Fans mit Deutschlandflaggen stehen im Treppenhaus eines Stadions

Deutschlandflaggen schienen 2006 Bot­schafter eines freundlichen Landes. Nicht so bei der WM 2018 Foto: Sebastian Wells

Nationalmannschaft in der Krise:Wenn der Kick fehlt

Früher fieberten alle mit, wenn die Nationalmannschaft spielte, heute nicht mehr. Unser Autor hat das Team lange begleitet. Ein Rückblick.

Ein Artikel von

22.3.2021, 10:37  Uhr

Es war der 8. Juli 1990. Wir hatten uns zum Fußballschauen verabredet. Das Wetter in München war nicht besonders gut an dem Tag. Wir waren um die 20, kannten uns aus der Schule, aus der Westkurve des Grünwalder Stadions oder einfach so vom gemeinsamen Trinken in irgendeiner Wirtschaft. Weil wir uns damals auch ein bisschen für Tennis interessiert haben, sind wir schon am frühen Nachmittag zusammengekommen. Eine Deutschlandfahne in Schwarz, Rot und Gelb, die einer von uns aufgetrieben hatte, hängten wir über die Balkonbrüstung, bevor wir den Fernseher einschalteten. Als Boris Becker das Endspiel von Wimbledon nach fünf Sätzen verlor, waren wir schon lange nicht mehr nüchtern. Als endlich das Finale der Fußball-WM zwischen Deutschland und Argentinien in Rom angepfiffen wurde, hatten wir noch mehr gesoffen.

Wie das Spiel verlaufen ist, hätte wahrscheinlich keiner von uns genau sagen können. Später haben wir erfahren, dass das gar nicht so schlimm war, weil eh nicht viel los war auf dem Platz. Dass die Auswahl des DFB Weltmeister wurde, haben wir natürlich schon mitbekommen. Nach dem Schlusspfiff sind wir in Richtung Siegestor gelaufen, um zu schauen, ob und wie dort gefeiert wurde. Am nächsten Tag haben wir auf Fernsehbildern von der Spontanfeier gesehen, dass einer von uns zu denjenigen gehörte, die das Siegestor erklommen haben, um von oben auf München hinunterzujubeln.

Das WM-Turnier 1990 war für mich der Auftakt zu einer mal sehr, mal weniger intensiven Beziehung zur deutschen Fußballnationalmannschaft. Begonnen hat sie mit dem Versuch, so etwas wie ein Fan der DFB-Elf zu werden. Natürlich wollte ich kein echter Anhänger sein. Das ging ja auch nicht wirklich in einer Fußballnation, in der vor allem Vorstopper angehimmelt wurden. Jürgen Kohler, Fußballgott! Es gab Andi Möller, Pierre Littbarski und Lothar Matthäus. Angebetet wurden aber auch Spieler wie Hans-Peter Briegel, der den Spitznamen „Walz aus der Pfalz“ trug.

Das schöne Spiel gehörte anderen. Ein Plakat der Weltmeistermannschaft von 1990 habe ich dennoch damals über mein Bett gehängt. Es sollte irgendwie auch ein ironisches Statement sein. In den 90er Jahren begann, was bald in die Polenwitze von Harald Schmidt mündete. Man fand etwas gut, wovon man eigentlich wusste, dass es scheiße ist. War ja alles ironisch gemeint.

Dass es nicht ganz frisch ist, mit einer Deutschlandfahne über die Leopoldstraße in München zu laufen, war mir durchaus klar. Es war Wendezeit. Deutschland befand sich im Größenwahn. Bundeskanzler war Helmut Kohl. Der ließ sich im Osten von Leuten feiern, die schwarz-rot-goldene Fahnen schwenkten, und freute sich, wenn sie „Wir sind ein Volk!“ brüllten. Nazis hatten angefangen, selbstbewusst ihre blanken Schädel durch die Innenstädte zu tragen, und aus dem Osten hörte man die ersten Geschichten über Baseballschläger schwingende Rassisten. Und da lief ich hinter einer Deutschlandfahne durch die Stadt.

Heute fällt es mir schwer, das zu erklären. Aber weil es irgendwie anders gemeint war, als es aussah, fand ich es damals in Ordnung. Und es gab genug Leute in meinem Freundeskreis, die das ebenso hielten. Man hörte deutsche Schlager, obwohl man sie eigentlich kaum ertragen konnte oder klebte sich einen weiß-blau rautierten „Mia san mia“-Aufkleber auf den Aktenkoffer, obwohl man eigentlich mit dieser CSU-vergifteten Bayerntümelei nichts anfangen konnte. Deutschtümelei kam schon gar nicht infrage. Höchstens ironisch. Da ging alles.

Später habe ich eine professionelle Beziehung zur Nationalmannschaft entwickelt. Seit 2006 begleite ich als Sportreporter Spiele der DFB-Auswahl. Auch diese Beziehung ist nicht immer einfach. Es war ein Auf und Ab. Mal hatte das etwas mit den spielerischen Leistungen des Teams zu tun, mal mit dem Auftreten des DFB-Stabs. Mal habe ich die Nationalmannschaft als ein Abbild des modernen Deutschlands beschrieben, in dem sich die Realität der Einwanderungsgesellschaft fast schon beispielhaft widerspiegelt. Mal war ich fassungslos, wie wenig Sensibilität der DFB im Umgang mit dem Thema Rassismus hat. Bisweilen habe ich den Spielvortrag der deutschen Elitekicker wie ein Kunstwerk wahrgenommen. Und dann war es wieder einmal kaum auszuhalten, wie sich der DFB und seine Nationalmannschaft präsentierten.

Der DFB sucht einen neuen Bundestrainer, und keiner sucht mit

Es gab einen natürlichen Höhepunkt mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien. Und eigentlich dachte ich, der Tiefpunkt sei erreicht, als die Deutschen bei der folgenden WM 2018 in Russland bereits nach der Vorrunde ausschieden. Doch es ging noch weiter bergab.

Ablesen konnte ich das immer an den Reaktionen von Freunden und Kollegen, wenn ich mich wieder aufgemacht habe zu einem Länderspiel. Neben Desinteresse, das es in linken Zusammenhängen beim Thema Fußball immer noch gibt, ist es mal Neid, mal Mitleid gewesen, mit dem ich zu den Spielen der Auswahl geschickt wurde. Es gab Zeiten, da hätte ich viel Geld verdienen können, wenn ich Möglichkeiten gehabt hätte, Freunden Karten für ein Länderspiel zuzuschanzen. Heute würde es mir wahrscheinlich schwerfallen, jemanden zu finden, der mich begleitet.

Das Desinteresse an der Nationalmannschaft hat selbst große Fußballfans erreicht. Gegen wen spielt Deutschland am kommenden Donnerstag? Viele werden nicht wissen, dass mit dem Spiel gegen Island die WM-Qualifikation für das Turnier in Katar 2022 beginnt. Katar? Das auch noch! Der DFB ist im Beliebtheitskeller und spielt um die Teilnahme an einer WM in einem Land, in dem Bauarbeiter ausgebeutet werden und zu Tode kommen, Homosexualität verboten ist und von dem aus Terrororganisationen unterstützt werden. Der Nationalmannschaftsfußball scheint am Ende zu sein. Wie konnte es so weit kommen?

Am Ende ist auch Joachim Löw. Seit 15 Jahren ist er Cheftrainer der DFB-Auswahl. Nach der Europameisterschaft im Sommer wird er aufhören. Das Land braucht einen neuen Bundestrainer. Es gab Zeiten, da versetzte die Trainersuche ganz Fußballland in einen Ausnahmezustand. Das ist in diesen Tagen anders. Der DFB sucht einen neuen Bundestrainer, und keiner sucht mit, undenkbar in früheren Zeiten.

Jogi Löw in schwarzem Mantel läuft im Stadion zwischen den Zuschauern hindurch

Joachim Löw, der Antimacho, ist seit 15 Jahren Cheftrainer Foto: Sebastian Wells

Als Franz Beckenbauer nach dem Vorrundenaus der Deutschen bei der EM 1984 zum Teamchef gemacht wurde, gab es beinahe niemanden, der dazu keine Meinung hatte. Und das war erst recht so, nachdem sich die Deutschen bei der EM 2000 blamiert hatten. Christoph Daum sollte danach eigentlich Bundestrainer werden. Doch es kursierten Gerüchte, er habe auf Halbweltpartys Drogen konsumiert. Mit einer Haarprobe wollte er beweisen, dass er kein Kokser ist. Doch der Test war positiv, und schließlich wurde Rudi Völler Bundestrainer. Kein Thema hat die Republik in diesem Jahr mehr aufgewühlt als die Bundestrainersuche.

Ich hatte sicher auch eine Meinung dazu. Oder mehrere. Auf jeden Fall kann ich mich an heiße Diskussionen erinnern. Auch 2004, als Jürgen Klinsmann installiert wurde, der spätere Sommermärchentrainer der Heim-WM 2006, verfolgten nicht nur Fußballfans das Wirken einer damals eingesetzten Trainerfindungskommission. Mit Klinsmann kam Joachim Löw als Assistenztrainer zum DFB.

Löw war also ganz nah dran, als 2006 die deutsche Nationalmannschaft einen wahren Nationalrausch ausgelöst hat. Die schwarz-rot-goldenen Männlein und Weiblein in den Fanzonen haben es dem bürgerlichen Feuilleton angetan. Und so mancher WM-Tourist hat sich gewundert über dieses lässige Deutschland, wo niemand etwas sagte, wenn man laut singend, eine Flasche Bier in der Hand, mit seinen Kumpanen durch die Innenstadt eines WM-Orts torkelte. Die Deutschen malten sich die mexikanischen Farben auf die Backe, wenn Mexiko in ihrer Stadt spielte, und wenn Trinidad und Tobago in Kaiserslautern antrat, dann wurde in der Pfalz karibischer Karneval gefeiert. Die Deutschlandfahnen, die in jenem Sommer ohne Regen aus so vielen Autos wehten, schienen Botschafter eines freundlich gewordenen Landes zu sein. So heiter kam der Na­tio­na­lis­mus daher, dass man ihn beinahe für ironisch hätte halten können.

So habe sich der Herrgott das Paradies vorgestellt, sagte Franz Beckenbauer, den damals noch viele ganz unironisch „Kaiser“ nannten, bei der Abschlusspressekonferenz der WM, bei der er als omnipräsenter Chef des Organisationskomitees mit dem Hubschrauber von Spiel zu Spiel geflogen war.

Er ist mir vor der Pressekonferenz regelrecht in die Arme gelaufen. Ich war ein wenig spät dran und stürmte in den Raum der Pressekonferenz tief unten in den Katakomben des Berliner Olympiastadions. Der Kaiser war gerade auf dem Weg zum Podium. Ich war zu schnell zum Ausweichen. Um ihn nicht umzurennen, entschied ich, ihn zu umarmen, hob ihn ein wenig an und stellte ihn, nachdem ich selbst zum Stehen gekommen war, wieder auf den Boden. Die WM 2006 hatte durchaus etwas Erhebendes – auch für mich.

Ich hob Franz Beckenbauer ein wenig an und stellte ihn dann wieder auf den Boden

Dritte wurden die Deutschen bei diesem Turnier. Es brachte ein Traumpaar hervor, das viele Deutsche ähnlich zum Knuddeln fanden wie den Eisbären Knut, der im WM-Jahr 2006 im Zoo von Berlin zur Welt kam. Schweini und Poldi wollten alle sehen. Michael Ballack, seinerzeit Deutschlands einziger Spieler von Weltformat, musste ein wenig Platz machen im Sonnenlicht für Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski. Sie waren nicht viel älter als 20 und hatten den Deutschen schon während der Weltmeisterschaft Spaß gemacht. Nach dem Turnier setzte sich das fort.

Joachim Löw war nun alleiniger Trainer. Ein ausgewiesener Antimacho regierte Deutschlands Nationalelf mit süßlich klingendem, stark alemannisch eingefärbtem Zungenschlag. Er eilte von Erfolg zu Erfolg. Und alle wollten seine Mannschaft spielen sehen. Am 7. Oktober 2006 stand ein Freundschaftsspiel gegen Geor­gien an, die ganze Fernsehrepublik freute sich darauf. Ein völlig bedeutungsloses Spiel gegen einen Gegner aus den Untiefen der Weltrangliste vermochte die Menschen zu begeistern. 15 Jahre später blicke ich ratlos auf diesen uninspirierten Kick in Rostock zurück, bei dem Schweini ein wunderbares Tor schoss, und Poldi des Feldes verwiesen wurde, weil er einen am Boden liegenden Gegenspieler getreten hatte.

Die meisten fanden es dennoch schön und freuten sich auch über das Transparent mit der Aufschrift „Wir sagen NEIN zum Rassismus“, mit dem die deutsche Mannschaft auf das Spielfeld gelaufen kam. Ein paar Wochen zuvor war der schwarze Nationalspieler Gerald Asa­moah bei einem Pokalspiel von Schalke 04 hier in Rostock mit Affenlauten bedacht worden. Jetzt war wieder alles gut, man konnte mit einer schwarz-rot-goldenen Blumenkette um den Hals den Rassismus einfach weglächeln.

Auch ich habe vielleicht ein paar Mal zu oft mitgelächelt. Dabei wurden da schon die ersten Studien erarbeitet, die später nachweisen sollten, dass sich mit dem ach so freundlichen Nationalismus bei der Heim-WM rassistische Denkmuster in einem Teil der Bevölkerung verfestigt haben. Am positiven Ruf des Turniers konnte das nichts ändern. Ob ich ihm ein Programmheft mitbringen könnte, hat mich damals der Mann an der Rezeption des Hotels gefragt, in dem ich in Rostock übernachtete. Nach dem Spiel nahm er es beinahe schon zärtlich in Empfang und bedankte sich überschwänglich. Es war die Zeit, in der die deutsche Nationalmannschaft Menschen glücklich machen konnte.

Diese Stimmung wurde auch geprägt durch einen wie Heiligenverehrung anmutenden Dokumentarfilm, der – wie kann es anders sein – am Tag der Deutschen Einheit des Jahres 2006 Premiere feierte. „Deutschland – ein Sommermärchen“ hieß das Werk von Sönke Wortmann, das zeigt, was so los war in der deutschen Mannschaft vor und während der WM.

Einer der Protagonisten ist Oliver Bierhoff. Der ehemalige Nationalspieler war als Manager der Nationalmannschaft zu sehen. Hinter einem Laptop sitzend wird er bei der Planung des Turniers gezeigt. Er soll es also gewesen sein, der dem Land jenen paradiesischen Sommer beschert hat. Oliver Bierhoff, der Mann, der die Nationalmannschaft in den Folgejahren bis zur Seelenlosigkeit vermarkten sollte, wurde als genialer Produktentwickler präsentiert, und niemand störte sich daran.

Während Joachim Löw die Nationalmannschaft zunächst ins Finale der EM 2008 führte, bei der WM 2010 in Südafrika dann ins WM-Halbfinale, taxierte Bierhoff den Marktwert der Nationalmannschaft. Löw ließ sich nach seinen Erfolgen als großer Taktiker feiern, der der Nationalmannschaft eigene Spielphilosophien verpasste, statt wie viele seiner Vorgänger einfach nur die elf Besten des Landes in irgendeiner tauglichen Grundformation auf den Platz zu stellen; er wurde zum Espresso trinkenden Fußballphilosphen verklärt. Oliver Bierhoff versuchte derweil, die Außendarstellung der Nationalmannschaft den Wünschen der Sponsoren gemäß zu organisieren. Schnell war der Mercedes­stern auf den Trainingsjacken der Spieler größer als das DFB-Wappen. Der offizielle Fanklub der Nationalmannschaft, der unter dem Dach des DFB organisiert ist, kommt seitdem daher wie ein Marketinginstrument von Coca-Cola.

Löw gelang es, eine Mannschaft zu formen, die ohne Leithammel seine Spielidee auf dem Platz umsetzte. Von flachen Hierarchien im Team war die Rede. Der sportliche Erfolg gab dem Bundestrainer recht. Man kann eine Mannschaft auch managen, man muss sie nicht führen. Es entstand eine im DFB nie gekannte Stimmung.

Bierhoff im schwarzen Anzug und Hemd auf dem Rasen

Oliver Bierhoff hat die Mannschaft bis zur Seelenlosigkeit vermarktet​ Foto: Sebastian Wells

Auch ich war bisweilen davon beeindruckt. Bei einem Pressetermin während der WM in Südafrika begegnete mir Löw vor dem Teamhotel. Er begrüßte mich, den er nicht wirklich kennt, mit Handschlag und fragte, wie es mir gehe. Gut. Ihm auch? Es sei viel zu tun heute, sagte er und lächelte. Es war der Tag, an dem Philipp Lahm – ohne Absprache mit dem DFB – in einer Münchner Zeitung bekannte, Kapitän der Nationalmannschaft bleiben zu wollen, auch wenn der verletzte Altstar Michael Ballack zurückkehren sollte.

Ein paar Tage später spielte Deutschland gegen Spanien im Halbfinale. Es war der Versuch zweier Mannschaften, einfach Fußball zu spielen. Beide konnten das sehr gut. Einen Schiedsrichter hätte es in diesem Spiel, in dem die Spanier um genau das Tor besser waren, das sie geschossen haben, nicht gebraucht. Ich war beeindruckt.

Vier Jahre später beeindruckte die Mannschaft in Brasilien die ganze Welt. Das 7:1 gegen die WM-Gastgeber im Halbfinale des Turniers ist eines der irrsten Spiele in der Geschichte des Weltfußballs. Der Sieg im Finale gegen Argentinien schien danach nur folgerichtig. Joachim Löw hatte das Glück, mit einer überaus begabten Gruppe zusammenarbeiten zu können, gewiss. Aber überragend war das Turnier, das die Deutschen gespielt haben, keineswegs. Im Achtelfinale gegen Algerien war Deutschlands bester Spieler Torwart Manuel Neuer, und im Vorrundenspiel gegen Ghana hat sich die Mannschaft ein 2:2 hart erarbeiten müssen.

Mit der Rückkehr des Teams aus Brasilien erfolgte ein Abstieg, wie er brutaler nicht hätte sein können. Es begann mit dem missglückten Auftritt der Weltmeister auf der Berliner Fanmeile. „So gehen die Gauchos“, sangen die Spieler und tanzten im tief gebückten Gang über die Bühne. „So gehen die Deutschen“, sangen sie weiter und richteten sich wieder auf. Der damalige DFB-Präsident Wolfgang Niersbach musste sich dafür entschuldigen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Es gibt schlechte Verlierer. Schlechte Sieger gibt es auch. Gut, dass ich mich nicht mehr erinnere, wie ich die Argentinier nach dem WM-Finale 1990 bezeichnet habe. Wenn es schlimm war, dann war es gewiss ironisch – ganz sicher!

Der Auftritt auf der Fanmeile bildete den Abschluss eines überaus arroganten Auftretens, das die Deutschen in Brasilien an den Tag gelegt hatten. Das manifestierte sich schon in der Wahl des WM-Quartiers. Statt sich in eines der von den WM-Gastgebern gelisteten Mannschaftsquartiere einzumieten, beschloss Teammanager Bierhoff, die Mannschaft in einer von Münchner Im­mobi­lien­ent­wick­lern neu errichteten Fe­rien­an­lage unterzubringen. Dass für den Bau des Trainingsplatzes ein Naturschutzgebiet umgewidmet werden musste, gehört zu dieser Geschichte, in der sich die Nationalmannschaft zum Marketinginstrument eines Immobilienprojekts hat machen lassen. Unter „Campo Bahia“ kann man bei Wikipedia bis heute nachlesen, dass DFB-Präsident Niersbach die Anlage als „bestes Quartier aller Zeiten“ bezeichnet hat. Mit der WM 2014 begann die Nationalmannschaft jegliche Bodenhaftung zu verlieren.

Der Bundestrainer setzte auf Dominanz auf dem Platz. Sein Team konnte jede Mannschaft beinahe bis an deren eigene Grundlinie herspielen. So tat sie es auch bei der Europameisterschaft 2016 in Frankreich. Dass sein Team im Halbfinale gegen die Gastgeber dennoch verlor, wollte Löw einfach nicht verstehen. Aus den schlechten Gewinnern waren schlechte Verlierer geworden.

Lukas Podolksi steht auf dem Rasen des vollen Stadions und winkt

​Lukas „Poldi“ Podolski verabschiedete sich 2017 aus der Nationalmannschaft​ Foto: Sebastian Wells

Dafür hatte das Team jetzt einen neuen Namen. „Die Mannschaft“ wurde 2015 beim deutschen Patent- und Markenamt als Wort-Bild-Marke eingetragen. Wer sich als deutscher Fan Karten für die EM in Frankreich kaufen wollte, musste zunächst in den Fanklub Nationalmannschaft powered by Coca-Cola eintreten. Die Fans waren Kunden geworden, im besten Fall wurden sie Stakeholder genannt. Zum Ticketpreis war der Jahresbeitrag für den Fanklub fällig. Und während die sogenannte Sommermärchenaffäre den Verband erschütterte, begann Oliver Bierhoff die Kampagne zur Titelverteidigung zu planen. Der fünfte Stern auf dem Trikot der Nationalmannschaft für den fünften Weltmeistertitel, so ließ die Kampagne vermuten, wird ein Mercedesstern sein.

Als sich der Mannschaftsbus in Richtung WM 2018 nach Russland auf den Weg machte, war immer noch nicht klar, wofür das Geld gedacht war, das der DFB besorgt hatte und das über ein Privatkonto von Franz Beckenbauer bei einer Gerüstbaufirma in Katar gelandet war. Die gehörte Mohamed bin Hammam, einem der berüchtigtsten Korruptionäre des Weltfußballverbands. Der Verdacht, dass es etwas mit der Vergabe der WM 2006 zu tun hatte, konnte nicht ausgeräumt werden.

Als sich Deutschlands Spielmacher Mesut Özil vor der WM mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan fotografieren ließ, zeigte sich die Hilflosigkeit des DFB in gesellschaftlichen Debatten. Bei aller gerechtfertigten Kritik an der Werbung für den Alleinherrscher hat der DFB nichts gegen die Flut rassistischer Beschimpfungen unternommen, die letztlich dazu geführt haben, dass sich Özil aus der deutschen Nationalmannschaft verabschiedet hat. Özil ist von seinem eigenen Verband regelrecht ausgebürgert worden. Er gehörte für viele schon nicht mehr zu Deutschland, als das DFB-Team sich im letzten Vorrundenspiel bei der WM in Kasan gegen Südkorea vergeblich gegen das frühzeitige Ausscheiden zu stemmen versuchte.

Ich war an jenem Tag im Juni 2018 in Kasan, um über das Spiel zu berichten. Auf dem Weg ins Stadion hatte ich eine unangenehme Begegnung mit etwa 30 Jungdeutschen. Die pöbelten jeden an, der sich ihnen hätte in den Weg stellen können. Der Busfahrer war ein „Wichser“, eine Asiatin im Deutschland-Trikot wurde als „Behinderte“ bezeichnet und ich als „Spast“, weil ich die Augen verdreht habe, als der wahrscheinlich speziell für Russland ausgewählte Kurvenhit „Hurra, hurra, die Deutschen, die sind wieder da!“ angestimmt wurde. „Die Nummer eins der Welt sind wir“, sangen sie. Ich konnte nichts Ironisches daran finden.

Es gibt schlechte Verlierer. Schlechte Sieger gibt es auch

Es war noch nicht lange her, dass die diverse DFB-Auswahl in der taz als Internationalmannschaft gefeiert worden war. Sie galt als Botschafterin eines modernen Deutschlands, als Kraftzentrum einer integrativen Gesellschaft. Auch ich habe sie so beschrieben. Hatte der DFB nicht noch vor Kurzem souverän jene Bemerkung des AfD-Vordermanns Alexander Gauland niedergebügelt, den schwarzen Profi Jérôme Boateng würden die Deutschen als Fußballer durchaus schätzen, als Nachbarn wolle ihn indes keiner? „Wir sind Vielfalt“, war der Titel eines Videoclips, mit dem sich die Nationalmannschaft hinter ihrem Abwehrrecken formierte. Und jetzt, im Sommer 2018, die Özil-Affäre und nationalistische Fans vor Ort. Der Auftritt der Deutschen in Russland machte mich ratlos. Er war wie eine Bankrotterklärung. Moralisch, und sportlich sowieso.

Später folgte die Selbstkritik. Joachim Löw sagte, sein Team habe „fast schon arrogant“ gespielt, weil es meinte, aus Ballbesitz müsse ein Tor folgen. Das zahle sich aber eher in der Liga über einen langen Zeitraum aus, bei einem Turnier müsse man anders spielen.

Oliver Bierhoff versprach mehr Fannähe, er organisierte eine öffentliche Trainingseinheit in Berlin, zu der vor allem Kinder- und Jugendmannschaften aus der Hauptstadt kamen, um zuzusehen, wie ein Haufen Millionäre über den Platz trabt. Es war der hilflose Versuch, etwas zu erden, was längst in andere Sphären abgehoben war. Bis auf Mats Hummels hat keiner freundlich dreingeblickt an diesem Nachmittag. Mit anzusehen, wie lustlos die gnädigen Herrschaften sich für ein paar Selfies zu ihren zehnjährigen Fans heruntergebückt haben, tat beinahe weh.

Bald präsentierte Bierhoff einen neuen Autosponsor der Nationalmannschaft. Die Begeisterung darüber hielt sich in Grenzen. Die Nationalmannschaft hat ihre Anziehungskraft verloren. Die Qualifikationsspiele für die EM, die nun in diesem Sommer stattfinden soll, waren nur mäßig besucht, und fast scheint es, als sei die Coronapandemie dem DFB ganz gelegen gekommen. So gibt es wenigstens einen triftigen Grund für die leeren Arenen.

Auch sportlich hat die Mannschaft einen neuen Tiefpunkt erreicht. Mit dem 0:6 gegen Spanien im letzten Gruppenspiel eines Wettbewerbs namens Nations League im vergangenen November begann eine Trai­ner­dis­kus­sion, die merkwürdig emotionslos verläuft.

Auch nach der Ankündigung Löws, nach der EM im Sommer aufzuhören, tut sich nicht allzu viel. Deutschlands Lieblingstrainer Jürgen Klopp will nicht, weil er den FC Liverpool lieber mag als die Nationalmannschaft. Egal. Ralf Rangnick, der professorale Macher des mit Limomilliarden gepamperten Leipziger Fußballprojekts, wäre zwar zu haben, hat sein Herz aber offenbar an den verrückten Schalke 04 verloren. Auch wurscht. Und dass Lothar Matthäus, der Kandidat der Bild-Zeitung, mögen würde, wenn ihn jemand mögen würde, löst nun auch nicht gerade große Emo­tio­nen aus. So plätschert die Kar­riere eines Trainers aus, der immerhin den Weltmeistertitel geholt hat.

Moment. Da ist ja noch die EM. Auch wenn der Mannschaft kaum einer etwas zutraut, sie könnte mit einem guten Abschneiden die Bilanz von Löw, die jetzt schlechter wirkt, als sie war, ein wenig aufhübschen. Ob das dann wirklich interessieren wird, bleibt abzuwarten.

Sollte Deutschland das Finale erreichen und in meiner Straße würde jemand eine Deutschlandfahne an seiner Balkonbrüstung anbringen, ich würde mich wundern. Wahrscheinlich würde es mir sogar Angst machen. Die ironischen Zeiten sind vorbei. Vielleicht hat es sie nie wirklich gegeben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.