Opposition in Russland: „Schwankendes Skelett“

Der Gesundheitszustand des Kremlkritikers Alexei Nawalny ist lebensbedrohlich. Seine Un­ter­stüt­ze­r*in­nen rufen zu landesweiten Protesten auf.

Mann in Uniform vor einem Tor

Das Gefängniskrankenhaus in Wladimir: Ärzte seines Vertrauens dürfen nicht zu Alexei Nawalny Foto: ap

MOSKAU taz | Für manche in Russland ist der heutige Mittwoch der Tag der Entscheidung. Ein Tag, an dem die zentralen Plätze der Städte noch am Abend zuvor abgesperrt worden sind, an dem die Sonderpolizei in Alarmbereitschaft versetzt ist, an dem Rechtsberatungen Merklisten zum Verhalten bei einer Festnahme verschicken und Jour­na­lis­t*in­nen sich noch irgendwo neongrüne Westen beschaffen, damit sie nicht als Teil­neh­me­r*in­nen ungenehmigter Demonstrationen – im Sprachgebrauch der Behörden sind das „Massenunruhen“ – gelten und sich damit strafbar machen im Land.

Am Mittag (Ortszeit) will sich der russische Präsident Wladimir Putin in der Moskauer Manege, einer früheren Paradehalle für Reitvorführungen gleich neben dem Kreml, mit einer Rede an die Nation wenden. „Botschaft“ heißt der Rechenschaftsbericht an die beiden Kammern des Parlaments, auch wenn Putin selten Rechenschaft über sein Handeln ablegt. Es dürfte viel darum gehen, wie gut Russland allerlei meistere: von der Coronapandemie bis zu den Krisen in der Welt. Er dürfte einiges an Geld für Soziales verteilen und auf die Unzufriedenheit vieler Menschen gar nicht erst eingehen.

Einige Tausend dieser Unzufriedenen, die Mutigsten von ihnen, wollen sich am Abend den Schlagstöcken der Polizei stellen. Anhänger des inhaftierten, hungerstreikenden und offenbar ausgemergelten russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny haben quer durchs Land zu Protesten aufgerufen. In Moskau wollen sie sich am Manege-Platz versammeln. Doch dieser war bereits am Dienstagabend nicht zugänglich. Auch nimmt die Polizei seit Tagen Nawalnys Mit­strei­te­r*in­nen fest.

Die De­mons­tran­t*in­nen wollen erreichen, dass ihr Idol, ein Mensch, der in seiner Zelle immer weniger wird, behandelt wird. Von Ärzten, denen er vertraut. Nach russischem Gesetz steht einem Inhaftierten die Möglichkeit zu, von Me­di­zi­ne­r*in­nen betreut zu werden, die außerhalb von Gefängnismauern tätig sind.

Mediziner bleiben draußen

Im Fall Nawalny blieben diese Me­di­zi­ne­r*in­nen bislang draußen. Die Strafvollzugsbehörde lässt sie nicht hinein, weder in die Strafkolonie von Pokrow, in der Nawalny seine zweieinhalbjährige Strafe absitzt, noch auf die Krankenstation eines Gefängniskrankenhauses in Wladimir, in das Nawalny nach Angaben der Strafvollzugsbehörde am Sonntag verlegt worden ist. Laut Nawalnys Anwälten bekommt er dort eine Vitamin-Therapie.

Für die Gefängnisärzte ist der Zustand des Patienten „zufriedenstellend“. Die Laborwerte, die Nawalnys Familie vorliegen, zeigen dagegen viel zu niedrige Kalium- und Kreatininwerte, was auf Nierenversagen und Herzrhythmusstörungen deutet. „Unser Patient kann jede Minute sterben“, sagt sein Kardiologe. Mehrere Dutzend Rus­s*in­nen sind aus Solidarität mit dem 44-Jährigen ebenfalls in einen Hungerstreik getreten.

Nawalny selbst lässt über seinen Instagram-Account kurze Texte verbreiten, in denen er sich witzig zu geben versucht. „Ich wäre gerade gut geeignet, um Kindern, die nicht essen wollen, mit Schauergeschichten Angst einzujagen: Mascha, Kleines, wenn du nicht isst, wirst du wie dieser Onkel da aussehen, mit riesigen Ohren und eingefallenen Augen. Nein, Mama, nein, ich werde alles aufessen und um Nachschlag bitten“, heißt es da. Er bezeichnet sich als „schwankendes Skelett in der Zelle“. Der Humor ist ihm geblieben, für seine Rechte setzen sich quer durch die Welt nun andere ein.

Internationale Prominente schreiben Briefe an Putin, russische Regionalabgeordnete fordern seine Behandlung. „Hinter Gittern ist der Mensch, der krank ist und ausgemergelt, in dreifacher Weise verletzlich: Nicht nur seine Menschenwürde ist bedroht, sondern auch seine Gesundheit. Einfach sein Leben“, schreibt die russische Journalistin Katerina Gordejewa und nennt das Vorgehen gegen Nawalny ein „echtes humanitäres Verbrechen“.

Netzwerk zerschlagen

Die teils dramatischen Appelle prallen an den Behörden ab. Der Kreml weigert sich, „den Gesundheitszustand Inhaftierter“ zu kommentieren, wie Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Montag sagte. Die Führung ist vielmehr an der Zerschlagung von Nawalnys Netzwerk interessiert.

Am kommenden Montag soll in einer nicht öffentlichen Sitzung gegen Organisationen des Oppositionspolitikers wegen Extremismus vor Gericht verhandelt werden. Weil der Fall „geheim“ sei, dürfen sich Nawalnys Anwälte im Vorhinein nicht mit der Akte vertraut machen. Was ihn zu einem solchen Fall macht, erklären die Behörden nicht. Die Repressionsmaschine des Staates läuft auf Hochtouren. Das Regime setzt auf Angst. Und auf Apathie. Die Menschen haben sehr viel zu verlieren, wenn sie sich zum Protest auf die Straße wagen. Viele tun den Schritt dennoch. In vollem Bewusstsein, im Gefangenentransporter zu landen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.