Kurden in der Türkei: Richter schießen quer
Das türkische Verfassungsgericht lehnt den Antrag auf ein HDP-Verbot ab. Das offenbart, dass die gesamte Anklage mit heißer Nadel gestrickt ist.
Offenbar war die gesamte Verbots-Anklage mit heißer Nadel gestrickt. Das spricht mit dafür, dass der Generalstaatsanwalt bei dem gesamten Verfahren nicht nur aus eigenem Antrieb gehandelt hat, sondern Anweisungen aus der Politik folgte. Der für ihn zuständige Innenminister Süleyman Soylu ist seit langem gegen einen schärferen Kurs gegen die HDP, wurde aber von Präsident Recep Tayyip Erdogan wohl nicht eindeutig instruiert, weshalb er wochenlang zögerte. Anders der Vorsitzende der rechtsradikalen MHP, Devlet Bahceli. Er drängt seit längerem offensiv auf ein Verbot der HDP, weil nur so „die PKK wirkungsvoll bekämpft werden könne“.
Auftrieb bekam Bahceli, dessen MHP de facto mit Erdogans AKP koaliert, als Mitte Februar eine Befreiungsaktion türkischer Spezialkräfte im Nordirak scheiterte und 13 türkische Gefangene der PKK, alle Soldaten und Polizisten, getötet wurden. Die HDP hatte seit längerem darauf gedrängt, dass die Gefangenen durch Verhandlungen ausgelöst werden sollten, doch die Regierung hatte das empört zurückgewiesen. Jetzt wurde die HDP zum Blitzableiter für die gescheiterte Befreiungsaktion. Man warf ihr erneut vor, mit der PKK zusammen zu arbeiten.
In dieser Situation verschärfte Bahceli seine Forderung nach einem Verbot der HDP und versuchte alle anderen, die ihn dabei nicht unterstützen wollten, zu Sympathisanten „der Terroristen“ zu machen. Das zeigt in der Türkei immer Wirkung – vor allem bei der sozialdemokratischen CHP und der rechten IYI-Parti, die in der Opposition zumindest indirekt mit der HDP zusammengearbeitet hatten.
Verunsicherung allerorten
Selbst im Ausland sind viele verunsichert. So beschwerten sich die beiden HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar in einem offenen Brief an Bundesaußenminister Heiko Maas, dass dieser zwar den Verbotsantrag gegen ihre Partei kritisiert, gleichzeitig aber die HDP aufgefordert habe, sich eindeutig von der PKK zu distanzieren. Das sei eine Wiederholung der Propaganda der Regierung, merkten die beiden an.
Auch wenn ein großer Teil des türkischen Establishments den Vorwurf der Zusammenarbeit zwischen HDP und PKK nicht nur propagandistisch erhebt, sondern tatsächlich davon überzeugt ist, gibt es für den Verbotsantrag einen weiteren, triftigen Grund. Die HDP bedroht die Mehrheit der Regierungskoalition und eine Wiederwahl von Erdogan bei der Wahl 2023.
Wie sich bei den Kommunalwahlen 2019 in den großen Städten des Landes gezeigt hat, gewinnt die Opposition, wenn sie von der HDP unterstützt wird. Sollte es also zu halbwegs regulären Wahlen kommen und die Opposition einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten präsentieren, der dann auch von der HDP unterstützt wird, hat Erdogan wenig Chancen wiedergewählt zu werden. Deshalb sollen die knapp 7 Millionen Wählerstimmen, die die HDP erringen konnte, durch ein Verbot der Partei neutralisiert werden.
Vor diesem Hintergrund war es durchaus mutig von den Richtern des Verfassungsgerichts, den Antrag auf ein Verbot der HDP erst einmal zurückzuweisen. Bahceli sagte in einer Reaktion auf den Richterspruch, man solle das Verfassungsgericht mit der HDP gleich mit abschaffen.
Langsame Zermürbung
Das ist aber erst einmal unwahrscheinlich. Denn nun müssen der Generalstaatsanwalt beziehungsweise die Regierung überlegen, ob sie eine neue Klageschrift formulieren sollen oder nicht. Die Alternative zu einem Verbot ist die langsame Zermürbung der HDP.
Seit der Kommunalwahl wurden von über 60 der HDP nahestehenden Bürgermeister 56 aus dem Amt entfernt und durch Zwangsverwalter ersetzt. Gegen etliche Abgeordnete der HDP liegen dem Parlamentspräsidenten Anträge auf Aufhebung ihrer Immunität oder einen Mandatsentzug vor.
Das Verfassungsgericht hat am gleichen Tag, an dem es den Verbotsantrag gegen die HDP zurückwies, ebenfalls eine Klage des HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioglu zurückgewiesen, der gegen seinen Mandatsentzug vorgehen wollte. Sein Rauswurf aus dem Parlament sei rechtens, befanden die Richter.
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