Flüchtende an der EU-Außengrenze: Ein bitterer Abschied

Für Merkel ist es sehr bequem, mit dem Finger auf Belarus zu zeigen und den EU-Partner Polen bei der Kritik zu schonen. Gleichzeitig erfrieren Menschen.

Merkel und Morawiecki stehen am Rednerpult

Schont Polens Regierungschef: Kanzlerin Merkel mit Mateusz Morawiecki am Freitag in Berlin Foto: AFP

Wer wissen will, wie es aussieht an der Grenze zwischen Belarus und Polen, der wurde zuletzt bei Tiktok am besten informiert. Auf der Tanzvideo-Plattform postete einer der schätzungsweise 2.000 dort festsitzenden Menschen ein Video, auf dem eine Gruppe von eingeschneiten Schlafsäcken im Wald zu sehen ist. Man glaubt kaum, dass sich am Ende der kurzen Sequenz einer der Schlafsäcke bewegt. Die Szene lässt vermuten, dass zu erfrieren droht, wer so übernachten muss.

An ihren letzten Tagen im Amt hatte Angela Merkel es noch einmal in der Hand, das zu verhindern. Sie tat es nicht – zu bequem war es, allein mit dem Finger auf Belarus zu zeigen und den EU-Partner Polen von seiner Verantwortung freizusprechen.

Am Donnerstag war Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bei Merkel. Sie sprachen über die Menschen in den Schlafsäcken oder vielmehr, wie Merkel sagte, die „hybride Attacke“ auf Polen, dem sie ihre „volle Solidarität“ ausdrückte. Sie habe mit Morawiecki „auch“ über die humanitäre Situation auf der polnischen Seite gesprochen, so Merkel. Was dabei herauskam, erfuhr man nicht. „Zuallerst“, so Merkel, gehe es darum, die Menschen in Belarus menschenwürdig zu versorgen, etwa durch den UNHCR.

In Belarus? Lukaschenko ist ein Wahlfälscher, Diktator, Verbrecher. Er hat die Flüchtlinge angelockt, um auf deren Rücken die EU zu erpressen. Erschütternde Bilder wie das Schlafsack-Video halten den Druck aus seiner Sicht aufrecht. Es ist absurd, auf ihn zu setzen, um den Flüchtlingen Hilfe zukommen zu lassen.

Dass Polen Hilfsorganisationen seit Monaten nicht zu den Flüchtlingen lässt, ist eine Form staatlicher Gewalt, die in diesem Ausmaß in der EU ihresgleichen sucht. Merkel hätte Morawiecki, als absolutes Minimum, drängen können, wenigstens humanitäre Hilfe auf polnischer Seite zuzulassen: beheizte Schlafzelte, Essen, Wasser, Ärzte, direkt am Grenzstreifen. Doch davon war keine Rede. Es ist ein bitterer Abschied Merkels aus der Außenpolitik.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.