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Entscheidung zu Nord Stream 2Kleine Atempause

Silke Mertins
Kommentar von Silke Mertins

Den Parteien der geplanten Ampelkoalition kommt die Verzögerung der Gastransporte durch Nord Stream 2 recht. Wenigstens an dieser Front ist Ruhe.

Logo von Nord Stream 2 Foto: Maxim Shemetov/reuters

D ie Entscheidung der Bundesnetzagentur zu Nord Stream 2 ist eine Formalie, doch das bedeutet nicht, dass sie keine politische Tragweite hat. Moskau wird die Verzögerung, die sich bis in den Frühsommer 2022 hinziehen könnte, auf jeden Fall als Affront verstehen. Erst jüngst verlangte die russische Seite, Nord Stream 2 müsse bis Anfang Januar im Betrieb sein. Alles andere sei inakzeptabel. Diese Äußerung als Bedrohung zu deuten, ist sicher nicht abwegig.

Grünen-Chefin Annalena Baerbock hat ja recht mit ihrer Forderung, dass Europa sich nicht erpressbar machen darf. Doch der Umgang mit Nord Stream 2 und Wladimir Putin ist bei den Ampelparteien eine höchst umstrittene Frage. Die So­zi­al­de­mo­kra­t*in­nen würden jeden Konfrontationskurs mit Russland, der über das jetzige Sanktionsregime hinausgeht, gewissermaßen als Verrat an ihrer Lichtgestalt Willy Brandt empfinden, dem Erfinder der Entspannungspolitik.

Die Grünen dagegen sind strikt gegen Nord Stream 2 und sehen Putins Russland als das, was es ist: eine Diktatur mit imperialistischem Gebaren. Die Null-Toleranz-Politik der Grünen indes ist in ihrer Haltung amerikafreundlicher als alles, was es bisher links der Mitte gegeben hat. Die Grünen sind die neuen Amerikaversteher. FDP-Chef Christian Lindner postet auf Twitter ständig, wie lange der Kreml-Kritiker Alexei Nawalny schon in Haft ist (aktuell 304 Tage).

Aus diesem Blickwinkel lehnen die Liberalen derzeitig eine Inbetriebnahme der Gaspipeline ab. Gleichzeitig aber sorgen die sprunghaft ansteigenden Gaspreise dafür, dass es Europa sehr teuer zu stehen kommen könnte, wenn man jetzt gegenüber Putin eine dicke Lippe riskiert. Der Winter hat noch nicht einmal angefangen. In dieser Gemengelage eine gemeinsame Linie zu finden, ist für die Ampelparteien ein schwieriges Unterfangen. Es braucht Zeit.

Die Verzögerung durch die Entscheidung der Bundesnetzagentur ist deshalb ein Glücksfall für die Ampel. Die vor sich hinstolpernden Rot-Gelb-Grünen haben schon genug ungelöste Krisen auf dem Tisch. Eines lässt sich auf jeden Fall schon sagen: Diesem Anfang wohnt kein Zauber inne.

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Silke Mertins
Redakteurin Meinung
Kommentatorin & Kolumnistin, Themen: Grüne, Ampel, Feminismus, Energiewende, Außenpolitik
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14 Kommentare

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  • Gegen jede stabile und verlässliche Energiequelle zu sein (Kohle, Erdgas, Atom) ohne Alternativen in der Hand zu haben, geht nur in der Opposition. Ein Umdenken von Opposition zu Regierung ist bei Grünen und FDP noch nicht zu erkennen.

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    So macht man Putin sicher nicht gesprächsbereit!



    Dummheit, wohin man schaut!

  • Wer zahlt diesen Schwachsinn?



    Otto Normalverbraucher mit seiner Gasrechnung.



    Eine Alternative zum Energieträger Gas ist noch lange nicht in Sicht.



    Wir müssen aus den fossilen Brennstoffen raus. Richtig.



    Bitte Vorschläge für die nächsten fünf Jahre zum Ersatz von Gas.



    Herr Lindner hat bis dato kein Statement zur Kinderarbeit in Zusammenhang mit unserem Wohlstand losgelassen.



    Sonst wäre ja auch ein Teil unserer Bevölkerung nackt.



    Noch immer sind Lieferketten ein tödliches Abenteuer.



    Es gibt also viel zu tun.

  • Sicher ist es unangenehm, der russischen Diktatur, das Geschäftsleben zu erleichtern. Am Ende sollten sich deutsche Politiker aber um ihre Wähler und Steuerzahler kümmern - den Weg für Nord Stream ebnen. Die Achse Kanzleramt-Schwesig sollte ohnehin stehen. Nach Beseitigung der juristischen Formalitäten werden FDP und Grüne das Rohr auch wohl kaum politisieren.

    Das russische Verbrechersystem wird dann mit der Energiewende in den nächsten Jahrzehnten hoffentlich trockengelegt.

  • Glücksfall?



    Es wäre ein Glücksfall für die Ampel, wenn die jetzige Regierung wenigstens dieses Thema lösen würde.



    Stattdessen wird auch hier der neuen Regierung ein altes Problem vor die Füße gerotzt, dass der Koalition viele Probleme bereitet.



    Zusätzlich zu CoronaChaos und lauter anderen Ärger.



    Das ist nicht mehr zurückhaltend, sondern beste Trump-Manier: überflute die Nachfolger mit Mist, dann haben sie zu wenig Zeit für ihre Kernziele, und verlieren dienlichsten Wahlen, und damit Handlungsfähigkeit und Rückhalt…

  • Das pro-amerikanische Gehabe von Grünen und FDP ist schon moralisch fragwürdig (kleiner Tipp auch an die Autorin dieses Beitrages: wenn man sich als Bürger*In eines NATO-Staates über Russlands angeblichen Imperialismus empört, bewegt man sich auf dünnem Eis...). Aber in der gegenwärtigen Situation ist es nicht nur unehrlich und geschichtsvergessen, sondern auch noch dumm: denn die USA haben auch unter Biden deutlich gezeigt, dass ihnen europäische Interessen herzlich egal sind. Vom Transatlantikertum hat man sich auf der anderen Seite des Atlantiks längst verabschiedet. Realitätsverweigerung ist auch dann kein Ersatz für Realpolitik, wenn man sie in moralische Windeln wickelt.

    • @O.F.:

      Die Geschichte lehrt uns vor allem eines: Stets an der Seite der Opfer zu stehen und gegenüber Aggressoren standhaft zu bleiben. Appeasement wird von bestimmten Führern als Schwäche und Einladung zu weiteren Grenzüberschreitungen verstanden.



      Deshalb: Solidarität mit Ukraine, dem Volk Weißrusslands und die Sorgen der Balten ernst nehmen.

      Die bestehenden Pipelines können mehr als genug Gas liefern. NS2 ist dafür nicht nötig. Russland müsste lediglich die entsprechenden Kapazitäten in den bestehenden Leitungen buchen.



      Das wäre moralisch korrekte Realpolitik.

      • @Horst Horstmann:

        Die Geschichte zeigt uns vor allem auch, dasss simple S/W-Malerei keineswegs hilft, um wesentlich komplexere Konflikte zu verstehen (in denen man auch die eigene Rolle kritisch hinterfragen sollte); eine inflationär gebrauchte Vokabel wie "Appeasement" verbietet sich mit Blick auf Russland ohnehin - es ist erschreckend, dass gerade "liberale" Zirkel den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg vergessen haben und mit einem ungehemmten und faktenfreien Fanatismus auf ein altes Feindbild einprügeln - Deutschland 2021...

        • @O.F.:

          Wer angesichts von Krimannexion, Krieg in Ostukraine, Krieg in Syrien, der Lage in Weißrussland und der Menschenrechtssituation in Russland die letztlich sehr zurückhaltende Kritik an Putin und der Politik des Kremls als "faktenfreien Fanatismus" diffamiert und gleich die Nazikeule herausholt, sollte vor Allem seine eigene Rolle kritisch hinterfragen.

          Ein kleiner Remainder: Nicht nur Russland hat unter dem Naziterror gelitten sondern auch Polen und die Ukraine, wo die meisten Kampfhandlungen stattgefunden haben. Deren Schicksal ist aber vielen, die sich selbst als aufrechte Antifaschisten sehen, komischerweise herzlich egal.

          • @Horst Horstmann:

            Ich bin mir nicht sicher, ob diese Diskussion sein macht, aber um es zu versuchen: lange Listen von (echten oder angeblichen) Vergehen Russlands sind kein Ersatz für eine Analyse; ich kann Ihnen gerne auch die Verbrechen von Nato-Staaten in den letzten Jahren aufzählen. Und dann? Wollen Sie wegen Irak, Guantanamo, Drohnen-Terror und Assange auch die Wirtschaftsbeziehungen zu den USA einstellen?



            Die Nazi-Keule haben im übrigen Sie herausgeholt - weil Sie die Kampfvokabel "Appeasement" in den Raum geworfen haben, die eben diesen Kontext evoziert.



            Die Situation im postsowjetischen Raum ständig monokausal auf russische Bosheit zurückzuführen und dabei das eigene Agieren auszublenden, das sich sowohl über historische Erfahrungen (die Relativierung können Sie sich hier sparen) als auch über reale Sicherheitsinteressen Russlands hinwegsetzt, versteht man diese Konflikte nicht. Das ein so simplifizierendes Bespielen von Feindbildern (noch dazu von solchen, die in einer bedenklichen Kontinuität stehen) für einen akzeptabeln Russland-Diskurs hält, wirft allerdings kein gutes Licht auf den deutschen "Liberalismus" 2021.



            Politische Realitäten lassen sich selten mit den moralischen Wertigkeiten zweitklassiger Spielfilme beschreiben.

    • @O.F.:

      Sehr guter Kommentar, vor allem den letzten Satz sollte man in die Poesiealben so einiger Journalisten schreiben.

    • 8G
      83379 (Profil gelöscht)
      @O.F.:

      Gibt schon einen Unterschied Demokratien in die NATO aufzunehmen und im Stile des 19ten Jahrhunderts Nachbarn zu überfallen. Russland hat außer seinem Militär keinerlei Appeal Nachbarn an sich zu binden, ohne seine Rohstoffe und Panzer würde es für Deutschland die Bedeutung von Nordkorea besitzen.

      • @83379 (Profil gelöscht):

        Über die demokratische Verfasstheit diverser NATO-Mitglieder kann man geteilter Meinung sein (ich erinnere hier gerne ebenso an die Türkei wie an die USA...), aber im geopolitischen Kontext spielt das auch keine Rolle: es nützt den Opfern westlicher Kriege und Drohnenmorde herzlich wenig, dass die Täter demokratisch gewählt wurden.

    • 9G
      97627 (Profil gelöscht)
      @O.F.:

      Der Imperialismus Russlands existiert nicht nur "angeblich". Das Verfehlen des Artikels liegt nur darin, den Amerikanischen Imperialismus nicht auch zu benennen, wenn man schon die Bewertung macht.