist das, was ich bewusst weiche Triage nenne“, so Heller.

Der Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Stefan Kluge, bezeichnet es als „latente Triage“, wenn spezialisierte Krankenhäuser in den besonders betroffenen Bundesländern Menschen mit Schlaganfall oder akuter Leukämie nicht aufnehmen können. „Das findet schon statt in Deutschland“, sagt Kluge.

In den vorherigen Coronawellen wurde auch die Sorge vor einer „stillen Triage“ in Altersheimen laut, weil ein Großteil der an Covid-19 verstorbenen Be­woh­ne­r:in­nen gar nicht mehr ins Krankenhaus kam. Ob es in solchen Fällen der Wunsch der Be­woh­ne­r:in­nen ist, keine intensivmedizinische Hilfe mehr in Anspruch zu nehmen oder „ein schleichender Prozess der Triage“ – auch darüber brauche es eine gesellschaftliche Debatte, fordert Eugen Brysch von der Stiftung Patientenschutz.

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