Prozess gegen Lina E.: Die Beweislage bleibt wacklig

Im Prozess gegen Lina E. sagt ein angegriffener Nazi aus – kann die Angeklagte aber nicht identifizieren. Einer Frau traue er die Tat ohnehin nicht zu.

Eine Menschengruppe und ein Polizist, auf einem Plakat steht "Free Lina"

Freiheit für Lina E.: Protest vor dem Oberlandesgericht Dresden beim Prozessauftakt am 08. 09. 2021 Foto: Arvid Müller/imago

DRESDEN taz | Er sei wie jeden Morgen, gegen 7.15 Uhr, aus dem Haus getreten, als hinter der Hecke plötzlich vier Vermummte auf ihn zugestürmt seien, berichtet Enrico B. Mit Schlägen gegen den Kopf und Tritte gegen die Knie hätten sie ihn traktiert, auch mit Pfefferspray, er sei zu Boden gegangen.

Wie Kampfsportler hätten die Angreifer gewirkt, „mit höchster Effizienz“ hätten sie zugeschlagen. „Ihr sollt auf den Kopf treten“, habe ein Angreifer gerufen. „Das tat man dann auch.“ Als immer mehr Nachbarn aus den Fenstern geschaut hätten, seien die Vermummten wieder weggerannt. Seine Kniescheibe sei zertrümmert gewesen, noch Tage später habe man den Abdruck eines Schuhprofils in seinem Gesicht sehen können.

Enrico B., ein langjähriger Leipziger Rechtsextremist, schildert dies am Mittwoch vor dem Oberlandesgericht Dresden, im Prozess gegen Lina E. und drei Mitangeklagte. Die verfolgen die Ausführungen regungslos, über Stunden zieht sich die Befragung.

Es ist auch der Angriff auf Enrico B., wegen dem die Angeklagten seit zwei Wochen vor Gericht sitzen. Am 2. Oktober 2018 sollen vier Vermummte den heute 38-Jährigen vor seinem Haus niedergeprügelt haben. Eine von ihnen laut Anklage: Lina E.

Die Angeklagten schweigen weiter

Und laut der Anklage sei dieser Angriff nur der Auftakt einer Serie von sechs Überfällen auf Rechtsextreme in Leipzig, Eisenach und Wurzen gewesen. Die Bundesanwaltschaft sieht eine kriminelle linksextreme Vereinigung am Werk. Die Angreifer seien mit äußerster Gewalt und teils mit Schlagwerkzeugen vorgegangen, die Opfer massiv verletzt worden. Es ist die schwerste Anklage der Bundesanwaltschaft gegen Autonome seit Jahren.

Die Frage bleibt nur: Sitzen auch die Richtigen auf der Anklagebank?

Lina E. und die drei mitangeklagten Männer schweigen dazu, ihre An­wäl­t:in­nen ziehen es in Zweifel. Und auch Enrico B. kann am Mittwoch zu dieser Frage nicht viel beitragen. Der Leipziger ist seit Jahren in der rechtsextremen Szene aktiv, einst bei der NPD, aktuell auch mit einem Szeneversand. Er ist vielfach vorbestraft, momentan wird auch zu einer möglichen Falschaussage vor Gericht ermittelt. Wiederholt wandte sich Enrico B. zudem selbst an die Polizei, um ihnen „Ansätze“ für Ermittlungen gegen Linke zu geben.

Schon deshalb halten die Ver­tei­di­ge­r:in­nen Enrico B. für wenig glaubwürdig. Auch bei der Befragung am Mittwoch kritisieren sie, dass der Neonazi offenbar die Ermittlungsakte gelesen habe und diese teils „nachplappert“.

„Sportlich-kräftig“ seien die Angreifer gewesen

Auch Richter Hans Schlüter-Staats ermahnt den Rechtsextremen, nur eigene Erinnerungen zu schildern. Als Enrico B. auch Fragen danach ausweicht, wie andere ihn politisch einordnen würden und behauptet, außer ein paar Linken und Grünen würde ihn die Bevölkerung sicher nicht für rechtsradikal halten, ermahnt ihn Schlüter-Staats, wahrheitsgemäß zu antworten und auf „Wortklauberei“ zu verzichten.

Was Enrico B. aber zum Tathergang aussagt, dürfte der Verteidigung gefallen. Befragt nach den Angreifern, kann er nur sagen, dass diese „sportlich-kräftig“ gewesen seien, etwas größer als er, der Statur nach Männer. Aber sie hätten Sturmhauben getragen, die Gesichter seien nicht zu erkennen gewesen.

Die Bundesanwaltschaft hakt nach: Ob die Täter wirklich nur Männer waren? Enrico B. bleibt dabei: „Ich habe sie als männlich wahrgenommen.“ Und: „Ich habe, ohne chauvinistisch zu sein, einer Frau so einen Übergriff einfach nicht zugetraut.“

Schon in den Prozesstagen zuvor konnten auch Zeuginnen des Überfalls Lina E. nicht identifizieren. Eine Passantin will womöglich eine Frau mit Bobfrisur erkannt haben, eine andere eine mit blonder Strähne. Für die Ver­tei­di­ge­r:in­nen taugt das nicht: Die Beschreibungen widersprächen sich, keine passe auf Lina E. Und Enrico B. habe nun ja überhaupt keine Frau wahrgenommen.

Was taugt die DNA-Spur?

Am Tatort fanden Ermittler allerdings auch noch eine DNA-Mischspur an einem Plastikbeutel, welche die Ermittler Lina E. zurechnen. Aber auch hier ziehen die Ver­tei­di­ge­r:in­nen in Zweifel, wie aussagekräftig die Spur ist und ob wirklich sicher gesagt werden kann, dass sie von Lina E. kommt.

Schon vor einer Woche sagte ein weiterer Angegriffener im Prozess aus, Tobias N. Der Kanalarbeiter war im Januar 2019 in Leipzig-Connewitz überfallen worden, wohl weil er eine rechtsextreme Mütze trug. Ein Vermummter habe ihm plötzlich ins Gesicht geschlagen, sagte Tobias N. vor Gericht. Dann seien Schläge von mehreren Seiten gefolgt. Er habe sich den Angriff lange nicht erklären können, die Marke seiner Mütze angeblich nicht gekannt.

Identifizieren konnte Tobias N. die Angreifer ebenfalls nicht. Und auch ein Arbeitskollege sprach vor Gericht nur von „einem Mädchen“, das beim Angriff dabei gewesen und einen Reizgasbehälter gehalten habe. Er solle ruhig bleiben, von ihm wolle man nichts, habe sie zu ihm gesagt. Es gehe um seinen Kollegen, der ein „Nazi“ sei und „es verdient“ habe.

Die Anklage stützt sich hier noch auf ein abgehörtes Gespräch aus dem Auto eines der Mitangeklagten. „Das waren wir“, soll dort der Lebensgefährte von Lina E. über den Angriff auf den Kanalarbeiter gesagt haben. Die Verteidigung hält den Satz dagegen für mehrdeutig. Wen meint „wir“? Eine genaue Gruppe, und wenn ja, welche? Oder die Szene? Noch dazu seien die abgehörten Gespräche nicht im Prozess verwendbar, weil sie aus einem anderen Verfahren stammen.

In den kommenden Wochen sollen auch noch die anderen angegriffenen Rechtsextremen aussagen, dazu zahlreiche Er­mitt­le­r:in­nen und Gutachter:innen. Angesetzt ist der Prozess bis März 2022.

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