Eva Hubert über Sexismus am Theater: „Die Grenzen verschwimmen“

Man verbringe viel Zeit miteinander und komme sich körperlich viel näher als beim klassischen Bürojob, sagt Eva Hubert von der Beratungsstelle Themis.

Portrait von Eva Huber

Eva Hubert von der Beratungsstelle Themis Foto: Strussfoto/imago-images

taz am wochenende: Frau Hubert, was sagen Sie zu den Sexismusvorwürfen gegen den Volksbühnen-Intendanten Klaus Dörr?

Eva Hubert: Zu konkreten Vorwürfen beziehen wir grundsätzlich keine Stellung. Die Vertrauensstelle ist ja eingerichtet worden, um die Betroffenen von sexueller Belästigung und Gewalt zu beraten – und nicht als Schiedsstelle oder Ähnliches. Die Hilfesuchenden wissen, dass ihre Schilderungen vertraulich behandelt werden. Mit einer Stellungnahme würden wir ihr Vertrauen verspielen.

Die Causa Dörr ist vermutlich kein Einzelfall. Wie groß ist das Problem in der Film-, Fernseh- und Theaterbranche?

Ich denke, dass die Dunkelziffer hoch ist. Uns wurde allein im vergangenen Jahr in 177 Fällen von sexueller Belästigung oder Gewalt berichtet. Dabei haben wir feststellen müssen, dass die Fallzahlen trotz des Lockdowns noch mal gestiegen sind.

Woran liegt das?

Wir erklären uns das damit, dass Themis inzwischen bekannter geworden ist. Außerdem hatten viele Betroffene während des ersten Lockdowns vermutlich endlich einmal Zeit, um genauer über ihre Erlebnisse nachzudenken. Und dann gab es nach dem Hochfahren der Produktionen im Sommer und Herbst noch einige sehr unerfreuliche Fälle von sexualisierter Erpressung. So nach dem Motto: Wenn du jetzt einen Job willst, musst du schon ein bisschen netter zu mir sein.

Wer sucht Hilfe bei Ihnen?

85 Prozent sind Frauen, der Rest Männer.

Was sind die vulnerabelsten Gruppen?

Berufsanfängerinnen, Schauspielerinnen, Maskenbildnerinnen, Ankleiderinnen.

Von wem gehen die Grenzübertritte üblicherweise aus?

Bei den 177 Fällen gingen 126 von Höhergestellten und Vorgesetzten aus, 44 Fälle ereigneten sich auf gleicher Ebene und 7 Fälle auf einer Ebene darunter. Das klassische Schema ist demnach schon, dass jemand aus einer Machtposition heraus sexuelle Gefälligkeiten erpresst.

Welche Jobs haben die Beschuldigten?

Die Palette ist breit: Produzenten, Intendanten, Regisseure, Schauspieler …

Gibt es auch Frauen, die übergriffig geworden sind?

Ja, allerdings liegen die Fallzahlen da unter 10 Prozent.

Geht es hier um Einzeltäter in der Branche, oder ist das Ganze ein Massenphänomen?

ist seit Juli 2019 Vorständin der Themis. Davor war sie 25 Jahre in der Hamburger Filmförderung tätig, von 1997 bis 2015 als Geschäftsführerin.

Unseren Beraterinnen zufolge ist dieses Phänomen sehr viel breiter, als man denkt. Allerdings gibt es auch Namen, die immer wieder auftauchen.

Warum haben die Betroffenen so lange geschwiegen?

Das hat ganz stark mit dem branchentypischen Gefühl zu tun, dass doch eigentlich alle eine große Familie sind und für die richtige Sache kämpfen. Hinzu kommt, dass man beim Proben oder Drehen viel Zeit miteinander verbringt. Häufig sitzt man an den Feierabenden noch zusammen, trinkt Wein, diskutiert. Da verschwimmt das Berufliche mit dem Privaten. Und natürlich gibt es in diesen Branchen eine ganz andere Körperlichkeit als bei normalen Bürojobs. Eine Maskenbildnerin kommt dem Hauptdarsteller sehr nahe, eine Schauspielerin muss für eine Liebesszene aus sich herausgehen. In so einer Atmosphäre ist es natürlich deutlich schwerer, Grenzen zu ziehen. Außerdem sind diese Grenzen sehr subjektiv. Der einen machen sexualisierte Witze zu schaffen, der anderen weniger. Wichtig ist, dass wir bei Themis alle Erlebnisse ernst nehmen.

Was genau ist sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, und wie unterscheidet sie sich von ungelenken Flirtversuchen?

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) hat eine klare Definition dazu: Als sexuelle Belästigung gelten anzügliche Sprüche, taxierende Blicke, unerwünschte Berührungen, körperliche Gewalt – und die Erpressung von sexuellen Gefälligkeiten. Beim Flirten hingegen gehen beide mit Lust aufeinander zu.

Welche Arten von sexueller Übergriffigkeit wurden Ihnen gemeldet?

2020 wurden uns 119 verbale, nonverbale und digitale sexuelle Belästigungen via E-Mail oder Whatsapp, 50 Fälle sexualisierter körperlicher Gewalt und 8 Vergewaltigungen von Betroffenen geschildert.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Manche sagen ja, dass sich Frauen mit solchen Anschuldigungen bloß rächen wollen …

Blödsinn. Wer zu uns kommt, will sich nicht rächen, sondern klären, was das für ein Gefühl ist, das sie oder ihn nicht mehr schlafen lässt. Und wer mit so einem Erlebnis auch noch an die Presse geht, weiß, dass der Shitstorm danach gewaltig sein kann. Der Leidensdruck muss also groß sein.

Warum braucht es eine solche Vertrauensstelle?

Man braucht sie, damit die Betroffenen nicht mehr auf sich allein gestellt sind. Viele Betroffene wissen schlicht nicht, an wen sie sich in solchen Fällen, die ja auch für sie häufig diffus daherkommen, wenden können. Wir helfen ihnen, das Geschehene einzuordnen, damit umzugehen, und gegebenenfalls geben wir auch ersten Rechtsrat etwa im Hinblick auf die Einleitung eines Verfahrens nach dem AGG. Und diese Hilfe ist dringend nötig. Wenn zum Beispiel ein Regisseur sexuell übergriffig wird, ist es nicht so, dass sich die Leute unbedingt dagegen wehren. Insbesondere als Frei­be­ruf­le­r:in hat man ständig Angst, nicht mehr engagiert zu werden. Wir stehen bereit, ihr oder ihm zumindest erst einmal zuzuhören.

Bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz greift das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Welche rechtliche Handhabe bietet es?

Das AGG sagt ganz klar, dass der Arbeitgeber den Arbeitsplatz diskriminierungsfrei halten muss. Wenn es zu einer Diskriminierung im Sinne des AGG kommt, kann der Betroffene eine Beschwerde beim Arbeitgeber einreichen. Der ist dann verpflichtet, der Sache nachzugehen. Er muss beide Seiten hören und danach entscheiden, welche Schlüsse er daraus zieht. Je nach Schwere des Falls kann er versuchen, zu vermitteln, Abmahnungen schreiben oder jemandem kündigen.

Sexuelle Belästigung kann auch strafrechtlich verfolgt werden – allerdings nur bei bestimmten sexuellen Berührungen wie einem vorsätzlichen Schlag auf den Hintern. Finden Sie, dass sexuelle Belästigung in Deutschland ausreichend sanktioniert wird?

Eine schwierige Frage. Ich lese immer wieder, was für ein mühsamer Weg es selbst für die Opfer von Vergewaltigungen ist, bis ihnen endlich jemand Glauben schenkt. Ich weiß allerdings nicht, ob das Ganze einfacher würde, wenn man das Sexualstrafrecht weiter verschärft.

Wie viele Beschwerde­verfahren hat Themis bisher begleitet?

Bei den vielen hundert Fällen, die wir bis jetzt auf dem Tisch liegen hatten, hat es lediglich 13 oder 14 Beschwerdeverfahren gegeben. Das zeigt auch die Scheu vor der Auseinandersetzung in solchen Dingen.

Vor was haben die Leute Angst?

Sie haben Angst, dass es dann heißt: Nimm die auf keinen Fall, die beschwert sich superschnell! Aber wir sagen immer, dass sich eigentlich noch viel mehr Menschen beschweren müssten. Nur so wird es selbstverständlich, dass man nicht alles über sich ergehen lassen muss, sondern verlangen kann, dass einem schnell und professionell geholfen wird.

Vor wenigen Tagen hat die Münchner Staatsanwaltschaft Anklage wegen Vergewaltigung gegen den deutschen Regisseur Dieter Wedel erhoben. Stellen Sie seit MeToo eine Verbesserung der Situation fest?

Grundsätzlich schon. Als großen Fortschritt empfinde ich zum Beispiel, dass sich seit MeToo mehr und mehr Betroffene trauen, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Doch wir müssen ihnen noch viel besser zuhören als bisher. Und den Tä­te­r:in­nen noch viel klarer machen, dass sexistische Verhaltensweisen am Arbeitsplatz nicht länger toleriert werden.

Was sagen Sie denen, die jetzt um eine Begrenzung ihrer künstlerischen Freiheit fürchten?

Ich finde ja, dass die künstlerische Freiheit vor allem dadurch beschnitten wird, dass die Leute Angst haben und sich ducken.

Aber können mehr Grenzen in der Kunstproduktion nicht auch zu braveren, „unkreativeren“ Ergebnissen führen?

Ich weiß, worauf Sie anspielen: auf die eher veraltete Vorstellung vom berühmten großen Regisseur, der mit überwältigender Autorität vermeintlich Großes schafft. Es spricht ja zunächst nichts da­gegen, sich auf derartige künstlerische Prozesse einzulassen. Dennoch gibt es selbstverständliche Grenzen, die für alle gelten: Die Würde des Menschen ist unverletzlich, und dazu gehört natürlich auch die sexuelle Selbstbestimmung.

Warum wurden in den USA eigentlich sehr schnell Namen genannt, während man in Deutschland eher zögerlich damit umgeht?

Ich denke, dass die hiesigen Arbeitgeber solche Dinge lieber unter dem Radar klären. Und ich denke auch, dass dies letztlich beiden Seiten nützt. So eine vorgeworfene sexuelle Belästigung haftet ja nicht nur am vermeintlichen Täter, sondern im Zweifelsfall auch an dem, der ihn eingestellt hat.

Wie kann man diese ungesunden Machtstrukturen denn nun zerschlagen?

Durch Transparenz, Prävention, Aufklärung, die Unterstützung von Betroffenen und die Selbstverpflichtung der Arbeitgeber. So hat der Deutsche Bühnenverein zum Beispiel einen Verhaltenskodex zur Prävention von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch am Theater herausgegeben, den seine Mitglieder auch alle unterschrieben haben – jetzt müssen sie sich nur noch daran halten.

Aber müsste darüber hinaus nicht auch die Art und Weise der Besetzung wichtiger Posten und die Struktur von Kulturinstitutionen selbst überdacht werden?

Möglicherweise. Aber da ist die Branche doch zu divers. In einigen Häusern oder Unternehmen läuft es trotz althergebrachter Strukturen und eher konservativer Besetzung von wichtigen Posten gut, wogegen es in anderen, vermeintlich progressiven Häusern mit hoher Mitbestimmung durchaus zu Fällen kommt, mit denen wir uns dann auseinandersetzen. Ich glaube, dass es viel mehr hilft, wenn die Leitung sensibilisiert ist, sich nie zu sicher wähnt und konsequent vorgeht, wenn Fälle auftreten.

Wie kann ein anderes Mit­einander im Kleinen aus­sehen?

Ich finde es ja immer schön, wenn eine Regisseurin oder ein Regisseur gleich schon beim Warm-up sagt: Passt mal auf, bei mir gibt es keinen Sexismus, und für jeden sexistischen Spruch kriegt ihr eins auf den Deckel. Klare, transparente Regeln helfen, Missverständnisse zu vermeiden.

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