Stefan Reinecke über die Sondierungsgespräche
: Kill your darlings
Jetzt haben sich alle Parteien, außer Union und Grüne, mal getroffen. Sind wir jetzt schlauer? Die Beteiligten sagen, dass sie nichts sagen. Jede Andeutung könnte Erwartungshaltungen beeinflussen.
Spieltheoretisch ist die Lage aber hochinteressant. Wir beobachten, wie für ein neues Spiel Regeln entwickelt werden, während das Spiel läuft. Früher war klar: Bei Rot-Grün und Schwarz-Gelb hatten die Volksparteien das Sagen – Grüne und FDP mussten sich anpassen. Bei den Großen Koalitionen konnte die SPD als Juniorpartner in Koalitionsverhandlungen viel durchsetzen. Heute geht es um Inszenierungen. Die Selfies von FDP und Grünen waren eine Botschaft an die SPD: Die Zeiten, als sich Volksparteien eine Milieupartei zwecks Mehrheitsbeschaffung organisierten, sind vorbei.
Viel spricht für die Ampel, wobei das beste Argument die CSU ist, die seit Monaten klamaukhaft zwischen Treueschwüren für Armin Laschet und offenem Aufstand schwankt. Sicher ist: Der Weg zu jeder Regierung wird für die Parteien steinig. Denn die Geschäftsbedingungen für Koalitionen sind in der Post-Volkspartei-Ära komplexer geworden. Kompromisse zwischen drei Parteien sind schwergängiger als zwischen zweien. Christian Lindners Ausstieg aus den Jamaika-Verhandlungen 2017 gab da einen Vorgeschmack. Und: In der Ära der Volksparteien fand die Kompromissbildung in den Parteien selbst statt.
In der Post-Volkspartei-Ära hingegen müssen die Kompromisse während der Koalitionsverhandlungen gefunden werden. Damit wächst die Kluft zwischen vollmundigen Wahlversprechen für mehr Gerechtigkeit oder Steuersenkungen. Von der CDU bis zu den Grünen beteuern nun alle, es bei der Regierungsbildung keinesfalls beim kleinsten gemeinsamen Nenner zu belassen.
Der kleinste gemeinsame Nenner scheint derzeit zu sein, dass von CSU bis SPD niemandem der kleinste gemeinsame Nenner wirklich reicht. Man kündigt Neues, Reformen, kühne Würfe an. Das ist ein Nebelwerfer. Er soll verhüllen, wie groß der Zwang zum Minimalkonsens am Ende sein wird.
