Aufarbeitung des Haasenburg-Skandals: „Opfer eines Systemversagens“

Ehemalige Bewohner der Haasenburg-Heime fordern Entschädigung. Doch die Brandenburger Bildungsministerin ignoriert das.

Ein Gebaüde mit einem Schild davor, auf dem Betreten verboten steht.

Eines der Gebäude der Haasenburg GmbH in Schwielochsee in Brandenburg Foto: Wolfgang Borrs

HAMBURG/BERLIN taz | Einmal kommt kurz eine Atmosphäre auf wie bei einem Klassentreffen, als Marcel auf das Landesjugendamt schimpft. Nur einmal beim Sommerfest sei jemand von denen da gewesen. „Ich war in Neuendorf, in Jessern, in Karow. Keiner vom Landesjugendamt war jemals zu sehen.“ „Und immer der gleiche Gutachter“, ruft Mike dazwischen. „Und es gab auch angeblich keine Fixierungen tagelang“, sagt Marcel. „Dabei war das der erste Raum, der gezeigt wurde“, schaltet Bianca sich ein. „Genau“, sagt Marcel.

Dann beschreibt er, wie der Anti-Aggressions-Raum aussah. Darin stand ein Fixierbett mit Gurten, „wo du am Kopf fixiert wurdest, am Bauch fixiert wurdest, an den Beinen und an den Armen“.

Marcel, Renzo, Bianca, Mike und Dominik teilten das Schicksal, im gleichen Heim gewesen zu sein. Sie sind frühere Bewohner der Haasenburg, die Ende 2013 nach dem Bericht einer Untersuchungskommission geschlossen wurde. Das brandenburgische Jugendministerium weiß angeblich nicht, wie viele Bewohner es an den Standorten Müncheberg, Neuendorf, Jessern und den Außenstellen Dresden und Karow gab. Wahrscheinlich waren es Hunderte.

An diesem 6. November, dem achten Jahrestag der Schließung durch die frühere Jugendministerin Martina Münch (SPD), trafen sich die fünf zu einer Live-Diskussion auf Facebook. Eingeladen hatte der Verein „Kinderseelenschützer“ von Dennis Engelmann (28), der selber traumatische Erfahrungen in einer Pflegefamilie gemacht hat.

Keine Gerechtigkeit

Er schaltet sich ein. „Das klingt so, als würdet ihr über Dinge der 60er, 70er Jahre berichten. Dabei reden wir jetzt über die 2000er und 2010er. Das ist unfassbar.“ Es liege ihm am Herzen, die Opfer zu unterstützen, sagt er zur taz. „Sie sind in meinem Alter. Und ich weiß, wie es ist, wenn einem vom Staat keine Gerechtigkeit widerfährt.“

Ein Screenshot von einem Chat zu einem längst geschlossenen Kinderheim sind ehemalige Beweohner im Gespräch zu sehen

Im Haasenburg-Chat: (von links): Dominik, Dennis Engelmann, Bianca, Marcel, Renzo, Maik Screenshot: taz

Angeregt hat das Treffen Renzo Martinez, der von 2003 bis 2006 in der Haasenburg war. Er litt unter der Isolation im Zimmer und den rigiden Methoden wie dem Festschnallen auf der Fixierliege, mit denen der Willen der Jugendlichen gebrochen werden sollte.

Martinez ist heute 31 und schreibt über seine Erlebnisse auch in dem neuen Buch „Die Weggesperrten“ der Potsdamer Schriftstellerin Grit Poppe und ihres Sohnes, des Historikers Niklas Poppe (Propyläen Verlag), in dem es um junge Menschen geht, die Opfer von DDR-Umerziehung wurden. In der Haasenburg sei ein „Biotop“ der schwarzen Pädagogik entstanden, schreibt Grit Poppe im Vorwort. Das Erziehungskonzept stamme aus „Diktaturzeiten“.

Dominik gehört zu den letzten Jugendlichen, die in der Haasenburg waren, heute ist er 23. In dem Live-Chat will er von den anderen wissen, ob bei ihnen auch eine Kamera im Anti-Aggressions-Raum hing. Er spricht leise. In seinem Kopf habe die Zeit in diesem Heim etwas kaputt gemacht, sagt er.

Nächtelang jemanden schreien gehört

Als er wieder zu Hause war, habe er noch an jede Tür geklopft und seinen Namen gesagt, wie es im Heim verlangt wurde. „Das ist so eine Kopfsache. Mir ging es echt scheiße. Ich bin heute noch kaputt. Ein verschlossener Mensch. Weiß nicht mehr, was ich sagen soll.“ Er habe nächtelang jemanden schreien hören im Heim, „das kann man halt nicht verarbeiten von heut auf morgen“.

Dass das Thema wieder hochkommt, liegt an einem traurigen Vorfall. Im Februar nahm sich Ex-Bewohner Jonas das Leben. Bianca und Mike kannten ihn gut. Sie engagierten sich jetzt auch für ihn, sagen sie. Bianca berichtet, sie sei nach der Haasenburg schnell Mama geworden. Die Zeit dort hole sie trotzdem immer wieder ein. „Verarbeiten kann man es nicht. Nie. Das ist immer da.“ Vielen Betroffenen falle schwer, einzuordnen, wo ihre Probleme herkommen, sagt Renzo. „In der Haasenburg wurde einem systematisch die Schuld gegeben für alles, was passiert.“ Da sei wichtig, den Opfern zu zeigen; „Ey, ihr seid nicht allein.“

Nicht beim Chat dabei, aber mit zur Gruppe gehörig ist Christina Witt, die vor zwei Monaten eine Petition zur Entschädigung der Haasenburg-Opfer startete, die bis jetzt 34.000 Unterstützer hat. Sie schrieb in der Sache auch an Brandenburgs amtierende Bildungsministerin Britta Ernst (SPD). Doch die scheint nicht bereit, mit den Betroffenen zu reden. Bislang kam keine Antwort aus dem Ministerium.

Die sechs gründeten jetzt eine „Interessen­gemeinschaft Ehemalige Haasenburgkinder“, der sich rund 30 weitere Ehemalige angeschlossen haben. Sie wollen nicht lockerlassen, bis das Leid der Betroffenen anerkannt wird. Dennis Engelmann mit seinem Verein unterstützt sie dabei. Sie planten eine Social-Media-Kampagne, bei der Be­troffene ihre Geschichte erzählen, sagt Engelmann, der Erzieher gelernt hat, diesen Beruf aber wegen seiner Traumatisierung nicht ausüben kann.

„Opfer eines Systemversagens“

Auch den meisten Ex-Haasenburg-Kindern geht es so, dass sie beruflich nicht Fuß fassen. „Viele sind bis heute so zerstört, dass sie Probleme haben, eine normale Arbeit durchzustehen“, sagt Renzo. Jugendministerin Münch hatte sich zwar 2014 entschuldigt. Doch das genüge nicht. „Wir möchten, dass anerkannt wird, dass wir Opfer eines Systemversagens sind“, sagt Renzo. „Wir wollen Rehabilitation, Entschädigung und therapeutische Hilfe.“

Renzo, ehemaliger Insasse eines Haasenburg-Heims

„Viele sind bis heute so zerstört, dass sie Probleme haben, eine normale Arbeit durchzustehen“

Das Land Brandenburg will davon bislang nichts wissen und rät den Betroffenen, individuell über das Opferentschädigungsgesetz Ansprüche geltend zu machen. Doch das ist für Heim­kinder schwierig, weil ihnen oft die Belege fehlen und das Gesetz diverse Hürden aufstellt.

Gab es ein strukturelles Versagen, müsste es einen Fonds geben, wie für die Kinder der Heim­erziehung in der früheren BRD und DDR auch. Das sieht auch Wolfgang Rosenkötter so, nach dessen Erfahrungen in den 1960ern der Kinofilm „Freistatt“ über damalige schlimme Methoden der kirchlichen Heime entstand. Die Heimopfer der BRD wurden entschädigt. Zwar sehr knausrig mit Sachleistungen, aber immerhin. „Wenn der politische Wille da ist, geht das“, sagt Rosenkötter. „Das ist Kärrnerarbeit, man muss denen ständig auf den Geist gehen.“

Auch für die DDR-Heimkinder gab es Entschädigung. „Ich hatte,Glück', dass meine Heimakte bei der Stasi lag“, erinnert sich Dietmar Glombitza, der als 16-Jähriger sechs Monate im Jugendwerkhof Torgau war. Er bekam sogar die Höchstsumme von 12.000 Euro, weil sein Fall dank Stasi so gut dokumentiert war. „So wie die Opfer der Jugendwerkhöfe müssten auch die Haasenburg-Bewohner rehabilitiert werden“, sagt Buchautorin Poppe.

Offensiv an die Öffentlichkeit gehen

Zur Frage eines Entschädigungsfonds müsste sich das brandenburgische Jugendministerium von Britta Ernst äußern. In der letzten Antwort an die taz heißt es von dort, dass noch Verfahren offen seien, „deren Ergebnis abgewartet werden sollte“.

In der Tat wurde die Schließung der Heime von der Haasenburg GmbH angefochten. Obwohl siegesgewiss, verlor die Firma 2014 zwei Eilverfahren vor Gericht. Das „Hauptsacheverfahren“ steht seither aus. Wie das Verwaltungsgericht Cottbus mitteilt, sei für 2022 „eine Terminierung beabsichtigt“.

Es sei gut, dass das jetzt passiert, sagt Renzo Martinez. Egal wie es ausgeht, die Interessen­gemeinschaft Ehemalige Haasenburgkinder werde offensiv an die Öffentlichkeit gehen, eventuell auch eine Petition ans Parlament verfassen. „Es war alternativlos, die Heime zu schließen.“

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