Effektivität von Schulschließungen: Die Old-School-Methode

Wenn Kinder zu Hause bleiben, verbreitet sich Corona langsamer, zeigt eine Studie. Doch es gäbe auch andere gute Mittel – wenn man denn wollte.

Ein Kind steht an einer Tafel mit dem Rücken zur Kamera. Mit einem Stift malt es einen großen Kreis mit vielen Zacken, die Umrisse des Coronavirus

Es gibt noch viel zu lernen: Ein Grundschüler malt in München ein Coronavirus Foto: Matthias Balk/dpa

Kaum eine Beteuerung dürfte diesen Sommer so oft wiederholt worden sein wie die, den Kindern und Heranwachsenden in Deutschland nach den Ferien wieder einen regulären Schulunterricht im Präzenzbetrieb ermöglichen zu wollen. Und kaum eine Befürchtung ist unter Eltern von schulpflichtigen Kindern wohl so verbreitet wie die, das daraus doch wieder nichts wird.

Die Pandemie zieht auch in Deutschland kräftig an, mitten im Sommer hat sich die Inzidenz in den vergangenen Wochen verdreifacht. Noch ist das Niveau der bestätigten Fälle eher niedrig. Aber das Infektionsgeschehen im Ausland lässt ahnen, was inmitten der Reisesaison und trotz nachlassender Pandemiegefühle im nahenden Herbst möglich ist. Experten halten Inzidenzen im hohen dreistelligen Bereich für realistisch, der Bundesgesundheitsminister warnt gar vor der 800. Und wie schnell alles gehen kann, zeigt der Blick nach Lüneburg. Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete für den Landkreis am Mittwoch eine Sieben-Tage-Inzidenz von knapp 74 je 100.000 Einwohner. Zwei Wochen zuvor lag der Wert dort noch unter zwei.

Worauf muss sich Deutschland also einstellen – und welche Maßnahmen werden am ehesten helfen, einer nächsten Welle Einhalt zu gebieten? Epidemiologen haben dazu schon Erkenntnisse vorgelegt, und zusammengefasst dürften sie für Eltern mit großen Hoffnungen auf einen regulären Schulbetrieb in der Tat ernüchternd sein.

So kam eine Übersichtsarbeit aus dem Journal of Infection, die Ergebnisse aus knapp drei Dutzend Studien zur Wirksamkeit von Pandemie-Maßnahmen zusammenfasst, zuletzt zu dem Schluss, dass Schulschließungen zu Beginn der Pandemie weltweit die effektivste der „nicht-pharmazeutischen“, also nicht durch Medikamente oder Impfungen bewerkstelligten Maßnahmen waren. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass der Effekt in den folgenden Wellen etwas nachließ, weil sich die Schulen auf die Pandemie einstellten und die Schüler etwas besser schützen konnten. Das unterstreichen die Autoren der Analyse auch. Doch im derzeit wieder starken Drang nach Normalität bleiben Schulen womöglich ein zentraler, wenn nicht der letzte Faktor.

Die bekannten Restriktionen wirken

Denn falls sonst nichts geschieht, wenn Fabriken, Büros, Restaurants, Kinos, Fußballstadien und Konzerthallen uneingeschränkt geöffnet sein sollen, wenn jeder reisen will, wohin er will und im Supermarkt bald auch keine Maske mehr tragen möchte, sind Schulschließungen das einzige und einfachste Mittel, das bleibt. Zumindest legen die Analysen der Wissenschaft dies nahe. Doch lassen sich Erkenntnisse über die Wirksamkeit früherer Maßnahmen noch auf heute übertragen?

Den nötigen 80 Prozent doppelt Geimpften in der Bevölkerung über 12 Jahren stehen derzeit nur gut 50 Prozent vollständig immunisierte Menschen gegenüber

Im Großen und Ganzen wohl schon. Bereits vor Beginn der Impfungen war deutlich, dass alle Varianten von Sars-CoV-2 (oder kurz Sars-2) auf die einschlägigen Maßnahmen ansprechen. Wann immer Kontaktbeschränkungen, Maskenpflicht und Hygieneregeln streng verfolgt wurden, sank die Inzidenz in den betreffenden Ländern deutlich.

Erst Lockerungen oder gar vollständige Öffnungen ohne Einschränkungen, wie sie jetzt oft gefordert oder schon umgesetzt werden, führten jeweils wieder zu einer Ausbreitung des Virus. Es gibt keinen Hinweis, dass es bei Delta anders wäre. Die Variante ist durch die bekannten Restriktionen eindämmbar. Die Frage ist nur, welche Maßnahmen dafür jetzt ergriffen werden müssen.

Doch im vergangenen Jahr war auch vieles anders, vor allem gibt es heute hohe Impfquoten. Die Schulen führten Hygiene- und Testkonzepte ein, wenn auch mit teilweise geringem Erfolg und beschränkter Aussagekraft. So bieten Schnelltests in der Massenanwendung nur eine begrenzte Sicherheit.

In fünf Bundesländern geht kommende und übernächste Woche die Schule wieder los. Die Lage in allen europäischen Ländern einschließlich Deutschland spitzt sich unterdessen mehr oder weniger rasch zu. Zwar hat sich das Wachstum der Sieben-Tage-Inzidenz zuletzt vielerorts ein wenig entschleunigt, in Großbritannien sinkt der astronomische Inzidenzwert seit gut einer Woche sogar sehr deutlich. Doch Experten gehen davon aus, dass dieses Nachlassen im Infektionsgeschehen nicht auf eine beginnende Herden­immunität durch Geimpfte und Genesene, sondern sehr wahrscheinlich auf das Ende der Europameisterschaft zurückzuführen ist.

Das Sportereignis mit teils gut gefüllten Stadien und Massenveranstaltungen wie Public Viewings hatte die Übertragungen des Coronavirus wie ein Turbo über mehrere Wochen besonders stark angetrieben, nun fällt diese Beschleunigung weg. Hinzu kommt, dass auch in Großbritannien vor mehr als zwei Wochen die Ferien begonnen haben, die Schulen also nicht mehr zur Verbreitung von Sars-2 beitragen. Das Virus breitet sich aber dennoch weiter aus. Die vierte Welle rollt also bereits, und sie wird ohne Maßnahmen nur durch Impfungen zu stoppen sein.

Dafür wäre allerdings eine Impfquote erforderlich, die in Deutschland und anderswo nach aktuellem Stand bis zum Herbstbeginn nur noch schwerlich erreicht werden wird. Den nötigen 80, besser noch 85 Prozent doppelt Geimpften in der Bevölkerung über 12 Jahren stehen derzeit nur gut 50 Prozent vollständig immunisierte Menschen gegenüber.

Neue Welle würde auch Schulen treffen

Die Quote ist unter besonders Covid-gefährdeten Älteren zwar deutlich höher, dennoch gibt es unter den Deutschen noch immer rund 30 Millionen Menschen ohne vollständigen Impfschutz – und derzeit sieht es nicht danach aus, als ob diese Zahl in den kommenden Wochen bedeutend sinken würde. Gesunken ist vielmehr die Impfbereitschaft. Wenn es so weitergeht wie derzeit, sind zum Oktober gerade mal 65 Prozent der Deutschen vollständig immunisiert.

Und das ist gefährlich: Trotz Impfungen werden nach Berechnungen des Mathematikers Andreas Schuppert von der RWTH Aachen im Fall einer erneuten unkontrollierten Ausbreitung deshalb noch knapp 400.000 Menschen in Deutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur im Krankenhaus, sondern auf der Intensivstation landen, fast die Hälfte davon aus der Altersgruppe 60 plus.

Dazu kommt, dass eine unkontrollierte vierte Welle mit Inzidenzen im hohen dreistelligen Bereich nicht einfach über geöffnete Schulen hinweg liefe, sondern gerade die ungeschützten Jüngsten mit voller Wucht träfe, für die in Deutschland noch keine Impfung zugelassen oder empfohlen ist. Zwar erkranken Kinder bislang nur selten schwer, die meisten bekommen nur leichte oder gar keine Symptome, und auch Todesfälle sind nicht bei bestehenden Vorerkrankungen aufgetreten.

Dennoch gibt es ein Risiko für schwere Verläufe. Schuppert rechnet mit etwa 2.000 Intensivpatienten in der Altersgruppe unter 18 Jahre, falls keine Maßnahmen zur Eindämmung des Virus ergriffen werden. Und auch der Gesundheitsexperte Reinhard Busse von der Technischen Universität Berlin ist besorgt, da es zu den Spätfolgen einer Infektion, insbesondere zu Long Covid, gerade im Fall von Kindern und Jugendlichen bisher zu schwache Daten gebe.

Laut Lehrerverband fehlt Geld für Lüftungstechnik

Das durch verschiedenste anhaltenden Beschwerden gekennzeichnete Syndrom tritt nicht nur im Zusammenhang mit schweren Verläufen auf, es kann auch nach milden Infektionen dauerhaft zu Komplikationen führen. Vor allem chronische Erschöpfung ist ein häufig beobachtetes Symptom von Long Covid. Unter Kindern kann eine Covid-Erkrankung zudem zum sogenannten PIMS- oder zu einem Kawasaki-Syndrom führen, beide sind durch eine heftige Entzündungsreaktion des Körpers nach durchgemachter Infektion gekennzeichnet.

Auch britische Experten warnen davor, auf alle Maßnahmen zu verzichten und die vierte Welle – wie im Königreich – einfach laufen zu lassen. „Eine ungehemmte Verbreitung wird auf unverhältnismäßige Weise ungeimpfte Kinder und Jugendliche treffen, die schon so stark gelitten haben“, schreibt die Gruppe von Fachleuten im medizinischen Journal The Lancet.

„Ich habe zwar keine schulpflichtigen Kinder, aber mache mir schon Sorgen“, sagte Reinhard Busse bei einer Pressekonferenz des deutschen Science Media Centers am Dienstag. Dass in den Schulen nun „fieberhaft Lüftungsanlagen eingebaut“ worden seien, habe er jedenfalls nicht mitbekommen. Und den spärlichen verfügbaren Daten zufolge liegt Busse damit auch richtig.

Die Bundesregierung hat für die übertragungshemmende Lüftungstechnik zwar Geld bereitgestellt, doch sind die Finanzierungen nach Angaben des Lehrerverbands unzureichend. Selbst in Bundesländern, die besonderen Aufwand betreiben, konnte bislang nur teilweise aufgerüstet werden. In Berlin haben sogar mehr als zwei Drittel der Schulen kurz vor dem Ende der Ferien noch keine neuen Anlagen.

Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt

„In meinen Augen ist es sehr wichtig, dass man jetzt die Diskussion führt, die man eben im vergangenen Sommer nicht geführt hat, weil man dachte, das Problem sei bereits gelöst“, sagt der Schweizer Epidemiologe Christian Althaus von der Universität Bern. Man müsse damit rechnen, dass es in den meisten oder allen europäischen Ländern im Winter wieder zu einer starken Belastung mit Infektionen komme, und auch zu einer relativ hohen Zahl von Todesfällen.

Um das zu verhindern, genügen nach Ansicht des Experten vereinzelte Maßnahmen, einen weiteren harten Lockdown hält Althaus nicht für notwendig. Doch wer den Unterricht der Kinder garantieren möchte, „muss sich schon sehr gut überlegen, was man zu welchem Zeitpunkt machen will“, sagt Althaus. Vor dem Hintergrund der Studienlage hieße das, andere Maßnahmen als die Schulschließungen rechtzeitig wieder ins Spiel zu bringen. Dazu gehört neben forcierten Anreizen für Erwachsene, sich rasch impfen zu lassen, wohl auch die Aussicht auf eine erneute Einschränkung im öffentlichen und im Arbeitsleben.

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