Atomkraft in Deutschland: Abgeräumt? Von wegen!
Obwohl der Atomausstieg noch immer nicht komplett erfolgt ist, spielte das Thema Kernkraft im Wahlkampf keine Rolle. Droht gar eine Renaissance?
Atomkraft? War da mal was? Im Bundestagswahlkampf spielte das Thema praktisch keine Rolle, für die Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen ist dasselbe zu erwarten. Warum auch, mögen viele denken. Der Atomausstieg laufe doch, das Problem sei abgeräumt.
Von wegen. Nach wie vor sind in Deutschland sechs große Leistungsreaktoren am Netz, die Bundesrepublik ist – nach Frankreich – zweitgrößter Atomstrom- und Atommüllproduzent in der EU. Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen sollen zum Jahresende abgeschaltet werden, voraussichtlich ein Jahr später folgen mit Ohu, Emsland und Neckarwestheim die letzten drei Meiler.
Bis zum letzten Tag müssen AKW alle Sicherheitsanforderungen erfüllen. Aus Sicht von Umweltschützern mehren sich allerdings Hinweise, dass die Atomaufsichtsbehörden das nicht (mehr) so ganz genau nehmen.
In den AKW Emsland und Neckarwestheim bildeten sich infolge altersbedingter Korrosion Spannungsrisse – Neckarwestheim 2 ist mit 30 Jahren der jüngste Reaktor. Rund 300 solcher Risse gebe es allein in diesem Kraftwerk, so die Antiatomorganisation Ausgestrahlt, die nach eigenen Angaben interne Behördenakten einsehen konnte.
Hinweise auf Gefahren ignoriert
Dem Betreiber EnBW, der zu großen Teilen dem grün-schwarz regierten Land Baden-Württemberg gehört, wirft Ausgestrahlt vor, Hinweise auf diese Gefahr lange verschwiegen zu haben. Und die dem grün geführten Umweltministerium unterstehende Atomaufsicht habe die Warnungen ihrer eigenen Experten ignoriert und ein Risiko bestritten.
„Alle Sachverständigen, die es in der Bundesrepublik gibt, haben bestätigt, dass die Anlage […] höchsten Sicherheitsanforderungen entspricht“, so die Behörde im Juli, als zwei von ihr beauftragte Gutachter schon ein Bersten der betroffenen Rohre nicht mehr ausgeschlossen hatten.
Neben den noch laufenden Anlagen birgt auch der sich über Jahrzehnte hinziehende Abriss der AKW Gefahren. Die Strahlenschutzverordnung erlaubt, radioaktiv verstrahltes Material wie etwa Bauschutt als „normalen“ Müll zu entsorgen – sofern die zusätzliche Belastung für eine Person 10 Mikrosievert nicht überschreitet.
Freimessen auf zu hohe Grenzwerte
Bereits zur Anwendung kommt das sogenannte Freimessen: Der radioaktive Schrott wird so lange gewendet und geschleudert, bis die – nach Ansicht von Kritikern viel zu hohen – Grenzwerte unterschritten sind und die Abfälle auf Deponien landen oder im Straßenbau Asphalt beigemischt werden können.
Auch ist der Atomausstieg keineswegs vollständig. Die Brennelementefabrik in Lingen und die Urananreicherungsanlage in Gronau, die Atomkraftwerke in halb Europa, auch berüchtigte Pannenmeiler in Belgien und Frankreich, mit frischem „Brennstoff“ beliefern, haben unbefristete Betriebsgenehmigungen. Auch diverse Forschungsreaktoren sind noch in Betrieb, und in die Atomforschung etwa in Jülich, Karlsruhe oder Aachen fließen nach wie vor erhebliche Summen aus öffentlicher Hand.
Womöglich droht mittelfristig sogar eine Renaissance der Atomkraft durch die Hintertür. Lobbyorganisationen verweisen auf den im Vergleich zu Kohlekraftwerken deutlich geringeren CO2-Ausstoß und verschweigen gern die gigantischen Umweltschäden bei der Uranförderung und -aufbereitung sowie die großen Risiken bei der Lagerung des Atommülls. Auch EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton spricht sich bereits für ein Comeback der Atomenergie aus – als Energiequelle für die Produktion von Wasserstoff.
Wenn es nach Europas Konservativen und Liberalen geht, soll der EU-Standard für nachhaltige Investitionen (EU-Taxonomie) künftig auch Investitionen in Kernkraftanlagen umfassen. Damit bekämen sie ein Öko-Label, ähnlich wie der Bau von Windrädern und Solaranlagen.
Immer noch verweisen Grünen-Politiker darauf, dass die Partei aus der Anti-Atom-Bewegung hervorgegangen sei. Die Verhandler in Berlin sollten sich daran erinnern.
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