Kinostart des Dramas „Der Rausch“: Jenseits von Hygge

Endlich läuft Thomas Vinterbergs oscarprämiertes Drama „Der Rausch“ in den deutschen Kinos. Komik und Tragik liegen darin extrem dicht beieinander.

Der trinkende Leher ist von trinkenden Schülern umringt. Alles tragen sie die gleiche Mütze. Es ist ein sonniger Tag und die Bande scheint etwas zum Feiern zu haben.

„Dieses ganze Land ist doch ständig besoffen!“, bricht es aus Martins schwedischer Ehefrau heraus Foto: Weltkino

„Für Ida“ steht im Abspann des Films, mit dem Thomas Vinter­berg den diesjährigen Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewann. Ida, die 19-jährige Tochter des Regisseurs, hatte eine Rolle in „Der Rausch“ übernehmen sollen, starb jedoch noch zu Beginn der Dreharbeiten bei einem Autounfall. Jemand, der während des Fahrens auf sein Telefon gesehen hatte, war auf der Autobahn in ihren Wagen gekracht.

Trotz dieser Tragödie wurde der Film fertiggedreht; und man kann sich gut vorstellen, dass die unmittelbare Erfahrung von so großem persönlichen Leid zu der emotionalen Dichte beigetragen hat, die im Spiel der DarstellerInnen spürbar wird.

Zu Beginn allerdings, und genau darum geht es auch, ist bei den Hauptdarstellern eher das Gegenteil zu spüren. Vinterberg eröffnet die Spielanordnung dieses Dramas mit einem maximalen Kontrast. In den ersten Bildern wird ein ausgelassenes Saufspiel mit lauter Musik unterlegt: Jugendliche rennen mit Bierkästen zwischen sich um einen See. Bei jeder Bank wird gestoppt und eine Flasche leergetrunken; synchrones Kotzen gibt Punktabzug. Anschließend entert die enthemmte Meute eine U-Bahn und mischt dort fröhlich die soziale Ordnung auf.

„Der Rausch“. Regie: Thomas Vinterberg. Mit Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen u. a., Dänemark 2020, 116 Minuten

Umso stiller, ja stumpfer wirken die folgenden Einstellungen, die den Lehrer Martin (Mads Mikkelsen) und seine Kollegen zeigen. Alle haben längst die Freude an ihrer Arbeit verloren. Martin ist nicht bei der Sache und redet im Geschichtsunterricht Unsinn, Sportlehrer Tommy (Thomas Bo Larsen) liest Zeitung, während die Klasse Liegestütze absolvieren muss, und der Musiklehrer Peter (Lars Ranthe) lässt die Jugendlichen lustlos irgendwelche Chorsätze absingen.

Die Philosophie der 0,5 Promille

Es ist ihr jüngerer Kollege Nikolaj (Magnus Millang), der bei einem Essen zu seinem vierzigsten Geburtstag die allgemeine Stimmung thematisiert und erwähnt, es gebe da einen norwegischen Philosophen, der die Theorie vertrete, dass der Mensch mit 0,5 Promille zu wenig im Blut geboren werde.

Bei nächster Gelegenheit macht Martin die Probe aufs Exempel, trinkt sich vor dem Unterricht genau 0,5 Promille an und ist begeistert vom positiven Effekt. Die vier Lehrer beschließen ein kontrolliertes Experiment: Ab nun werden sie nur noch mit einem 0,5-Promille-Pegel ihrer Arbeit nachgehen, in der Freizeit dagegen nüchtern sein.

Dass es nicht leicht sein wird, einen solchen Selbstversuch allzeit unter Kontrolle zu behalten, kann man sich denken – vor allem, da die Probanden nach und nach beschließen, im Dienste der Wissenschaft den Promillegehalt weiter zu steigern. Doch zunächst sehen wir ihnen dabei zu, wie sie im sozialen Miteinander über ihr voriges Ich hinauswachsen.

Martin, dessen abgrundtiefe Müdigkeit Mads Mikkelsen zu Beginn aus jeder Pore zu sickern scheint, wird (wieder?) zu einem zugewandten, selbstbewussten Pädagogen, der in der Lage ist, seine vormals so gelangweilte Oberstufenklasse mit neuen Denkansätzen zu inspirieren. Peter füllt traditionelles Liedgut mit neuer musikalischer Glut. Und Tommy wird beim Fußballtraining mit den Kleinsten auf einmal zum väterlichen Kümmerer.

Das Leistungssystem Schule

Das Erstaunliche an diesem Film ist, dass es Vinterberg am Ende tatsächlich gelungen ist, die Waagschale auszubalancieren: Er wertet nicht, sondern beobachtet nur – soweit man das von einem fiktionalen Werk überhaupt behaupten kann. Wer hier nach einer eindeutigen Botschaft sucht, wird jedenfalls mit leeren Händen abziehen müssen. Alkohol tut gut, Alkohol zerstört; beides ist der Fall, manchmal sogar gleichzeitig.

Was hinter den Kulissen vorzufinden ist, keineswegs nationalspezifisch. Es ist vielmehr allgemeingültige menschliche Verkorkstheit

Wenn es eine Sache gibt, die dieser Film einer am Ende eindeutig vernichtend ausgefallenen Prüfung unterzogen hat, dann ist es das Leistungssystem Schule. Wie kann es sein, dass diese Lehrertypen in mittleren Jahren schon derart abgestumpft und desillusioniert sind? (Das Schlimmste daran ist, dass – auch hierzulande – wahrscheinlich niemand diese Darstellung für sehr überzogen hält.)

Warum fällt den OberstufenschülerInnen nichts anderes zur Freizeitgestaltung ein, als sich zu besaufen? Warum muss es diese stressbehafteten Abschlussprüfungen geben, und warum muss der Notenspiegel über die gesamte weitere Bildungslaufbahn entscheiden?

Dass die Abifeier vor allem in einem riesigen allgemeinen, öffentlichen Besäufnis besteht, scheint Teil der dänischen Nationalkultur zu sein. Um die geht es unterschwellig stets mit. Auffällig oft erklingt während des Films patriotisches Liedgut; und stets wird es im Chor, oder im Kollektiv, gesungen. „Dieses ganze Land ist doch ständig besoffen!“, bricht es während eines Streits aus Martins schwedischer Ehefrau hervor.

Prüfungsthema Kierkegaards „Der Begriff Angst“

In der wohl ambivalentesten Szene des Films reicht Lehrer Peter einem von Prüfungsangst geplagtem Schüler seine eigene, mit Wodka gefüllte Wasserflasche, damit der Junge in der Lage ist, die mündliche Abiprüfung in Philosophie überhaupt durchzustehen. Das ist natürlich dick aufgetragen, und auch das Prüfungsthema passt etwas zu gut dazu: Kierkegaards „Der Begriff Angst“. Ein Hang zur Überdeutlichkeit ist Vinterberg durchaus eigen, das war bei „Das Fest“ oder „Die Jagd“ auch nicht anders.

Aber genau dieser sich darin zeigende Wille, unbedingt verstanden zu werden, verleiht seinen Filmen auch eine große Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit in der Beschäftigung mit dem jeweiligen Thema. Und auch wenn „Der Rausch“, ähnlich wie „Die Jagd“, mit seinem besonders genauen Blick darauf abzuzielen scheint, die dänische Hygge als trügerisch schöne Fassade zu entlarven, ist das, was dort hinter den Kulissen vorzufinden ist, keineswegs nationalspezifisch. Es ist vielmehr allgemeingültige menschliche Verkorkstheit.

Und weil es in „Der Rausch“ auch um Enthemmung geht und darum, die Grenzen allgemeiner Verhaltensnormen zu überschreiten, bietet der Film viele komische Momente. Grenzverletzungen allerdings sind nur so lange komisch, bis sie in Kontrollverlust übergehen.

Daher liegen Komik und Tragik hier extrem dicht beieinander, sind eigentlich kaum voneinander zu trennen, haben sie doch dieselbe Ursache: den Rausch. Mit einem veritablen solchen lässt Vinterberg den Film enden – und seinen Hauptdarsteller in einer weiteren künstlerischen Disziplin brillieren. Mads Mikkelsen war nämlich einst Tänzer, bevor er Schauspieler wurde.

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