Österreichs Hygienekonzept: Ich halte die Luft an

In Österreich kehrt das alte Leben zurück. Während viele ihren Sekt im Café genießen, kann ich erst entspannen, wenn alle, die wollen, geimpft sind.

Menschen sitzen in einem altertümlichen Kaffeehaus in Wien

Auf einen Verlängerten: Gäste sitzen im wiedereröffneten Kaffeehaus „Cafe Sperl“ in Wien Foto: Lisa Leutner/AP/dpa

Während sich bei Ihnen (oder sind wir nach fast zwei Jahren schon per Du?) in Deutschland die Öffnungsschritte nach Bundesland unterscheiden, hat hier bei uns in Österreich alles – außer den Universitäten – wieder offen: Schulen, Gastronomie, Kulturveranstaltungen – das Land atmet unter Hygienekonzept wieder auf, nur ich halte die Luft an (in der Hoffnung, die Viren der Frau im Café neben mir nicht einzuatmen).

Als ich mir am Mittwoch, dem großen Öffnungstag, einen Coffee-to-go holte, spielte es um 12 Uhr mittags Partymusik, jeder bekam ein Glas Sekt serviert, das Se­nio­r*in­nen lachend zu ihrem Kuchen genossen.

Mein ungeimpftes Ich dagegen wollte nur noch heim. Aber auch von mir erwarten jetzt alle wieder was. Lesungen und Podiumsdiskussionen finden nicht mehr online, sondern wieder vor Publikum statt. Dafür müsste ich eigentlich dankbar sein, aber nach mehreren Stunden im vollen Zug zum Veranstaltungsort hin- und zurück fahren und bis zu 100 Menschen gegenübersitzen, von denen nicht alle die Maske über die Nase ziehen, bin ich eher erschöpft.

Ich bin eigentlich ziemlich robust, aber ich bin nach dieser ersten Öffnungswoche zwei Tage völlig kaputt im Bett gelegen. Ich habe mehrere Coronatests gemacht, weil ich dachte, ich wäre krank, aber es war wohl wirklich nur die mentale Erschöpfung, wenn das Leben von 0 auf 100 aufdreht. Ich hätte ein soft-opening in mein Leben von 2019 gebraucht, einen sanften Übergang. Nicht gleich von Lockdown 5 zur alten Normalität.

Wochen bis wir immunisiert sind

Während österreichische Epidemiologen und Simulationsforscher sagen, dass es keinen weiteren Lockdown mehr in Österreich brauchen werde und von einer Aufhebung der Maskenpflicht sprechen, hat sich in meiner Welt ja nichts geändert (außerdem kriegt mein abgergläubisches Ich immer Schnappatmung, wenn jemand so etwas prophezeit, ohne dreimal auf Holz zu klopfen). Ich bin noch nicht immunisiert, Personen aus meinem nächsten Umfeld sind nicht geimpft und selbst wenn im Sommer dann voraussichtlich alle, die wollen einen Impftermin bekommen, müssen Wochen vergehen, bis wir immunisiert sind.

Kinder und Jugendlichen unter 16 kommen überhaupt erst frühestens im Herbst dran. Eine Schülerin hat mir erzählt, sie würde sich mehr Solidarität von den Älteren und schon Geimpften wünschen. Obwohl der Präsenszunterricht für alle aufgenommen wurde, wollen sich einige ihre Lehrerinnen nicht impfen lassen. Andere glauben, weil sie ihre erste Teilimpfung haben, keine Maske mehr tragen oder Abstand halten zu müssen – dabei sind ihnen die Schü­le­r:in­nen schutzlos ausgeliefert. In Österreich sind mittlerweile viele der Neuinfizierten unter 18 Jahre alt und Berichte über Long Covid bei jungen Menschen häufen sich. Die Maßnahmenlockerungen werden auf dem Rücken der Jungen ausgetragen.

Auch wenn ich selber bald meinen Impftermin habe – in Wien sind Jour­na­lis­t:in­nen mit viel Menschenkontakt dran – werde ich erst zu meinem „alten“ Leben zurückkehren, wenn alle, die wollen, geimpft werden. Die Jungen haben ihr gewohntes Leben 1,5 Jahre aufgegeben, vor allem um die jetzt Geimpften zu schützen – also lasst eure verdammten Masken an.

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Autorin "Generation haram", Journalistin, ehemalige Lehrerin, lebt in Wien

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